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Zusatzbeitrag: Eine Galerie des Unsichtbaren



Die vielfach zu figurenreichen Szenen biblischer oder historischer Ereignisse ausgeschmückten Initialen in mittelalterlichen Folianten wie auch Tafelbilder aus der Zeit bis in die Renaissance enthalten nur selten Hinweise auf ihre Entstehung und auf den oder die Urheber. Lediglich aus unvollendeten Buchmalereien lassen sich mitunter die verschiedenen Arbeitsschritte von der Ideenskizze zur Ausführung und daraus die Arbeitsorganisation in einer Werkstätte erschließen (Bild 1).

Wenn die Malschichten nicht sehr deckend sind, können bei den Miniaturen auf Pergament oder Papier Entwurfszeichnungen, sofern sie mit einem kräftigen Material wie Rußtusche oder Ocker angelegt wurden, im Durchlicht zu erkennen sein. Allerdings sieht man dabei auch die darüber aufgetragenen Farben, was die Interpretation erschwert. Doch lassen sich so vor allem Veränderungen der Darstellung während des Malprozesses, sogenannte Pendmenti (Reuezüge), entdecken. Beispielsweise offenbaren sich in einer um 1470 in Tours (Frankreich) entstandenen Handschrift des autobiographischen Romans von Jean Bueil (1405 bis 1478) über sein Alter ego Jouvencel solche Korrekturen (Bild 2): In einer Darstellung der Eroberung der Stadt Escalon trugen die Soldaten in der ersten Bildfassung große Fahnen mit dem blau-roten Wappen Jouvencels; diese wurden dann aber mit weiteren Rittern übermalt und mehrere kleinere Banner – vermutlich mit den heraldischen Farben des Auftraggebers der Arbeit vom Künstler hinzugefügt.

Infrarot-Reflektographie und Bildverarbeitung

Moderne spektroskopische und informationsverarbeitende Techniken vermögen mittlerweile Unterzeichnungen deutlich sichtbar zu machen. Die Farbpigmente der Malschicht und die für die Zeichnung verwendeten Tinten, Tuschen und Metalle von Stiften absorbieren unterschiedliche Wellenlängen des infraroten Lichts, also des Spektralbereichs oberhalb von 0,78 Mikrometern (tausendstel Millimetern). Zudem dringen die langwelligen Infrarotstrahlen tiefer als die des sichtbaren Lichts in die Materialschichten ein und werden erst vom Malgrund reflektiert. Die Farbstoffe des darauf aufgetragenen Entwurfs absorbieren sie teilweise und erscheinen deshalb in einer Infrarot-Aufnahme im Idealfalle schwarz, während die überdeckenden Farben transparent sind.

Beispielsweise zeigen sich so Probleme, mit denen Künstler an der Wende vom Mittelalter zur Renaissance zu kämpfen hatten (Bild 3). Ein französischer Maler illustrierte um 1460 eine Handschrift mit Texten des im frühen 1. Jahrhundert wirkenden römischen Historikers Valerius Maximus. Weil dieser Sitten und Gebräuche beschrieb, die dem Künstler nicht mehr bekannt waren, mußte er seine Phantasie spielen lassen und griff auch auf Vertrautes zurück. So entwarf er eine römische Hochzeitszeremonie zunächst mit einer gotischen Kapellenarchitektur. Als er die Malerei ausführte, mag ihm das aber doch als zu wenig antik erschienen sein, denn er verlieh dem Gebäude dann Elemente der Romanik und – damals hochmodern der sich direkt auf die Antike beziehenden Renaissance.

Zumeist absorbieren aber auch einige der Malfarben infrarotes Licht und sind deshalb für die Reflektographie nur bedingt durchsichtig. Zudem nutzten die Künstler zum Vorzeichnen häufig Materialien wie Eisengallus-Tinten, die Licht nur bis 1400 Nanometer (millionstel Millimeter) Wellenlänge absorbieren, somit ihrerseits in Infrarot-Aufnahmen allenfalls nur schwach oder gar nicht zu sehen sind.

Für solche Fälle entwickelten wir ein Meßsystem aus einer Infrarot-Videokamera mit einer spektralen Empfindlichkeit bis 1900 Nanometer Wellenlänge und optischen Bandpaßfiltern, die nur ausgewählte Frequenzbereiche von jeweils 100 Nanometern Breite passieren lassen. Die Aufnahmen werden digitalisiert und mit computergestützten Methoden bearbeitet, um die Zeichenlinien in den meist flau aussehenden interessierenden Bildbereichen besser sichtbar zu machen.

Beispielsweise läßt sich der Kontrast durch eine Manipulation der Grauwerte-Verteilung verstärken und eine feine Linie mittels mathematischer Filteroperationen hervorheben. Diese Algorithmen finden Konturen in den Daten anhand von Grauwert-Gradienten. Ohne solche Bearbeitungsschritte wären viele Effekte in den Infrarot-Aufnahmen nur schwach erkennbar und würden beim Ausdrucken, einem nichtlinearen Übertragungsprozeß, verlorengehen.

Digitale Bilder lassen sich zudem miteinander verknüpfen. Wir nutzen dies, um etwa Unregelmäßigkeiten der Beleuchtung auszugleichen. Dazu wird zusätzlich eine Vorlage mit einheitlichem Grauwert photographiert und anschließend von der eigentlichen Aufnahme subtrahiert.

Mittels Bildverknüpfung kann man auch das Eigenrauschen der Aufnahmeröhre und damit verbundene Störeffekte herausarbeiten. Weil die Empfindlichkeit der Kamera mit zunehmender Wellenlänge abnimmt, muß man nämlich die Meßsignale entsprechend elektronisch verstärken, was dieses Rauschen ebenfalls intensiviert und gerade in den interessantesten Spektralbereichen die Bilder unscharf werden läßt. Abhilfe schafft die Wiederholung der Aufnahme in rascher Folge: Der betreffende Bildausschnitt wird meist 64mal hintereinander photographiert, und die Daten werden im Computer gemittelt weil das Rauschen ein statistischer Vorgang ist, bleibt bei dieser Akkumulationstechnik im wesentlichen das gesuchte Signal übrig.

Anwendungsbeispiele

Die Untersuchung einer Initiale zum Osterfest in einem Kölner Graduale (einem liturgischen Gesangbuch) aus dem frühen 16. Jahrhundert – dargestellt ist die Auferstehung Christi – vermag das Verfahren und seine Bedeutung für die Kunstgeschichte zu verdeutlichen (Bild 4). In einer integralen Aufnahme, die ohne Filterung den gesamten Bereich von 780 bis 1900 Nanometern erfaßt, erkennt man zwar eine Entwurfsskizze, die von der Ausführung an einigen entscheidenden Stellen abweicht, doch wird sie nicht überall gleichermaßen deutlich. Vor allem der grüne Hügel hinter dem Sarkophag erscheint darin nur als schwarzer Fleck, weil der Maler Kupfergrün-Pigmente verwendet hat, die erst im fernen Infrarot durchsichtig werden. Ein Bandpaßfilter für Licht zwischen 1550 und 1650 Nanometern offenbarte nun unter dieser Farbschicht eine Skizze der Waffen des Grabwächters; die Landschaft war also ursprünglich anders angelegt. Die Aufnahme der Zeichnung wird insgesamt bei diesen Wellenlängen kaum noch von darüberliegenden Farbschichten verunklärt, lediglich die goldenen Linien in der Gloriole Christi und auf der Rüstung bleiben sichtbar.

Auch an anderer Stelle verwässerte der Künstler den sehr detaillierten Entwurf bei der Ausführung. So sollte der Sarkophag Christi ursprünglich mit Siegeln verschlossen sein, wohl um den wunderbaren Charakter der Auferstehung zu betonen; in der Malerei ist davon nichts mehr zu sehen.

Anhand individueller Charakteristika der Vorzeichnung vermag man dem Künstler, der sie verfertigt hat, auch andere Miniaturen dieses Graduales zuzuweisen. Die eher flüchtige Anlage anderer Entwürfe belegt aber, daß er verschiedene Mitarbeiter gehabt haben muß. Eine derartige Arbeitsteilung war in der mittelalterlichen Handschriftenproduktion recht häufig: Um ein Buch möglichst schnell liefern zu können, verteilte man jeweils etliche Seiten an mehrere Künstler, die dann gleichzeitig verschiedene Miniaturen ausführen konnten. An ihrer charakteristischen Mal- und Zeichenweise lassen sich einzelne Buchmaler unterscheiden, und so kann man die Werkstattgröße abschätzen.

Auch Tafelmaler des Mittelalters und der Renaissance setzten oft einen Mitarbeiterstab ein. Ein besonders umfangreicher Werkstattbetrieb ist zum Beispiel für Lucas Cranach den Älteren (1472 bis 1553) bezeugt. Durch neuere Analysen der ihm zugeschriebenen Bilder, die auch Unterzeichnungen systematisch auswerten, lassen sich mittlerweile sieben Künstler unterscheiden, die allerdings nicht alle zur gleichen Zeit für den Meister tätig waren.

So ist im Entwurf einer Kreuzigung Christi aus der Zeit um 1520 zu erkennen, daß der Maler erst nach mehreren Versuchen zufrieden war (Bild 5). Der Kopf des Johannes wurde wohl zunächst mit breiten Pinselstrichen grob skizziert; dann fertigte der Künstler eine sehr viel feinere Zeichnung mit dem Federkiel an, bei der er Augenstellung und Nase gegenüber der ersten Skizze verschob und die Haare nochmals überarbeitete. Bei der farbigen Ausführung wurden Augen, Nase und Mund ein weiteres Mal verändert. Aus dem Vergleich dieses Werks mit dem Stil Cranachs läßt sich erkennen, daß hier ein Mitarbeiter tätig war.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 85
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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