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Ein Alleskönner aus Prinzip

Spektrum-Interview zum Programm Mathematica, Version 4, mit Jon McLoone von Wolfram Research.



Spektrum der Wissenschaft:
Wenn ich im Handbuch blättere, scheint mir Mathematica eine eierlegende Wollmilchsau zu sein. Kann das Programm wirklich alles, und das auch noch gut?

Jon McLoone:
Zweimal Ja. Die meisten Softwarepakete entstehen als sehr spezielle Lösungen für einen engen Problembereich, werden immer mehr erweitert, haben aber kein einheitliches, alle Anwendungen übergreifendes Konzept. Bei Mathematica sind wir den umgekehrten Weg gegangen: Wir haben das Grundkonzept mit der größtmöglichen Breite angelegt und dabei zunächst in Kauf genommen, daß die Leistung für ein gegebenes Problem hinter der des jeweils besten Spezialprodukts zurückblieb. Seit Version 2.0 sind wir aber in Computeralgebra auf dem Stand der Technik, seit Version 3.0 läßt sich die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Dokumentation mit Scientific Word oder LATeX vergleichen. Die neue Version 4.0 bietet klassische Gleitkomma-Numerik wie gängige Zahlenfresser-Programme.

Spektrum:
Wer nutzt denn dieses Universalwerkzeug?

McLoone:
Unsere größten Kundengruppen sind Wissenschaftler in Forschung und Lehre, Ingenieure und die Beschäftigten der Finanzwelt, in dieser Reihenfolge. Mit Hilfe von Mathematica lassen sich aber auch sehr bequem algorithmisch definierte Bilder ohne große wissenschaftliche Bedeutung erzeugen; deshalb nutzen auch moderne Künstler Mathematica. Übrigens legt das amerikanische Patentamt seit einiger Zeit seine sämtlichen technischen Dokumente als Mathematica-Notebooks ab. Dadurch kann man die Datenbank nach Stichwörtern durchsuchen und Formeln direkt aus den Patentschriften übernehmen und nachrechnen.

Spektrum:
Klingt nach einem Massenprodukt?

McLoone:
Nach unserer letzten Schätzung vor einem Jahr gibt es ungefähr eine Million Leute weltweit, die Mathematica zumindest zu einem gewissen Grade beherrschen. In dem halben Jahr, seit die Version 4.0 auf dem Markt ist, haben wir für etwa 10 bis 20 Prozent der Lizenzverträge ein Update verkauft. Hinzu kommen schätzungsweise 20 Prozent, die jeweils die neueste Version im Abonnement beziehen.

Spektrum:
Nehmen wir an, ein Nutzer hat mit Mathematica sein Problem so weit aufbereitet, daß der noch zu leistende Rest der Arbeit in der massiven Anwendung numerischer Algorithmen besteht. An welcher Stelle sollte er das Programm verlassen und beispielsweise in C weiterarbeiten?

McLoone:
Im Prinzip gar nicht – es sei denn, ihm wäre die Arbeit mit einem bekannten numerischen Programmpaket eben sehr vertraut. Wenn es auf Rechenzeit ankommt, kann er in C bei manchen Problemen einen Faktor 2 bis 3 herausholen. Es gibt sogar das Softwarepaket Mathcode C++ der schwedischen Firma Mathcore, das aus einer Teilmenge der Mathematica-Befehle – im wesentlichen numerisches Rechnen mit Matrizen und ähnliches – Programme in C++ macht. Sowie aber symbolisches, algebraisches Rechnen zu bewältigen ist, wäre der Aufwand für den Wechsel erheblich.

Spektrum
: Mathematica bietet dem Benutzer zu einem Problem – sagen wir Anfangswertproblem für eine Differentialgleichung – zwar eine numerische Lösung an, sagt aber nichts über die Methode, die es zur Lösung verwendet. Nun erzählt jeder Numerikprofessor seinen Studenten, daß je nach Problemtyp die eine Methode besser ist als die andere.

McLoone:
Erstens: Die Wahl der richtigen Methode ist tatsächlich schon die halbe Lösung des Problems. Der Anwender soll sich darum nicht kümmern müssen. Um unseren Vorsprung vor der Konkurrenz zu wahren, lassen wir uns außerdem an dieser Stelle ungern in die Karten schauen. Eine entsprechende Auskunft kann sogar irreführend sein, wenn beispielsweise Methode X für diesen Problemtyp als ungeeignet gilt und weniger bekannt ist, daß sie in diesem Spezialfall oder bei geschickter Programmierung sogar hervorragend funktioniert.

Zweitens: Wir wollen die Software verbessern, ohne daß der Kunde seinen Programmcode ändern muß. Wenn wir ein besseres Verfahren für Anfangswertprobleme gewöhnlicher Differentialgleichungen implementiert haben, merkt er das nur daran, daß der entsprechende Befehl NDSolve jetzt schneller ein Ergebnis liefert.

Drittens: Wenn Sie darauf bestehen, können Sie die automatische Methodenwahl außer Kraft setzen.

Spektrum:
Wo sehen Sie Mathematica in zehn Jahren?

McLoone:
Wir werden in der Numerik in einigen Punkten aufholen, etwa bei dünnbesetzten Matrizen. Wir arbeiten auch an einer engeren Verzahnung zwischen symbolischem und numerischem Rechnen.

In der Graphik haben wir Größeres vor, beispielsweise Darstellungen dreidimensionaler Gebilde, die in Echtzeit im Raum drehbar sind. Oder elektrische Schaltbilder, deren Funktion sich auf der Stelle durch Simulation testen läßt. Kleinere Verbesserungen sind in den Dokumentationsfunktionen vorgesehen. Wir wollen zum Beispiel Rechtschreibprüfung für eine Vielzahl von Sprachen implementieren…

Spektrum:
Auch für die neue deutsche Rechtschreibung?

McLoone:
Glaube ich nicht (sucht in der Dokumentation). Ich finde nur "German" und "German Swiss". Aber in einem Jahr werden wir mit Sicherheit auch das können.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 101
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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