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Die Chlorchemie auf dem Prüfstand - gibt es Alternativen?

Kaum ein Produktionszweig der chemischen Industrie kommt ohne Chlor aus. Es ist in unserer zivilisatorischen Alltagswelt beinahe allgegenwärtig; Leistungsfähigkeit und Wohlstand der modernen Industriegesellschaft scheinen geradezu davon abhängig. Ökologisch hat sich der unbeschränkte Einsatz dieses Elements jedoch zunehmend als bedenklich erwiesen. Wie und wie schnell könnte ohne gravierende ökonomische oder gesellschaftliche Folgen auf wieviel Chlor verzichtet werden?

Mit mehr als 700000 Beschäftigten und einem Umsatz von rund 200 Milliarden Mark im Jahre 1991 gehört die chemische Industrie zu den vier wichtigsten Wirtschaftszweigen des verarbeitenden Gewerbes in der Bundesrepublik. Sie ist Grundstoff- und Vorlieferant für fast alle anderen Branchen und auch eine Hauptstütze des Exportgeschäfts.

Als wesentlichen Grundstoff verwendet die chemische Industrie das Element Chlor. Direkt oder indirekt ist es an 60 Prozent der Umsätze beteiligt. Beispielsweise findet es sich in so gängigen Produkten wie Fensterrahmen, Rohren, Legobausteinen, Kältemitteln, Schreibtischunterlagen, Blumentöpfen, Polstermöbeln – eine fast beliebig fortsetzbare Liste. Zahllose Produkte wären ohne Chlorchemie in der bekannten Form nicht herstellbar. Dieser Industriezweig hat also beträchtliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung.

Andererseits ist Chlor ein hochgiftiges, aggressives Gas, und viele seiner Verbindungen sind gleichfalls toxisch oder gesundheitsschädlich. Aber selbst harmlose chlorhaltige Stoffe sind vielfach ökologisch bedenklich, weil sie biologisch schwer abbaubar sind oder sich unter bestimmten Bedingungen – etwa bei der Verbrennung – in hochgiftige Stoffe umwandeln; beispielsweise kann das als Seveso-Gift berüchtigte Dioxin entstehen. Schließlich trägt Chlor, wenn es in die Stratosphäre gelangt, zum Abbau der Ozonschicht bei.

Davor warnen Umweltschützer schon lange und fordern immer nachdrücklicher einen völligen Ausstieg aus der Chlorchemie. Nun mag es illusorisch sein, dem Idealbild einer risikofreien Gesellschaft nachzuhängen. Die Probleme der möglichen Freisetzung von Chlor und seiner toxischen Verbindungen sowie deren diffuse Akkumulation in der Umwelt gebieten aber, seine Verwendung überall dort, wo dies angemessen und vertretbar scheint, zu reduzieren oder gänzlich zu vermeiden.

Die Prognos AG hat deshalb im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie eine Technikfolgenabschätzung zur Chlorchemie erstellt. Darin sind sowohl Möglichkeiten der Vermeidung, Wiederverwertung und alternativen Entsorgung von Rückständen der Chlorchemie aufgezeigt als auch Szenarien für die ökonomischen und ökologischen Folgen technischer Alternativen dargelegt. Dafür wurden die drei wichtigsten Bereiche aus acht Produktentwicklungslinien betrachtet, auf die etwa 70 Prozent der Chlorerzeugung entfallen.


Bedeutende Bereiche der Chlorchemie

Der erste Bereich umfaßt Ethylendichlorid (EDC) und seine Folgeprodukte. EDC stellt den größten Einzelposten beim industriellen Chlorverbrauch und wird vor allem zu Vinylchlorid (VC) umgesetzt. Das mengenmäßig dominierende Produkt aus dessen Weiterverarbeitung ist der Massenkunststoff Polyvinylchlorid (PVC). Als vergleichsweise nachrangig kann die Produktion des selbst nicht mehr chlorhaltigen Ethylendiamins und des 1,1-Dichlorethans sowie des daraus hergestellten Lösemittels 1,1,1-Trichlorethan gelten.

Der zweite Bereich umfaßt Propylenoxid (PO) und Phosgen. PO ist ein Zwischenprodukt aus dem Chlorhydrin-Verfahren zur Herstellung von Polypropylenglykolen, die ihrerseits Ausgangssubstanzen für Polyurethan-Kunststoffe bilden. Es steht beim Chloreinsatz an zweiter Stelle. Das Chlor endet dabei im Abwasser (als vergleichsweise harmloses Kochsalz), aber auch in Rückständen, die Chlorkohlenwasserstoffe enthalten, wobei das 1,2-Dichlorpropan dominiert. Phosgen dient zur Produktion der Diisocyanate (insbesondere von Toluoldiisocyanat und Diphenylmethandiisocyanat), aus denen Polyurethane, Polyharnstoffe und Polycarbonate hergestellt werden.

Für die im dritten Bereich zusammengefaßten Verbindungen Methylchlorid, Per- und Trichlorethylen sind relativ lange Produktionspfade mit vielfältigen Weiterverarbeitungsebenen zwischen Primär-, Zwischen- und Endprodukt charakteristisch. Dazu gehören nahezu alle Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) sowie drei der vier mengenmäßig wichtigsten chlorierten Lösemittel (Methyl- und Methylenchlorid sowie Perchlorethylen).


Optionen für Alternativen

Für die Studie wurden aufgrund intensiver Literaturrecherchen und Gespräche mit der chemischen Industrie insgesamt 24 technisch-organisatorische Optionen für die drei genannten Bereiche der Chlorchemie entwickelt. Sie beinhalten eine Änderung des Produkts oder Herstellungsverfahrens oder zeigen Möglichkeiten auf, durch Kreislaufführung von Betriebsmitteln und Rückständen Abfälle zu vermeiden. Dazu gehören zum Beispiel

– im Bereich 1 die Verminderung der Emission von Vinylchlorid, der Verzicht auf 1,1,1-Trichlorethan sowie auf kurz- und langlebige PVC-Produkte, eine massive Substitution von PVC und schließlich das PVC-Recycling;

- im Bereich 2 die Substitution des Chlorhydrin-Prozesses und des Verfahrens zur Herstellung von Polycarbonaten durch chlorfreie Methoden;

- im Bereich 3 das Recycling von chlorierten Lösemitteln, FCKW und teilhalogenierten Kohlenwasserstoffen oder der weitgehende bis völlige Verzicht auf diese Stoffe.

Für jede Option wurden die voraussichtlichen Wirkungen für Umwelt und Wirtschaft beschrieben. Dabei gründet sich die Untersuchung auf Daten des Jahres 1991; Betrachtungsgrundlage ist ein Zeithorizont von 20 Jahren (das heißt bis ungefähr 2010).

Die Ergebnisse wurden in Form dreier Szenarien zusammengefaßt (Bild). Dabei beinhaltet das TREND-Szenario alle Optionen, die sich mit begrenztem Aufwand kurzfristig umsetzen lassen. Mit ihrer Verwirklichung ist unter gegenwärtigen Bedingungen auch ohne besondere Initiativen zur Beschränkung des Einsatzes von Chlor zu rechnen. Dagegen umfaßt das MODERAT-Szenario auch Optionen, die erst mittelfristig greifen und einen gewissen Aufwand, je nach Einzelfall auch politische Maßnahmen erfordern. Das FORCIERT-Szenario schließlich läßt sich nur langfristig mit starken staatlichen Interventionen und zum Teil erheblichem Aufwand verwirklichen.


Ergebnisse

Die TREND-Optionen bringen weder für die Chemiebranche noch für die Gesamtwirtschaft einschneidende Umbrüche mit sich. Es sind davon aber auch kaum günstige Entwicklungen hinsichtlich Gesundheit und Umwelt zu erwarten. Das Risikopotential der Chlorchemie bleibt bestehen.

Im FORCIERT-Szenario dagegen ist, obwohl radikale Maßnahmen mit dem Ziel eines Ausstiegs von vornherein ausgeschlossen wurden, die Entwicklung der Chemiebranche ungewiß; einige Unternehmen sind erheblich betroffen und möglicherweise in ihrer Existenz gefährdet. Der allgemeine Wohlstand nimmt zumindest vorübergehend ab, und Arbeitsplätze gehen verloren. Gewohnte Produkte verschwinden vom Markt (zum Beispiel PVC gänzlich), und andere werden zum Teil erheblich teurer. Deshalb ist mit Akzeptanzproblemen bei der Bevölkerung zu rechnen; die direkt Betroffenen dürften den gesundheitlichen Gewinn durch Verzicht auf Herstellung und Gebrauch chlorhaltiger Substanzen geringer bewerten als den eigenen Arbeitsplatz und die gewohnte Versorgung mit preiswerten Produkten.

Außerdem besteht die Gefahr, daß die im Inland gedrosselte Chlorchemie jenseits der Grenzen in weit weniger sicheren Anlagen um so intensiver weiterbetrieben wird. Dies könnte das nationale Risikopotential sogar erhöhen und wäre auch ökologisch kontraproduktiv.

Auch bei der Chlorchemie scheint somit der Mittelweg am günstigsten. Die Optionen der MODERAT-Szenarien werden nur begrenzte Anpassungen der chemischen Industrie erfordern, aber dennoch zumindest mittelfristig im nationalen und wohl auch globalen Rahmen die ökologischen Risiken deutlich mindern. Umweltqualität und Gesundheitsschutz sollten sich verbessern.

Zudem dürfte bereits das Aufgreifen der Probleme positiv wirken und die Akzeptanz der Chemie in der Gesellschaft fördern, selbst wenn Arbeitsplätze in gewissem Umfang umstrukturiert werden müßten. Schließlich könnte die Einleitung dieser Optionen die Innovationskraft und Glaubwürdigkeit der deutschen chemischen Industrie stützen und ihre Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb stärken; langfristig bietet sich sogar die Chance, daß sie global eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung einer umweltverträglichen und gesellschaftlich akzeptierten Chlorchemie übernimmt.

Auch der Verband der Chemischen Industrie selbst sieht nach den Worten des Hauptgeschäftsführers Wilfried Sahm eine "nachhaltige zukunftsverträgliche Entwicklung", die ein Gleichgewicht zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialen Werten sucht, als Leitbild und Herausforderung. Dies müßte eigentlich die Bereitschaft zu einem begrenzten Ausstieg aus der Chlorchemie einschließen. Die Prognos-Studie gibt, auch wenn zu vielen Details noch Öko-Bilanzen, Produktlinienanalysen und andere Ergänzungen zu erarbeiten sind, bereits umfassende Hinweise auf Problembereiche, Substitutionsmöglichkeiten und Alternativen und zeigt, daß entsprechende Schritte möglich und zweckmäßig sind.

Doch die Neuorientierung ist schwierig. Dies mag erklären, weshalb etwa nach der Serie von Unfällen bei der Firma Hoechst Anfang letzten Jahres zwar verstärkte Sicherheitsanstrengungen angekündigt und zum Teil auch schon verwirklicht wurden, maßgebliche Manager aber die Möglichkeit eines Verzichts auf chlorchemische Produkte und Verfahren selbst dort kaum zu erwägen scheinen, wo chlorfreie Substitute innerhalb der chemischen Industrie vorhanden sind. Das Ziel muß sein, die sich bietenden Innovationsmöglichkeiten auszuschöpfen; denn es wäre ökologisch, gesellschaftlich und auch volks- wie betriebswirtschaftlich fatal, wenn beim nächsten Unfall mit einer chlorhaltigen Substanz wieder die gesamte deutsche Chemie-Industrie-Politik undifferenziert attackiert würde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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