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Die großen Menschenaffen.

Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse, Bonobo.
Die neue Sicht der Verhaltensforschung.
BLV, München 1998. 159 Seiten, DM 59,90.

Volker Sommer, Professor für Anthropologie und Primatologie am University College in London, ist Primatologen bereits durch seine langjährigen Freilandstudien an Languren in Indien und Gibbons in Thailand sowie einem breiteren Publikum durch seine Bücher „Die Affen“, „Lob der Lüge“ und „Heilige Egoisten“ bekannt.

Im ersten Kapitel seines neuen Buches berichtet er umfassend über die Entdeckung der Menschenaffen, ihre Einordnung in die Systematik und über die Erforschung ihres Verhaltens. Die Prinzipien der modernen Soziobiologie und -ökologie werden auch dem uneingeweihten Leser äußerst verständlich geschildert.

Die folgenden Kapitel befassen sich ausführlich mit jeweils einer der vier Menschenaffenarten Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. In übersichtlichen, farbig abgesetzten zweiseitigen Steckbriefen der einzelnen Arten erfährt man Wichtiges über früheres und jetziges Vorkommen der verschiedenen Unterarten, Körpermaße und Aussehen, auffälliges Verhalten, Fortpflanzung, Lebensraum und -weise, Sozialverhalten sowie ausgewählte Freilandstudienorte, deren Lage durch Landkarten veranschaulicht wird. Die Steckbriefe eignen sich auch zum schnellen Vergleich zwischen den Arten. Am Ende der Kapitel äußern sich drei Forscherinnen und ein Forscher (ein für die Primatologie übliches Verhältnis) zu den Motiven ihrer häufig unter schwierigen Bedingungen durchgeführten Forschungsarbeit und zu aktuellen Fragen.

In jedem der Kapitel erfährt man zusätzlich interessante Einzelheiten: warum der legendäre Yeti (der „Schneemensch“ des Himalaya) ein Orang sein könnte, warum Gorillas Kinder fremder Männchen töten, wie Schimpansen Affen und Gazellen jagen, regelrecht Krieg mit Nachbarn führen und diese töten oder sogar in Kannibalismus verfallen.

Die als letzte entdeckten Bonobos wurden anfangs für Schimpansen gehalten und erhielten den irreführenden Namen Zwergschimpansen. Dabei sind sie nur geringfügig kleiner und leichter, aber schlanker und graziler und unterscheiden sich von den Schimpansen durch auffällige rosarote Lippen und einen Mittelscheitel (Bild). Ihr Verbreitungsgebiet im Kongobecken ist relativ klein und schwer zugänglich; nur hundert Tiere leben in – wenigen – Zoos (und die fünf Berliner Bonobos wurden bei der Aufzählung im Buch vergessen). Das hat dazu beigetragen, daß die Primatologen sich zunächst kaum mit ihnen befaßten. Inzwischen erlangten sie in der Öffentlichkeit einen gewissen Ruhm als „Sexaffen“ wegen der Vorrangstellung des weiblichen Geschlechts und der Angewohnheit, Spannungen mit Sex zu entschärfen (siehe Spektrum der Wissenschaft, Mai 1995, S. 76). Mit ihrem regen Sexualleben stellen sie alle anderen Primaten einschließlich des Menschen in den Schatten.

Bonobos streifen ebenso wie Schimpansen in Gruppen wechselnder Größe und Zusammensetzung (sogenannten „fusion-fission“-Gesellschaften) von bis zu 60 Mitgliedern umher, haben aber eine andere Gruppenstruktur. Drei bis vier erwachsene, nichtverwandte Weibchen leben zusammen mit ihren Kindern, häufig auch mit ihren erwachsenen Söhnen, und ab und zu gesellen sich erwachsene Männchen dazu. Die Bonobogesellschaft ist im Gegensatz zu den Schimpansen eine frauenbetonte: Weibliche Mitglie-der verbringen die meiste Zeit miteinander, Männchen spielen eine Nebenrolle. Gleichgeschlechtliche Sexualkontakte sind häufig. Nichtverwandte Weibchen vertragen sich deutlich besser als bei den Schimpansen – unter anderem wohl deswegen, weil sie in Gebieten mit größerem Nahrungsangebot leben und dadurch die Konkurrenz um Eßbares bei der Kinderaufzucht eine geringere Rolle spielt. Im Gegensatz zu den Weibchen bleiben blutsverwandte Männchen zeitlebens in ihrer Geburtsgruppe; gleichwohl sind die Beziehungen zwischen ihnen erstaunlich oberflächlich.

Wesentliches Merkmal der Bonobogesellschaft scheint die Frauenpower zu sein. Durch ihren Zusammenhalt untereinander haben Bonoboweibchen offensichtlich ein probates Mittel gegen männliche Übermacht gefunden und profitieren davon durch eine – verglichen mit Schimpansinnen – höhere Reproduktionsrate. Bonobomännchen werden von den Weibchen nicht nur unterdrückt, sondern häufig ernstlich verletzt bis hin zu abgebissenen Fingern und Zehen, obgleich sie im Mittel sieben Kilogramm schwerer sind.

Die Vermutungen über Gründe für diese Sozialstruktur reißen nicht ab. Sommer schließt das Kapitel mit der Spekulation, daß Bonobos uns nicht nur viel Aufregendes über unsere sozio-sexuelle Herkunft zu sagen haben, sondern uns sogar die Zukunft weisen könnten.

Sommer schweigt über die Studien an Gebärdensprache beherrschenden Menschenaffen, die er in „Die Affen“ (Gruner & Jahr 1989) sehr ausführlich geschildert hat, und über die neuesten Ergebnisse, wie die Leistungen des Bonobos Kanzi, der gesprochene Anweisungen in für ihn neuartigen, also nicht dressierten Kombinationen versteht und ausführt.

Sommers Anliegen ist es, nicht nur unsere faszinierenden Verwandten einem breiten Publikum näherzubringen, sondern auch mit dem romantischen Vorurteil von der Tierwelt als einer besseren, vom Bösen freien Welt aufzuräumen. Im letzten Kapitel, das mit den katastrophalen Zuständen und Aussichten für den weiteren Bestand dieser wundervollen Wesen den Leser zutiefst erschrecken sollte (das entsetzliche Photo des Gorillakopfes in der Schüssel mußte ich beim Lesen abdecken), geht er einen Schritt weiter, indem er plausibel macht, warum auch der Mensch unbeschadet seiner besonderen Eigenschaften ein Teil der Tierwelt und damit nur eine Art von vielen ist; eine Selbstverständlichkeit für diejenigen, die je mit Affen zusammengelebt haben. Daraus leitet er auch die Begründungen für die längst überfälligen Rechte der Affen auf Leben, Unversehrtheit und persönliche Freiheit ab.

Das Buch bietet dem interessierten Laien, aber auch dem nichtprimatologischen Biologen, einen ausführlichen Ein- und Überblick über den momentanen Stand der Forschung und ist zugleich ein hilfreicher Einstieg für junge Studenten, die sich auf dem Gebiet der Primatologie orientieren möchten. Die Auswahl der im Anhang zitierten Literatur ist ebenfalls sehr nützlich.

Dies ist ein flüssig geschriebenes, lehrreiches, alles in allem sehr empfehlenswertes Buch. Die Aufnahmen des Photographen Karl Ammann, bekannt durch Bildbände und Veröffentlichungen in renommierten Magazinen, tragen erheblich dazu bei, sind es doch eindrucksvolle Bilder von Persönlichkeiten. Ebenso wie Ammanns Stellungnahme am Ende des Buches unterstützen sie Sommers Anliegen, diese uns so nahestehenden Wesen endlich als zwar etwas anders, jedoch als ebenbürtig zu akzeptieren.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 148
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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