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Bildartikel: Digitale Photomanipulation

Wann darf man noch dem Augenschein trauen? Neue Techniken zur Bildbearbeitung und zur Bildsynthese machen Realität und Fiktion ununterscheidbar.

Im September 1993 ging ein Photo durch die Presse, das aller Welt zeigte, wie unter den Augen von US-Präsident Bill Clinton der israelische Premierminister Itzhak Rabin und der Chef der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Yasir Arafat sich vor dem Weißen Haus in Washington die Hände schüttelten. Bereits 1988 aber war in dem amerikanischen Magazin "Life" eine für Frieden in Nahost nicht minder symbolträchtige Szene zu sehen: Arafat und der damalige Premier Israels Yitzak Shamir begrüßten einander unter den wohlwollenden Blicken von US-Präsident Ronald Reagan aufs herzlichste. Nur das jüngere Bild dokumentiert ein tatsächliches Ereignis; das andere war eine auf dem Computer erzeugte Montage, eine – wenn auch hoffnungsträchtige – Fiktion.

Photos lassen sich leichter denn je manipulieren. Weithin verfügbare Programme für Graphik und Bildverarbeitung erlauben es, Elemente einer Szene zu entfernen, umzuordnen, neu einzufärben oder anderweitig zu verändern (siehe Kasten auf dieser Seite). Damit kann man sogar Teile verschiedener Aufnahmen zu einem neuen Bild kombinieren (siehe Kasten auf Seite 86). Andere Programme ermöglichen es, durch ausgeklügelte perspektivische Projektion und Schattierung aus dem synthetischen digitalen Modell einer dreidimensionalen Szene überzeugend photorealistische Darstellungen zu erzeugen – eine Technik, die schon vielfach für die Präsentation architektonischer Projekte und für Spezialeffekte in Kinofilmen benutzt wird (Spektrum der Wissenschaft, April 1991, Seite 104, und Dezember 1991, Seiten 120).

Anders als Zeichnungen und Gemälde, denen man von vornherein keinen verläßlichen Dokumentencharakter zuschreibt, weil in sie die Vorstellungen und Absichten des Künstlers einfließen, können die neuartigen, am Bildschirm umgesetzten Veränderungen leicht zu irrigen Ansichten verleiten. Denn Photos gelten noch immer – wie Fingerabdrücke am Tatort oder Lippenstiftspuren am Hemdkragen – als genaues, vertrauenswürdiges Zeugnis von realen Gegenständen oder einem wirklichen Geschehen.

Trügerisch ist nicht nur, daß der mechanische Vorgang des Ablichtens das subjektive Moment daran leicht vergessen läßt: Motiv, Zeit, Ort und Perspektive können gewählt, die Objekte oft arrangiert sein.


Herkömmliche Manipulation

Auch das absichtliche Fälschen von Photographien ist nichts Neues. Mehrfachbelichtungen und -kopien sowie Photomontagen und Retouchen sind sowohl für harmlose Scherze wie für gezielte Politpropaganda benutzt worden. Im 19. Jahrhundert suchte man Gutgläubige etwa mit Photos von Gespenstern zu verblüffen, die durch Doppelbelichtung hergestellt waren; und Diktaturen haben mit Kunstgriffen im Photolabor Meinungsmanipulation und Geschichtsklitterung getrieben. So entfernte man in der Sowjetunion während der stalinistischen Ära den unliebsam gewordenen Leo Trotzky aus einer berühmten Photographie, die ihn mit Lenin auf einer Kundgebung am 5. Mai 1920 zeigte.

Mittels Computers lassen sich solche Fälschungen schneller und leichter anstellen, und sie sind auch wesentlich schwieriger zu entlarven. Mit den sich rasant steigernden und ausbreitenden Möglichkeiten digitaler Bildverarbeitung kann das sehr problematisch werden, zumal in absehbarer Zeit die meisten Bilder in den Medien, die unsere Vorstellung von der Welt formen, digital gespeichert, übermittelt und bearbeitet sein dürften.

Bei genauem Inspizieren traditioneller Photomontagen ergeben sich oft klare Indizien für eine Manipulation (siehe Kasten auf dieser Seite). Kopiermasken und Skalpellschnitte können scharfe Ränder hinterlassen, Retuschen mit Schaber, Stift oder Pinsel sich vom Korn der Vorlage abheben, Texturen (Oberflächenstrukturen) schlecht zusammengestellt oder rekonstruiert sein und Farben nicht richtig zueinander passen. Digitale Bilder hingegen werden durch Ändern computergespeicherter Pixelwerte und nicht durch mechanische Eingriffe an einer materiellen Oberfläche manipuliert. Verräterische Spuren müssen hier oft gar nicht verwischt werden – sie lassen sich von vornherein vermeiden. Entsprechende Programme erfordern nicht einmal viel Übung und Geschick, um Begrenzungslinien eines Motivelements zu verstärken, abzuschwächen oder in das Umfeld übergehen zu lassen, Schattierungen und Farben anzupassen und Oberflächenstrukturen zu kopieren. Daß ein Bild keine sichtbaren Nahtstellen aufweist bürgt nicht mehr für Authentizität. Es bleibt nur, nach Anhaltspunkten im Motiv selbst und in den Umständen seiner Aufnahme zu suchen.

Prüfen auf Konsistenz und Plausibilität

Freiheit von inneren Widersprüchen garantiert zwar nicht Wirklichkeitstreue, doch bei Verdacht auf Manipulation gilt es, auf Inkonsistenzen zu achten (siehe Kasten auf dieser Seite): Erscheinen alle Objekte in der Szene in korrekter Perspektive? Stimmt die perspektivische Verkürzung einer Fläche mit der räumlichen Orientierung überein, wie ihre Schattierung sie andeutet? Zeigen beispielsweise eine Uhr im Hintergrund und der aus dem Lichtfall erkennbare Sonnenstand denselben Aufnahmezeitpunkt an? Erscheinen einzelne Objekte ungewöhnlich hell oder dunkel im Vergleich zu ihrer Umgebung? Haben Objekte fehlende oder anders fallende Schatten? Gibt es Schatten, die von keinem Objekt auszugehen scheinen? Stimmen Glanzlichter und Schatten mit den suggerier-ten Positionen von Beleuchtungsquellen überein? Lassen auffällige Unstetigkeiten des Hindergrundes vermuten, daß ein Objekt aus dem Vordergrund entfernt wurde? Weisen reflektierende Oberflächen die zu erwartenden Spiegelbilder anderer Objekte auf? Ist die Helligkeit von Oberflächen entsprechend jenem diffusen Streulicht, das infolge Mehrfachreflexion entsteht, modifiziert? Ist die Abnahme der Oberflächenstrukturierung mit zunehmender Entfernung plausibel? Vermitteln geometrische Perspektive (Verkleinerung mit zunehmender Tiefe) und atmosphärische Perspektive (Farbverschiebung mit zunehmender Tiefe) dieselbe Tiefeninformation? Gibt es einen Bereich maximaler Tiefenschärfe, wie er für die mutmaßliche Einstellung der Kamera typisch wäre, und nimmt die Tiefenschärfe zum Vorder- und Hintergrund überall in gleicher Weise ab?

Im allgemeinen ist ein Bild um so schwieriger zu verändern, ohne daß Inkonsistenzen erkennbar würden, je mehr Informationen es enthält. So läßt sich ein unscharfes, körniges, unterbelichtetes Schwarzweißphoto viel leichter bearbeiten als ein scharfes, feinkörniges Farbphoto. Wie eine erste Unwahrheit jemanden zwingen kann, ein zu kompliziertes Netz vertuschender Lügen zu spinnen, wächst mit der Komplexität für den Manipulator das Risiko, sich schließlich doch durch eine winzige Ungereimtheit zu verraten.

Mit Hilfe von Visualisierungssoftware synthetisierte Bilder können jedoch frei von solchen Fehlern sein. Sorgfältig modellierte dreidimensionale Szenen, die mittels Ray Tracing (Strahlverfolgung) oder Radiosity (Berechnung der Reflexionen aller Objekte einer Szene untereinander) verfertigt wurden, erfüllen selbst höchste Ansprüche an die Simulation von Licht- und Schatteneffekten. Solche Darstellungen fiktiver Dinge und Räume dürften ohne weiteres den Test auf innere Widerspruchsfreiheit bestehen; sie wirken allerdings meist noch steriler als Studio-Aufnahmen, weil ihnen die kleinen alltäglichen Zufälligkeiten bis hin zum Schmutzflecken an der Wand abgehen, die ein Kameraobjektiv allesamt registriert.

Im Falle von Photos kann Skepsis noch an der Herkunft des Bildes ansetzen. Weil es an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufgenommen sein muß, kann man überlegen und recherchieren, ob der Aufnehmende ausgerechnet in diesem Moment zur Stelle zu sein vermochte. Außerdem gibt es dubiose und im allgemeinen glaubwürdige Quellen oder Medien – es macht einen Unterschied, ob etwa eine Wissenschaftszeitschrift oder ein Boulevardblatt erstmals die Aufnahme eines angeb- lich sensationellen Forschungsergebnisses druckt.

Der Weg eines traditionellen Photos ist oft leicht zu ermitteln, weil belichteter Film, Negative und Abzüge transportiert werden müssen und professionelle Photographen wie auch andere Urheber und Bildagenturen jede Vergrößerung mit einem Quellenvermerk versehen. Die digitale Bildverarbeitung macht dieses Zurückverfolgen ungleich schwieriger: Negative werden überflüssig, und die Datensätze können in Sekunden kopiert sowie immateriell durch Computer- und Telephonnetze übertragen werden.

Die größte Herausforderung stellen Bilder dar, die keine sichtbaren Spuren unerlaubter Eingriffe zeigen, scheinbar innerlich widerspruchsfrei sind und dennoch dem Vorwissen und der Erfahrung widersprechen. Scheiden Hilfsmittel zur Plausibilitätskontrolle aus, läßt sich beispielsweise nicht mit einem Lexikon verifizieren, daß eine angeblich jüngst photographierte Person schon vor Jahren gestorben ist, stehen wir vor einem Dilemma: Entweder trauen wir der neuen Information oder müssen den Verdacht auf sich beruhen lassen. Manches wird nur noch mit Spezialwissen als Fälschung erkennbar sein. Mit dem Aufkommen der digitalen Bildverarbeitung ist die – bedingte – Sicherheit, daß ein Photo dokumentarischen Charakter hat, unwiederbringlich dahin.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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