Direkt zum Inhalt

Editorial: Wie Europa im Irak sein Gedächtnis verliert



War alles halb so schlimm? Wurde das Nationalmuseum in Bagdad eigentlich fast gar nicht ausgeraubt? Ist das älteste Kulturerbe des Abendlandes doch nicht zerstört, doch nicht in alle Winde verstreut? Nachdem sich die Welt schon auf die Totalvernichtung von Zeugnissen der archaischen Hochkulturen Mesopotamiens eingestellt hatte, landete der Chef der US-Zivilverwaltung im Irak, Paul Bremer, einen PR-Coup: Einer staunenden Weltöffentlichkeit, der noch die Livebilder des verwüsteten Nationalmuseums in Bagdad im Gedächtnis hafteten, präsentierte er den verschollen geglaubten "Schatz der Königinnen von Nimrud". Anfang Juli durfte ihn die Weltpresse für Stunden bewundern – den bedeutendsten archäologischen Fund Iraks im letzten Jahrhundert, mit Juwelen und Goldkunst aus der Zeit um 900 v. Chr. Der erst 1988 entdeckte Schatz wurde unversehrt aus Tresorräumen hervorgeholt (siehe auch "Tod in Mesopotamien" ab S. 68 und das Spezialheft "Moderne Archäologie").

Von ursprünglich 170000 verloren geglaubten Objekten fehlen laut einem Untersuchungsbericht vom Juli tatsächlich nur rund vierzig bedeutende sowie einige tausend weitere Artefakte, darunter 4800 Rollsiegel. Andere Stücke wurden zerstört oder beschädigt zurückgebracht – wie etwa die kostbare Warka-Vase. Doch zeitgleich mit dem Glitzern des Goldschatzes im Blitzlichtgewitter der Propaganda-Inszenierung wütet der Vandalismus weiter. Die Raubgräber schlagen nun verstärkt außerhalb Bagdads zu. Vor allem im Süden des Landes werden zahllose der 15000 bekannten archäologischen Stätten systematisch geplündert, Steinreliefs herausgebrochen, Tontafeln und Terrakotten weggeschafft, Beschädigtes weggeworfen. Gut ausgerüstete und bis an die Zähne bewaffnete Plünderer leuchten die Hügel aus, wühlen im Boden herum, verwandeln Grabungsorte in Mondlandschaften und vernichten damit jeden Fundzusammenhang. Betroffen sind etwa Umma, Nippur oder Isin – während es durchaus vorkommt, dass eine Unesco-Delegation ohnmächtig dabei zusehen muss. Denn nur wenige Stätten werden inzwischen militärisch geschützt.

Der Ausverkauf des Weltkulturerbes hat längst begonnen, Kunsthändler in aller Welt können es kaum erwarten mitzumischen. Viele Objekte werden außer Landes gebracht, womöglich auch ins Genfer Zollfreilager, wie Experten vermuten. Da in der Schweiz Diebstahl von Kulturgütern bereits nach fünf Jahren verjährt, kann die Ware dann legal in den Kunsthandel gebracht werden.

Der Irak ist nur ein – wenngleich besonders krasses – Beispiel für den Raub archäologischer Zeugnisse in Ländern, die große wirtschaftliche Not leiden. Leider muss die internationale Gemeinschaft der Archäologen mehr als bisher den Krieg in ihr Kalkül einbeziehen – wie anderswo in lokalem Rahmen die drohende Zerstörung von Denkmälern durch Bauarbeiten. Darum sind in Krisenregionen Notgrabungen – in Frankreich als "präventive Archäologie" bekannt – das Gebot der Stunde.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 5
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.