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Medizin: Die Kunst des Heilens

Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute Aus dem Englischen von Jorunn Wissmann. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000. 818 Seiten, DM 99,90


Wie kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin ist die Medizin durch einen ständigen Wandel grundlegender Paradigmata gekennzeichnet. Was gestern noch als unerschütterliches Dogma zum Wohle der Patienten galt – ob diagnostische Verfahren, therapeutische Ansätze oder prognostische Algorithmen –, kann morgen schon obsolet sein. Wenn sich so etwas wie ein roter Faden durch die Geschichte der Schulmedizin zieht, dann die Erkenntnis, dass sich unzählige "bahnbrechende" Erkenntnisse später als wirkungslos, unsinnig oder sogar gefährlich erwiesen haben.

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Krankheit nicht nur etwas Biologisches ist, sondern stets auch soziale und geistige Komponenten hat. Und da diese sich in Abhängigkeit von Ort und Zeit unterschiedlich entwickelten, nahm auch die Medizin ihren wechselhaften Verlauf.

Doch was treibt die Medizin voran? Wann endet eine neue Methode in der Kunst des Heilens in einer Sackgasse, und wann wird sie zu einer nachhaltigen "Erfolgsstory"?

Roy Porter, ein international renommierter Medizinhistoriker, beantwortet diese Fragen in bester wissenschaftlicher Manier: umfassend und akribisch auf 716 Seiten (plus 62 Seiten Anmerkungen), in 22 Kapiteln, von der Antike bis zur Gegenwart. Der Professor für Medizingeschichte am Wellcome Institute for History of Medicine in London geht von der Überzeugung aus, dass die "Bocksprünge" der medizinischen Wissenschaft nur in ihrem zeitlichen und örtlichen Kontext zu verstehen sind.

"Unsere Kunst umfasst dreierlei", schrieb Hippokrates, der legendäre griechische Arzt, "die Krankheit, den Kranken und den Arzt". Diese Vorgabe hat Porter aufgegriffen und sich aus der Perspektive des Historikers den wechselseitigen Beziehungen von Krankheit, Patient und Arzt in den vergangenen 5000 Jahren gewidmet. Im Mittelpunkt des Buches stehen das medizinische Denken und die medizinische Praxis der jeweiligen Epoche; Auswirkungen von Infektionskrankheiten auf die Geschichte der Menschheit werden nur am Rande erwähnt.

Bemerkenswert ist die globale Betrachtungsweise Porters. So finden sich Kapitel über die ersten dokumentierten Heilpraktiken in Mesopotamien und in Südamerika, über chinesische und indische Medizin, über mittelalterliche Medizin ebenbürtig neben der Darstellung öffentlicher Gesundheitssysteme im Europa der industriellen Revolution und der Fortschritte in der Erforschung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – Entwicklungen, die auf strikt naturwissenschaftlichem Denken beruhten.

Am Kapitel "Tropenmedizin und weltweite Krankheiten" lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie differenziert Porter die Medizin der jeweiligen Zeit betrachtet und wie er es geschickt versteht, immer wieder neu den Bogen zu den Gesundheitsproblemen von heute zu spannen. Im Zeitalter des Imperialismus gewann die Tropenmedizin wie kein anderes Teilgebiet im Eiltempo an Bedeutung, weil die Kolonialmächte besseren medizinischen Schutz für ihre Militärs, Kaufleute und Beamten wollten; nur so konnten sie immer größere Gebiete und Ethnien unter ihre Kontrolle bringen. Kein Wunder, dass Joseph Chamberlain, damals Kolonialminister von Großbritannien, die "Bekämpfung von Tropenkrankheiten als integralen Bestandteil des Imperialismus" sah.

Andererseits wurden diverse Krankheiten erst durch Eingriffe der Kolonialherren zu kontinentalen Seuchen. Ob Schlafkrankheit oder Bilharziose, ob Malaria oder Filariosen: Militärische Operationen und Flüchtlingstrecks, Rodungen und Straßenbau, Landwirtschaft und Handel brachten ein Jahrhunderte altes Gleichgewicht durcheinander und machten aus lokalisierten Krankheitsherden letztendlich Endemiegebiete. Später machte auch die Tropenmedizin "ihren" Paradigmenwechsel durch. Sie versteht sich heute eher als Disziplin der internationalen Gesund-heit denn als Fachbereich für exotische Krankheiten. Es ist beeindruckend, wie Porter diese Entwicklung bis in die jüngste Gegenwart nachzeichnet.

Im Mittelpunkt des Buches steht aber, und das weiß Porter zu begründen, die so genannte "westliche Medizin". Nur sie hat kompromisslos klare Ansätze entwickelt, um die Funktionen des menschlichen Körpers bei Gesundheit und Krankheit zu erforschen. Dass hier gleichwohl Irrwege fast so häufig beschritten wurden wie der Pfad der richtigen Erkenntnis, zeigt der Autor an Dutzenden von Beispielen.

Eine ähnlich umfassende Darstellung der Geschichte der Medizin hat es bislang noch nicht gegeben. Porters Buch hat das Zeug zu einem Klassiker. Der Leser muss sich allerdings auf eine lange literarische Reise gefasst machen. In einem Zug lässt sich das Mammutwerk nicht "verdauen".

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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