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September 1989: Fraktale - eine neue Sprache für komplexe Strukturen

Die fraktale Geometrie ist Beschreibung und zugleich mathematisches Modell für vielfältige Formen in Wissenschaften und Natur. Diese neue Sprache für komplexe Strukturen verwendet viele Dialekte, darunter einen affinlinearen und einen nichtlinearen quadratischen Dialekt, sowie die sogenannten L-Systeme. Sie alle können nur mit Hilfe eines Computers gesprochen werden.
Fraktale Welt in 3-D-Darstellung

Die fraktale Geometrie wird Ihre Sicht der Dinge grundlegend verändern. Es ist gefährlich weiterzulesen. Sie werden es riskieren, Ihre kindliche Auffassung von Wolken, Wäldern, Galaxien, Blättern, Federn, Blumen, Felsen, Gebirgen, Teppichen und vielen anderen Dingen zu verlieren. Niemals werden Sie zu den Ihnen vertrauten Interpretationen dieser Dinge zurückkönnen.

Mit diesen Sätzen charakterisiert Michael Barnsley, ein bekannter Mathematiker und einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der fraktalen Geometrie, unser Thema. (Wir wollen gleich anmerken, daß seine Darstellung unsere Beschreibung beeinflußt hat) Tatsächlich hat Benoit B. Mandelbrot vom Thomas-J.-Watson-Forschungszentrum der IBM in Yorktown Heights (New York) mit seinem Konzept der Fraktale, ausführlich beschrieben in seinem 1987 auf Deutsch erschienenen Buch »Die fraktale Geometrie der Natur«, in Mathematik und Naturwissenschaften ein neues Denken in Gang gebracht — eine Welle, die in ihrer Kraft, Kreativität und Weiträumigkeit längst ein interdisziplinäres Ereignis ersten Ranges geworden ist.

Fraktale Geometrie ist in erster Linie eine neue Sprache. Ihre Elemente entziehen sich aber einer direkten Anschauung und unterscheiden sich darin grundlegend von den Elementen der vertrauten euklidischen Geometrie wie etwa Linie, Kreis und Kugel.

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Die fraktale Sprache drückt sich in Algorithmen aus, das heißt in Verfahrensregeln und Anweisungen, die sich erst mit Hilfe eines Computers in Formen und Strukturen verwandeln. Zudem ist der Vorrat dieser Elemente unerschöpflich groß. Beherrscht man aber die neue Sprache, so vermag man die Form einer Wolke ebenso präzise und einfach zu beschreiben, wie ein Architekt den Plan eines Hauses in der Sprache der traditionellen Geometrie vollständig darstellen kann.

Die Essenz der Mandelbrotschen Botschaft ist, daß viele natürliche Strukturen wie zum Beispiel Wolken, Gebirge, Küsten- oder tektonische Bruchlinien, Blutgefäßsysteme oder Bruchflächen von Materialien und vergleichbare Strukturen scheinbar uneingeschränkter Komplexität tatsächlich eine geometrische Regelmäßigkeit haben — die sogenannte Skaleninvarianz. Das bedeutet: Analysiert man diese Strukturen bei unterschiedlichen Größenmaßstäben, so stößt man immer wieder auf dieselben Grundelemente. Ihr Zusammenspiel in verschiedenen Maßstäben findet im Begriff der fraktalen Dimension eine angemessene mathematische Beschreibung.

Die Bedeutung der Skaleninvarianz hat eine bemerkenswerte Parallele in der ebenfalls höchst aktuellen Chaos-Theorie, die Naturwissenschaftler und Mathematiker mit der Überraschung konfrontiert hat, daß zahlreiche Phänomene trotz strengem Determinismus prinzipiell nicht berechenbar sind. Diese Entsprechung ist nicht zufällig; sie ist vielmehr Zeugnis einer tiefen Verwandtschaft.

Besonders eindrucksvoll kann dies an einem mathematischen Konstrukt diskutiert werden, das Mandelbrot 1980 entdeckt hat und das seitdem als Mandelbrot-Menge bezeichnet wird. Dieses überaus komplexe und vielleicht schönste Objekt, das die Mathematik je zugänglich und sichtbar gemacht hat, birgt einen bizarren Reichtum an Formen und Strukturen; es wirft aber zugleich grundlegende mathematische Probleme auf, die in scheinbar groteskem Gegensatz zur Einfachheit der Erzeugungsregeln stehen, mit denen sich diese Menge eindeutig beschreiben und geometrisch konstruieren läßt.

Die Mandelbrot-Menge ist ein Paradigma für Ordnung und Chaos. Doch ihre wohl faszinierendste Eigenschaft wurde erst kürzlich entdeckt: Sie kann als Bildlexikon für unendlich viele Algorithmen interpretiert werden und ist damit ein fraktaler Bildspeicher von schier unfaßbarer Effizienz und Organisation.

Eine weitere Parallele zwischen der fraktalen Geometrie und der modernen Chaos-Theorie besteht darin, daß die schrittmachenden Entdeckungen erst durch Computerexperimente möglich und gemacht wurden. Dies ist für das traditionelle Mathematikverständnis eine Herausforderung, die von manchen als kraftvolle Erneuerung und Befreiung, von anderen aber auch als Abkehr von der wahren Mathematik empfunden wird.

Die Metapher Sprache scheint uns am besten geeignet zu sein, in die fraktale Geometrie einzuführen und einige ihrer wesentlichen Eigenschaften zu diskutieren. Während westliche Sprachen in einem endlichen Alphabet geschrieben werden, verfügen östliche Sprachen wie Chinesisch über so viele Zeichen, daß man sagen könnte, sie bestünden aus unendlich vielen Elementen. In westlichen Sprachen müssen Buchstaben zu Wörtern zusammengesetzt werden, die dann Bedeutung tragen, während chinesische Schriftzeichen selbst die Bedeutung beinhalten.

Die traditionelle euklidische Geometrie kennt — analog dem recht begrenzten Zeichensatz westlicher Sprachen, etwa dem lateinischen Alphabet — nur wenige Elemente wie die gerade Linie, den Kreis und so fort. Aus diesen wenigen Elementen lassen sich konstruktiv komplexere Objekte bilden — die gleichsam erst eine Bedeutung tragen. (In gewissem Sinne läßt sich das auch für andere moderne Geometrien behaupten, etwa die Riemannsche Geometrie, welche die Grundlage der Einsteinschen Relativitätstheorie bildet.) Die fraktale Geometrie entspricht dagegen eher der östlichen Sprachfamilie. Sie konstituiert sich aus unendlich vielen Elementen, die sich allerdings grundlegend von denen der euklidischen unterscheiden. Was sind nun diese Elemente? Die einfachste Art, sie zu beschreiben, besteht darin, sie mit Verfahrensregeln — oder Algorithmen — zu identifizieren. Diese Algorithmen lassen sich direkt als Bedeutungseinheiten der fraktalen Sprache verstehen.

Der lineare Dialekt in der fraktalen Sprache

Der wichtigste Dialekt der fraktalen Sprache ist die lineare fraktale Geometrie. Sie ist einfach zu verstehen und führt auch in die Grundidee der anderen Varianten sehr schön ein. Wie alle fraktalen Dialekte wird sie mit unendlich vielen Algorithmen gesprochen. Ihre Regeln beschreiben wir zunächst durch eine weitere Metapher: die Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Maschine. Im Prinzip ist diese Gedankenmaschine ein gewöhnlicher Kopierer mit Verkleinerungsoption. Allerdings hat unser Kopierer mehrere Verkleinerungslinsen, die ein aufgelegtes Bild unabhängig voneinander verkleinern (mit möglicherweise verschiedenen Faktoren) und die Verkleinerung jeweils an einen bestimmten Ort platzieren.

Hinweis der Redaktion: Der Artikel bezieht sich auf im Heft abgedruckte Bilder. Diese konnten wir in die Onlineversion des Artikels leider nicht übernehmen.

In einer Rückkopplungsschleife definiert jede solche Maschine eine Regel des linearen fraktalen Dialekts, und für jede Wahl der Linsen — das heißt der Verkleinerungsfaktoren und Positionierungen — eine andere. Bild 3 (links) zeigt ein konkretes Beispiel für einen rekursiven Algorithmus. Man beobachtet, wie sich aus dem Anfangsbild, einem Rechteck, im ersten Schritt eine Dreierkonfiguration ergibt. Damit ist die Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Regel beschrieben: Setze drei Verkleinerungen um jeweils den Faktor 1/2 in die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks. Wendet man nun dieselbe Regel nochmals an, so ergibt sich eine Dreieranordnung aus drei verkleinerten Dreieranordnungen und so fort, bis man schon nach sechs Anwendungen oder Iterationen ein endgültiges Bild zu sehen beginnt. Wir wollen es das Limesbild nennen, weil es mathematisch als der Grenzwert (Limes) einer unendlichen Folge von Anwendungen der Regel auf ein Anfangsbild aufzufassen ist. In diesem Falle ist das Limesbild das in der Mathematik seit 1916 bekannte Sierpinski-Dreieck, benannt nach dem polnischen Mathematiker Waclaw Sierpinski (1882 bis 1969), der sich mit Grundlagenfragen der Mengentheorie sowie mit der Theorie der reellen Funktionen und der Zahlentheorie beschäftigt hat. Dieses Objekt ist ein Musterex emplar aus der Klasse der im strengen Sinne selbstähnlichen Objekte, die sich durch folgendes Merkmal auszeichnen: Nimmt man ein noch so kleines Teil heraus, dann ist darin immer eine Figur – hier ein Dreieck- enthalten, die unter genügend starker Vergrößerung wieder das gesamte Bild ergibt.

Wie hängt nun das Limesbild von der Wahl des Anfangsbildes ab? Darüber gibt das nächste Experiment Auskunft (Bild 3, Mitte und rechts). Hier haben wir zwei neue, verschiedene Anfangs-bilder gewählt: einmal ein Dreieck und dann den Schriftzug SPEKTRUM. Wieder erzeugt die Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Regel als Rückkopp-lungsschleife schon nach sechs Iteratio-nen praktisch genau das gleiche Bild. Natürlich weichen die Bilder dieser Stufe in den kleinsten Details — Rechtecken, Dreiecken beziehungsweise SPEKTRUMs — nach wie vor vonein-ander ab, aber das Limesbild ist immer das gleiche. Es wird nur durch den ge-wählten Algorithmus — die spezielle Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Regel — festgelegt. Dieses Ergebnis läßt sich nach einer Idee des Mathematikers J. Hutchinson recht einfach allgemeiner beschreiben und ableiten.

Verkleinerungen und Verschiebungen (sowie Drehungen, Spiegelungen, Scherungen und deren Kombinationen) faßt man unter dem Begriff affin-lineare Transformationen der Ebene zusammen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß Geraden auf Geraden abgebildet werden. Anhand von n solchen Transformationen f1, ..., fn läßt sich dann eine Regel des linearen fraktalen Dialekts eindeutig beschreiben. In Bild 4 zeigen wir eine Auswahl der Möglichkeiten zusammen mit den zugehörigen Transformationen. Das Limesverhalten garantiert, daß unabhängig vom Anfangsbild jeweils genau ein Limesbild erreicht wird.

Ein derart komplexes Gebilde wie ein Famblatt (Bild 4 Mitte) läßt sich über den Algorithmus mit nur 24 Zahlen vollständig beschreiben. Dagegen benötigt man einige Hunderttausend Zahlenwerte, um das Bild des Farnblatts auch nur in Fernsehbildqualität Punkt für Punkt darzustellen. Die Beschreibung eines geeigneten Objekts im linearen fraktalen Dialekt kann also die Menge der zu übermittelnden oder zu speichernden Information enorm reduzieren.

Darin liegt ein praktisches Potential der fraktalen Geometrie: Beispielsweise ließe sich der Übermittlungsaufwand für ein Satellitenbild drastisch verringern. Darin liegt aber auch ein weitgehend ungelöstes Problem: Wie findet man zu einem durch ein Punktraster gegebenen Bild eine möglichst kleine Familie f1,...,fn von Transformationen, die dieses Bild mit einer verlangten Genauigkeit darstellen? An diesen Fragen wird zur Zeit intensiv gearbeitet, insbesondere von Barnsley.

Das Problem ist zwar immer auf triviale Weise lösbar, indem man zu jedem schwarzen Punkt Pk des gegebenen Bildes (Punktrasters) eine Transformation fk so wählt, daß fk alles auf diesen Punkt zusammenzieht; die Kollektion dieser / hat das gegebene Schwarzweißbild als Limesbild. Offensichtlich ist diese Kodierung aber wenig attraktiv. Sie benötigt genauso viele Transformationen fk, wie das Bild schwarze Punkte hat.

Die interessante und für die fraktale Geometrie zentrale Aufgabe ist, diese große Anzahl von fk auf eine möglichst geringe zu reduzieren. Sie hat mehrere Verallgemeinerungen, zum Beispiel wenn man von Schwarzweißbildern zu Halbtonbildern oder gar Farbbildern übergeht. Wir wollen wenigstens andeuten, wie sich aus Schwarzweißbildern eine Kodierung für Farbbilder ableiten läßt.

Das Chaos-Spiel und ein Kodierungsrezept

Betrachten wir noch einmal den (mathematischen) Farn in Bild 4. Man erkennt, daß die zweite der vier zugehörigen Transformationen nur sehr wenig verkleinernd wirkt (a11 und a22 sind nur geringfügig kleiner als 1). Wenn man mit einem Rechteck beginnt, müssen nun bei jeder Anwendung der Transformationen von jedem schon vorhandenen Rechteck vier Verkleinerungen gezeichnet werden; die Zahl der Rechtecke wächst also von Kopie zu Kopie um das Vierfache bis auf 4m, wenn die Transformation m-mal angewendet wird.

Um zu erreichen, daß die Rechtecke, die im vierten Schritt noch sehr deutlich sind, so klein werden, daß das Limesbild (unten in Bild 4) sichtbar wird, müßte man vielleicht 50mal iterieren und 450 — das sind ungefähr 1030 — Rechtecke berechnen und zeichnen. Diese Aufgabe würde jeden Rechner überfordern.

Wie also sind die Limesbilder in Bild 4 (Farn und Blatt) entstanden? Mit einem Algorithmus, den wir das Chaos-Spiel nennen wollen.

Dazu stelle man sich einen Würfel vor, mit dem — entsprechend der Anzahl der Transformationen in Bild 4 — die Zahlen 1 bis 4 ausgewürfelt werden (der Würfel müßte die Gestalt eines Tetraeders haben). Zu Beginn des Spiels wählen wir einen beliebigen Punkt der Ebene und markieren ihn. Nun würfeln wir, ziehen also zufällig eine der Transformationen f1,..., f4 und wenden sie auf den markierten Punkt an. Das Resultat ist ein neuer Punkt der Ebene. Wir würfeln erneut und wenden die zugehörige Transformation auf den zuvor erhaltenen Punkt an und so fort.

Man kann nun zeigen, daß (mit Wahrscheinlichkeit 1) die so erzeugte Folge von Punkten das Limesbild dicht ausfüllt und daß das zustande kommende (Schwarzweiß-)Bild weder von der konkreten Reihenfolge der Würfe noch vom jeweils verwendeten Würfel, also den für die Ziehung der fk gewählten Wahrscheinlichkeiten, abhängt. (Freilich muß sich das Spiel erst auf das Limesbild einpendeln; deshalb läßt man die ersten — vielleicht 100 — Punkte der Folge einfach weg.) Allerdings kann man das Limesbild schneller erhalten, wenn man die fk nicht zufällig mit gleichen Wahrscheinlichkeiten auswählt.

Mit anderen Worten, man kann jeder Verkleinerungstransformation — oder Kontraktion — fk eine Wahrscheinlichkeit Pk zuordnen, mit der sie im Chaos-Spiel gezogen wird. Durch diese Erweiterung läßt sich erreichen, daß die Folge von Punkten des Chaos-Spiels jeden Punkt des Limesbilds im Mittel gleich häufig trifft. Das heißt, die Erzeugung des Bildes wird erheblich beschleunigt, wenn man den weniger kontrahierenden fk eine größere Wahrscheinlichkeit Pk zuordnet.

Dieser Ansatz erlaubt aber auch die Beschreibung von Halbtonbildern, indem die Häufigkeit, mit der ein Bildpunkt getroffen wird, durch einen entsprechenden Grauwert kodiert wird. Durch geeignete Wahl der Pk läßt sich tatsächlich für jeden Bildpunkt ein gewünschter Grauwert, daß heißt die gewünschte Häufigkeit, einstellen. Indem man diese Technik für Grundfarben (Rot, Grün, Blau) anwendet, kann man Farbbilder kodieren.

Ist es nun reiner Zufall, wenn Limesbilder wie in den Bildern 4 und 5 so gut gelingen, oder gibt es ein Rezept, mit dem sich ein vorgegebenes Bild mit Hilfe eines geeignet gewählten Satzes von Transformationen fk kodieren läßt?

Tatsächlich gibt es ein solches Rezept, das für einfache (nahezu selbstähnliche) Strukturen eine weitgehend befriedigende Lösung des Kodierungs-Problems liefert, wenngleich sich daraus kein automatischer Computeralgorithmus entwickeln läßt. Die Idee des Rezeptes: Gegeben sei ein Bild, das kodiert werden soll. Gesucht wird eine Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Maschine, die ein Limesbild liefert, welches möglichst gut mit der gegebenen Bildvorlage übereinstimmt. Wählt man nun (zum Beispiel durch interaktives Probieren auf einem Graphikbildschirm) die Transformationen f1,...,fn derart, daß einmaliges Anwenden der Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Maschine auf die Vorlage diese nur geringfügig verändert, dann wird auch das zu f1,...,fn gehörige Limesbild gut mit der Vorlage übereinstimmen. Das so ermittelte Rezept läßt sich nun (wie wir ja bereits wissen) mit demselben Resultat auf jedes beliebige Anfangsbild anwenden.

Nicht fraktale Dialekte: Julia-Mengen und Mandebrot-Menge

Gibt es im wesentlichen nur einen linearen Dialekt unserer Sprache für komplexe Strukturen, so ist die Zahl der nichtlinearen Dialekte selbst unendlich groß. Einer davon ist allerdings be-sonders prominent und auf besondere Weise mathematisch ausgezeichnet. Wir wollen ihn den quadratischen Dialekt nennen. Dieser Dialekt hängt sehr eng mit der aktuellen Chaos-Theorie zusammen, und seine Elemente lassen sich aus einer einfachen mathematischen Gleichung gewinnen.

Die Wurzeln der zugehörigen mathematischen Theorie reichen zurück bis zu einem neuerdings vielbeachteten Meisterwerk des französischen Mathematikers Gaston Julia (1893 bis 1978), das er 1918 als Kriegsverletzter in einem Lazarett geschrieben hat. Seine und auch die zeitparallelen Arbeiten seines heftigsten Konkurrenten Pierre Fatou (1878 bis 1929) gerieten jedoch bald in Vergessenheit und wurden erst durch das Werk Mandelbrots wieder populär. Die geistige Leistung Julias und Fatous ist um so höher einzuschätzen, als sie noch nicht den Computer als Darstellungsmittel für ihre Objekte zur Verfügung hatten, sondern sich allein auf ihr Vorstellungsvermögen stützen mußten.

Julia und Fatou befaßten sich mit der Frage, was mit einem Punkt z in der komplexen Zahlenebene geschieht, auf den man wiederholt (iterativ) die Transformation g(z) = z2 + c anwendet (siehe auch Computer-Kurzweil, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989 sowie Ok-tober 1985 und Februar 1988; die Computer-Kurzweil in diesem Heft befaßt sich mit der entsprechenden Frage für andere Transformationen der komplexen Ebene). Die komplexe Zahl c ist dabei ein Kontrollparameter (c soll an das englische control erinnern), über den man noch verfügen kann. In einfachen Fällen streben Punkte in der Nähe des Nullpunkts unter der Iteration von g gegen einen bestimmten Punkt – einen Fixpunkt der Abbildung g –, während weiter außerhalb gelegene Punkte ins Unendliche streben. Beide Sorten von Punkten bilden je ein Gebiet; dazwischen liegt ein unendlich schmaler Rand, der heute als Julia-Menge bezeichnet wird. Unter der Iteration von g streben die Punkte beider Gebiete – nach innen oder nach außen – von der Julia-Menge weg.

Um die Julia-Menge zu finden, kann man versuchen, den Prozeß des Wegstrebens umzukehren und sich auf diese Weise der Julia-Menge zu nähern. Dazubietet es sich an, eine Transformation zu verwenden, die den Effekt von g gerade umkehrt (invertiert): Unter der inversen Iteration nämlich werden beliebig gewählte Punkte von innen oder außen auf die Julia-Menge zustreben.

Das gilt selbst in dem allgemeinen Fall, daß die Julia-Menge nicht immer als Grenzlinie zweier Gebiete verschiedenen Iterationsverhaltens beschreibbar ist. Mehr noch: So ergibt sich die Grundlage für die inverse Iterationsmethode (IIM), die sich als die quadratische Sprache unserer fraktalen Sprachfamilie entpuppt.

Die Umkehrung von g(z) = z2 + c besteht (da es für komplexe wie für reelle Zahlen zwei Quadratwurzeln mit entgegengesetzten Vorzeichen gibt) aus den zwei Abbildungen f1(u) = + \( \sqrt{u-c} \) und f2(u) = + \( \sqrt{u-c} \). Diese nichtlinearen Transformationen bauen wir in unsere Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Maschine ein. Bild 5 zeigt ihre Wirkung für drei verschiedene Parameter c. Wegen der Nichtlinearität werden im allgemeinen gerade Linien auf krumme abgebildet. Aus einem Anfangsbild entstehen zunächst zwei kleinere Bilder, dann vier, dann acht, bis allmählich ein Limesbild Gestalt annimmt. Wie im linearen Fall hängt das Limesbild nicht vom Anfangsbild ab, sondern ist durch f1 und f2 beziehungsweise den Parameter c vollständig bestimmt.

Bis hierher haben wir gewissermaßen gelernt, in zwei fraktalen Dialekten zu sprechen: einem linearen und einem quadratischen. Wir kommen nun zu einer der schwierigsten und gleichzeitig faszinierendsten Fragen der fraktalen Geometrie. In der Metapher von Sprachen können wir sie so formulieren: Gibt es für die fraktalen Dialekte allgemeine Beziehungen zwischen den Grammatikregeln? Und wie sehen diese Beziehungen aus?

Mathematisch genauer lautet die Frage: Gibt es ein Ordnungsprinzip in der unendlichen Vielfalt der Julia-Mengen?

Die Antwort führt uns zu einer der schönsten Entdeckungen der Mathematik. Der Ansatz zur Lösung liegt in der im Prinzip schon Julia und Fatou bekannten Tatsache, daß für jeden Kontrollparameter c das resultierende Bild durch einen der beiden folgenden Fälle erfaßt ist:

  • Die Julia-Menge ist zusammenhängend, das heißt buchstäblich in einem Stück.
  • Die Julia-Menge ist gleichsam eine Staubwolke aus unendlich vielen Punkten (eine sogenannte Cantor-Menge).

Damit können wir die Mandelbrot-Menge einführen. Sie ist definiert als die Menge aller Punkte c in der komplexen Ebene, die (als Kontrollparameter) zu einer zusammenhängenden Julia-Menge gehören. Das heißt, man erhält ein computergraphisches Bild der Mandelbrot-Menge, wenn man für jeden c-Wert, für den die zugehörige Julia-Menge zusammenhängend ist, einen schwarzen Punkt setzt.

Wie aber entscheidet man, ob die erste oder zweite Alternative gilt? Die Antwort ist wieder dem Meisterwerk Julias zu verdanken. Es reicht nämlich, das Limesverhalten der Iterationsfolge von g(z) =z2 + c für einen einzigen Anfangswert, den kritischen Punkt z = 0, zu prüfen. Das Limesbild zu c ist genau dann zusammenhängend, wenn die Iterationsfolge dieser Punkte 0, c, c2 + c, (c2 + c)2 + c und so weiter nicht über alle Schranken wächst.

In Bild 1 läßt sich schon erkennen, daß die Mandelbrot-Menge ein kompliziertes Gebilde ist, aber ihren unendlichen Reichtum von Formen und Strukturen kann man erst ermessen, wenn man sie im Detail inspiziert. Bild 6 zeigt sieben fortgesetzte Vergrößerungen vom Rand der Mandelbrot-Menge, wobei der Vergrößerungsfaktor des letztes Bildes in dieser Serie gegenüber der Totalen im ersten Bild ungefähr 107 beträgt.

Jeder Teil der Mandelbrot-Menge kennzeichnet eine Verwandtschaftsbeziehung. Zum Beispiel kennzeichnet der herzförmige zentrale Hauptkörper der Mandelbrot-Menge lauter Julia-Mengen, die aussehen wie leicht deformierte (bis stark verkrumpelte) Kreise. Obwohl die Mandelbrot-Menge nicht exakt selbstähnlich ist wie die vorne gezeigten Farne und Koch-Kurven, hat sie eine analoge Eigenschaft: Bei genügend starker Vergrößerung kann man am Rand der Mandelbrot-Menge unendlich viele winzige Kopien der Menge selbst entdecken.

Die sicherlich faszinierendste Eigenschaft der Mandelbrot-Menge ist, daß man sie als unendlich effizienten Bildspeicher auffassen kann. Denn die Mandelbrot-Menge klassifiziert Julia-Mengen nicht nur in zusammenhängende und unzusammenhängende – sie ist auch ein direktes bildhaftes Inhaltsverzeichnis unendlich vieler verschiedener Julia-Mengen.

Die mathematische Präzisierung dieses Befundes ist noch nicht völlig abgeschlossen; aber schon jetzt weiß man dank der bemerkenswerten Arbeit der jungen chinesischen Mathematikerin Tan Lei ziemlich erschöpfend darüber Bescheid. Dieser Sachverhalt ist in Bild 7 für wenigstens einen Punkt des Inhaltsverzeichnisses angedeutet.

Zufällige Fraktale

Alle bisher diskutierten Fraktale können als deterministisch angesehen werden, da der Zufall bei ihrer Erzeugung keine Rolle spielte. Auch die Fraktale, die mit dem Chaos-Spiel erzeugt werden, sind deterministisch. Die zufällige Wahl der Verkleinerungen ist nur ein technisches Hilfsmittel, um das Bild möglichst effizient zu erzeugen; das Limesbild selbst ist von der Wahl der Wahrscheinlichkeiten unabhängig. Bei den sogenannten zufälligen Fraktalen, die wir noch streifen möchten, ist das ganz anders.

Wir wollen uns im folgenden damit begnügen, kurz eine beispielhafte Konstruktion aus einem großen Ensemble vorzustellen (Bild 8). Man beginnt mit einem Dreieck in einer waagerechten Ebene und markiert die Mittelpunkte seiner Seiten. Diese Mittelpunkte werden nun senkrecht zur Dreieckfläche um einen zufällig gewählten Betrag nach oben oder unten verschoben. Die so erhaltenen Punkte bilden mit den alten Eckpunkten des Dreiecks vier klei-nere Dreiecke, auf die man nun die gleiche Modifikation anwendet, und so weiter.

Bei diesem Mittelpunktverschiebungsverfahren (midpoint displacement method) hängen die Beträge, um die angehoben beziehungsweise abgesenkt wird, von einem Verteilungsgesetz ab, das je nach der zu modellierenden Fläche für eine gute Näherung des Limesbildes angepaßt wird. Soll die Fläche beispielsweise relativ glatt erscheinen, so wird man für die Transformationen ein Gesetz annehmen, bei dem die Beträge der Mittelpunktverschiebungen nach wenigen Iterationen bereits sehr klein werden (Bild 8 unten links), während es etwa für die Darstellung eines jungen Gebirges sinnvoll scheint, die Beträge mit jedem Iterationsschritt relativ langsam abfallen zu lassen (rechts). Offenkundig bleibt die Wahl des Zufallsgesetzes bei dieser Konstruktion sichtbar; es prägt die Gestalt der Fläche.

Dieses Prinzip läßt sich vielfältig variieren. Inzwischen hat man es unter anderem angewandt, um Erosionsgesetzte für Gebirge zu modellieren oder Daten von Erdbeben im Hinblick auf die Veränderungen in Bruchzonen zu untersuchen. Richard F. Voss, ein Kollege Mandelbrots am IBM-Forschungszentrum, hat mit diesen Ideen Modelle von Planeten, Monden, Wolken und Gebirgen erzeugt, die der Wirklichkeit täuschend nahekommen.

L-Systeme

Eine mit diesem Ansatz verwandte Methode mit einer deterministischen Variante hat der Biologe Aristid Lindenmayer 1968 für die Beschreibung von Pflanzenformen entwickelt. Sie führt uns auf eine besondere Klasse von Fraktalen, die nach Lindenmayer benannten L-Systeme, welche die Analogie zu den natürlichen Sprachen besonders nahelegen. Auch sie arbeiten mit Folgen, die aus Symbolen wie den Buchstaben des Alphabets und Sonderzeichen wie + oder — bestehen, sowie mit Ersetzungsregeln. So wie die Mehrfach-Verkleinerungs-Kopier-Maschine aus jedem Bild nach bestimmten Regeln n neue macht, definieren diese Regeln eine Transformation einer Symbolfolge in eine neue Folge, indem sie jedes in der Folge vorkommende Symbol durch eine Kette von Symbolen (aus dem gleichen Vorrat) ersetzen.

Erst in einem zweiten Schritt erfahren die Symbolfolgen eine geometrische Interpretation: Nach dem Vorbild von Seymour Paperts Schildkrötengeometrie (siehe Computer-Kurzweil, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1984) wird jedes Symbol in eine Bewegungsanweisung an eine über den Bildschirm wandernde gedachte Schildkröte umgesetzt. Es könnte etwaF ein Stück geradliniger Bewegung nach vorne, + eine Wendung um 60 Grad nach rechts und — eine gleich große Wendung nach links bezeichnen.

Als Beispiel sei zu Beginn das Ausgangssymbol A zusammen mit den beiden Ersetzungsregeln A —> B und B —> AB gegeben; das heißt, in diesem L-System werden Symbole A durch B ersetzt und Symbole B durch AB. Verfolgen wir nun die Aktion des L-Systems: In der ersten Stufe wird das Ausgangssymbol A, auch Axiom genannt, nach der ersten Ersetzungsregel durch B ersetzt. Bei der zweiten Anwendung des System erhalten wir gemäß der zweiten Ersetzungsregel AB, also eine Folge von zwei Symbolen. Als die ersten Symbolfolgen ergeben sich

A,
B,
AB,
BAB,
ABBAB,
BABABBAB,
ABBABBABABBAB,
BABABBABABBABBABABBAB

und so weiter. Die Länge der so erzeugten Symbolfolgen wächst schnell, so daß sie schon nach der achten Stufe nicht mehr auf eine Zeile passen. In der Tat ergeben sich die Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34... als jeweilige Länge der generierten Symbolfolgen. Diese Zahlenfolge ist unter dem Namen Fibonacci-Folge bekannt: Jedes Glied ist gleich der Summe der beiden Vorgängerglieder.

Was hat dies mit Fraktalen zu tun? Die Antwort wird schnell klar, wenn wir das durch das Axiom F und die Ersetzungsregeln

F —> F-F++F-F
+ —> +
– —> -

gegebene L-System studieren und mit der oben angegebenen geometrischen Interpretation versehen: Das Symbol F werde umgesetzt in eine Stück Linie vorwärts, während + und — eine Drehung um 60 Grad im Uhrzeigersinn beziehungsweise gegen den Uhrzeigersinn bedeuten. Dem Axiom F entspricht demnach einfach eine Strecke, während nach der ersten Ersetzung F-F++F—F als ein Streckenzug aus vier Linien interpretiert wird. Die nächste Stufe ist durch

F-F++F-F-F-F++F-F++F-F++F-F-F-F+ +F-F

gegeben (Bild 9). Offensichtlich erzeugt das L-System eine Folge von Bildern, die unter geeigneter Skalierung der Linienlänge von F gegen ein Limesbild konvergiert: die Koch-Kurve. Somit ist das L-System, bestehend aus dem Axiom und den drei einfachen Ersetzungsregeln, eine extrem kompakte Kodierung der Kochschen Schneeflockenkurve.

Auch andere selbstähnliche Strukturen lassen sich als L-Systeme kodieren. Zum Beispiel ergibt sich das Sierpinski-Dreieck aus dem Axiom F und den Ersetzungsvorschriften

F —> F- -F- -F- -ff
f —> ff
+ —> +
– —> -

Die graphische Interpretation erfolgt wie bei der Koch-Kurve; auf die Anweisung f vollführt die Schildkröte die gleiche Bewegung wie auf die Anweisung F, ohne jedoch eine sichtbare Spur zu hinterlassen.

Die wichtigste Anwendung der L-Systeme sind nicht die klassischen Fraktale, sondern Modellierungen von Blumen, Büschen und Bäumen, allgemein Pflanzen, bei denen Verzweigungen eine wichtige Rolle spielen. So ist es inzwischen der Forschungsgruppe von Przemyslaw Prusinkiewicz aus Regina in Kanada in Zusammenarbeit mit Lindenmayer gelungen, mit L-Systemen überzeugende Farbgraphiken von blühenden Apfelbäumen, Fliederbüschen und anderen Pflanzen zu erzeugen (Bild 10), wobei insbesondere die Wachstumsprozesse berücksichtigt sind.

Fraktale Dimension

Die zentrale Eigenschaft der Fraktale ist ihre ungewöhnliche Dimension. Unabhängig davon, ob man L-Systeme oder iterierte geometrische Abbildun gen betrachtet, lassen sich die fraktalen Limesbilder mit einer natürlichen Verallgemeinerung des vertrauten Begriffs der Raumdimension beschreiben.

Es gibt verschiedene Begriffsdefinitionen zur fraktalen Dimension, die allerdings alle mehr oder weniger auf eine Arbeit von Felix Hausdorff (1868 bis 1942) aus dem Jahre 1919 zurückgehen. Hausdorff war Mathematiker und Schriftsteller, der außer Arbeiten über metrische Räume und deren axiomatische Grundlage unter dem Pseudonym P. Mongre Gedichte und Aphorismen veröffentlichte. Er kam 1942 zusammen mit seiner Frau seiner Deportation durch Selbstmord zuvor – wie viele von den Nationalsozialisten verfolgte Juden. Von ihm stammt der Begriff der Hausdorff-Dimension, den wir nun – Mandelbrot folgend – in vereinfachter Form vorstellen wollen.

Zunächst betrachten wir vertraute Objekte – Strecke, Quadrat und Würfel – mit den herkömmlichen topologischen Dimensionen 1,2, und 3. Jedes unterteilen wir regelmäßig und stellen eine Beziehung zwischen der Anzahl a der Einteilungen und dem Skalierungsfaktor s her, der jedes Teil in das Ganze überführt (Bild 11).

Da die Skalierungen für jede Dimension mit dem Skalierungsfaktor s = 3 verknüpft sind, ergibt sich ein Potenzgesetz vom Typ a = sD, in dem D als Dimension auftritt. Löst man diese Gleichung (durch Logarithmieren) nach D auf, so ergibt sich die Dimension als Quotient zweier Logarithmen: D = log a/log.s. Interessant an dieser Gleichung ist, daß sich die Dimension nicht nur für n-dimensionale Räume und Elemente der euklidischen Geometrie definieren läßt, sondern auch für alle selbstähnlichen Objekte.

In Bild 12 ist dies für eine spezielle Cantor-Menge, die Koch-Kurve, das Sierpinski-Dreieck und schließlich eine flächenfüllende Kurve vorgeführt, die als Peano-Kurve bezeichnet wird. Wie die Tabelle zeigt, ergibt sich für die Mehrzahl der schon als fraktal bezeichnten Objekte eine gebrochene Dimension. Dies ist der Grund für die Namensgebung, die Mandelbrot in den siebziger Jahren mit Bezug auf das englische Wort für Bruch,fraction, und das lateinische Verb für brechen, frangere, eingeführt hat.

Klar ist, daß man die einfache Beziehung zwischen a und s in diesen Beispielen nur deshalb so problemlos herzustellen vermag, weil die Objekte alle selbstähnlich sind, das heißt, weil jeder noch so kleine (geeignet gewählte) Teil des Objekts nach richtiger Skalierung wieder das Ganze bilden kann. Damit ist praktisch der Nutzen der Dimension D, die man Selbstähnlichkeits-Dimension nennen könnte, schon erschöpft. Allerdings motiviert die Beziehung log a/log s die folgende, sonst recht willkürlich anmutende Definition einer fraktalen Dimension.

Eine Menge (die wir uns der Einfachheit halber als Teilmenge der Ebene vorstellen, zum Beispiel ein aus Punkten zusammengesetztes Bild) sei zu diesem Zweck mit einem Gitter von Quadraten überdeckt, also etwa auf Karooder Millimeterpapier gezeichnet (Bild 13 oben). Wir zählen nun die Quadrate, die einen Teil der Menge enthalten, und ignorieren die leeren. Die Anzahl Ader nicht leeren Quadrate hängt natürlich von der vorgegebenen Menge und der Maschen weite ε des Gitters ab. Zwischen ε und der Überdeckungszahl N setzt man als Beziehung ein Potenzgesetz an: N = C/εD

Wenn wir das Auszählen für Gitter mit verschiedenen Maschenweiten durchführen und jedes Ergebnis als Punkt auf doppeltlogarithmischem Papier auftragen, so ergibt sich, daß diese Punkte näherungsweise auf einer Geraden liegen. Dies bestätigt zunächst die Richtigkeit des angesetzten Potenzgesetzes; der darin enthaltene Exponent D läßt sich als die Steigung dieser Geraden ermitteln und wird als fraktale Dimension bezeichnet.

Das Verfahren läßt sich nicht nur auf mathematische Objekte anwenden. Vielmehr kann man damit auch bei höchst realen Objekten wie Flußsystemen, Wolken, Küstenlinien, Bäumen, Farnen, Arterien oder den Zotten der Darmwände die jeweilige fraktale Dimension bestimmen. Zum Beispiel ist der Raum, den die Arterien des Menschen einnehmen, 2,7dimensional.

Schlußbemerkung

Obwohl wir uns in diesem Artikel mit einer auch für Mathematiker noch ganz neuen und in vielen Fragen höchst komplizierten Materie beschäftigt haben, konnten wir unsere Darstellung auf einige wenige anschauliche Konzepte bauen. Hierin liegt übrigens eine enor-me Chance für den Mathematikunterricht an Schulen, zumal die fraktale Geometrie aufgrund ihrer ästhetischen Reize gerade auch Schüler zu motivieren vermag (auf entsprechendes Unterrichtsmaterial – allerdings in englischer Sprache – ist im Literaturver-zeichnis verwiesen). Was Mathematiker und Naturwissenschaftler an den Fraktalen faszinieren könnte, beschreibt Mandelbrot in seinem Buch so:

»Die Naturwissenschaftler werden (sicherlich) überrascht und erfreut sein, daß sie zukünftig solche Formen qualitativ streng untersuchen können, die sie bisher faltig, gewunden, körnig, picklig, pockennarbig, polypenförmig, schlängelnd, seltsam, tangartig, verzweigt, wirr, wuschelig genannt haben. Die Mathematiker werden (hoffenlich) überrascht und erfreut sein, daß Mengen, die bisher als Ausnahmemengen galten, in gewissem Sinne die Regel sind, daß sich scheinbar pathologische Konstruktionen auf natürliche Weise aus sehr konkreten Problemen ergeben und daß das Studium der Natur alte Probleme lösen hilft und so viele neue aufwirft.«

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Wenn Mathematiker zu Fliesenlegern werden, sind fantasievolle Muster vorprogrammiert. Und natürlich stecken dahinter ausgeklügelte Regeln.

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