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Geheimnisvoller Kosmos Gehirn


Mit einem Gewicht von weniger als eineinhalb Kilogramm ist das Gehirn des Menschen dennoch ein Kosmos: rund 100 Milliarden Nervenzellen, die über Billionen von informationellen Kontaktstellen – Synapsen – zu einem gigantischen Netzwerk verschaltet sind. Hunderte Milliarden Gliazellen betten die Neuronen ein; sie sind nicht einfach Stützsubstanz, wie man bis vor etlichen Jahren glaubte, sondern in noch wenig bekannter Weise an der Informationsverarbeitung der Nervenzellen beteiligt. Hinzu kommen ineinander verschränkte, sich immerfort ändernde elektrische, magnetische und chemische Felder, Signale, die sich in Nano- oder Millisekundenschnelle in den Zellen und zwischen ihnen ausbreiten. Ein Kopfnicken, die Regulation der Hormonspiegel im Blut, ein Sinneseindruck, Liebe und Haß, Ich-Bewußtsein, ein Traum, ein Wort, ein philosophisches Konstrukt – das alles und vieles mehr ist Hirnleistung, ist Fähigkeit jenes Kosmos, den wir im Schädel mit uns herumtragen und der sich anschickt, sich selbst zu ergründen.

Zwei prinzipielle Zugangswege tun sich dabei auf: die Betrachtung der Hirnstrukturen und -mechanismen von außen, wie sie für den Naturwissenschaftler typisch ist, und der Blick von innen, von der Erlebnisseite her, so wie Psychologen vorgehen.

Die Autoren machen den Leser mit beiden Aspekten der Hirntätigkeit bekannt. Um die höhere Hirnleistung geht es ihnen im besonderen; molekulare und zelluläre Mechanismen bleiben am Rande. Der Psychologe Ernst Pöppel, lange Zeit Chef des Münchener Instituts für Medizinische Psychologie, seit 1992 im Forschungszentrum Jülich, ist ausgewiesen durch originäre Untersuchungen zu naturwissenschaftlichen und medizinischen Aspekten seines Fachgebietes sowie zahlreiche Bücher und Schriften der erläuternden Art. Die Wissenschaftsjournalistin Anna-Lydia Edingshaus war lange Jahre Leiterin eines Redaktionsbüros und gleichzeitig Vorsitzende der Wissenschafts-Pressekonferenz in Bonn.

Viele Anstrengungen sind bereits unternommen worden, die Erforschung der höheren Hirnleistungen populär zu machen. Pöppel und Anna-Lydia Edingshaus versuchen das auf ihre Weise. Wo immer der Leser das Buch aufschlägt (er muß es durchaus nicht von vorn beginnen), wird er sich vom essayistischen Schwung mitreißen lassen, mit dem er aus der Sicht des Psychologen und Hirnforschers unterrichtet und unterhalten wird – über Lust und Schmerz, Wahrnehmung und Wahrnehmungstäuschung, Zeitebenen, Bewußtseinsebenen, interne Störfälle, Denkwerkzeuge, Kreativität.

Der Philosoph ist regelmäßig zur Stelle, wenn es um das Ganze geht. Beispielsweise stufen die Autoren das Leib-Seele-Problem mit Bertrand Russell als ein eher linguistisches ein. Die Seele sei ein abstraktes Konzept, ein Begriff nur, dem ebensowenig eine eigenständige Existenz zukomme wie etwa "dem" Stuhl oder "dem" Buch: "Durch Abtrennung des Begriffs vom gesprochenen Wort und durch seine schriftliche Fixierung wird uns vorgegaukelt, daß es Bewußtsein im eigentlichen Sinne des Wortes gäbe. Die Hirnforschung könnte sich so dazu verführen lassen, nach dem Sitz der Seele zu suchen."

Und dennoch, was "das" nun eigentlich ist, was wir über den inneren Zugangsweg aus unserem neuronalen Kosmos auf eine so eigenartig direkte und bislang völlig ungeklärte Weise erlebend erfahren können, bleibt offen, so vertraut uns allen die Tatsache selbst auch ist. Es geht um den subjektiven Bezug zu den neurophysiologischen Zustandsformen unseres Gehirns, die im einzelnen durchaus und mit stetig wachsendem methodischem Raffinement womöglich grenzenlos objektivierbar sind. Schon so mancher hat den "Weltknoten", wie Arthur Schopenhauer im vorigen Jahrhundert das Leib-Seele-Problem nannte, mit Wortgewalt durchhauen, keiner aber hat ihn je gelöst. Vielleicht haben wir es hier mit einer unserer prinzipiellen Erkenntnisgrenzen zu tun. Indes, darüber nachzulesen und mit den Autoren nachzudenken macht Spaß.

"Die Künste und das Gehirn: Der Mensch als Schöpfer" lautet die Überschrift des letzten der insgesamt 13 Kapitel. Zeitliche Grundmuster, wie sie im Gehirn entstehen, begegnen uns hier als Gestaltungselemente in Musik und Dichtkunst. Auf vitale Zwecke abzielende Emotionen und Sinnesfunktionen, hirneigene Basismechanismen also, werden als Ur-Sachen ästhetischen Empfindens und Gestaltens begriffen. Trivial vielleicht; andererseits lassen oft selbst die ausführlichsten kunstwissenschaftlichen Erörterungen naturwissenschaftliche Erkenntnisse weit außen vor. Der Mensch aber ist auch und ganz wesentlich Naturprodukt, sein Gehirn desgleichen; und deshalb, so das Credo der Autoren, sind wir uns nur wirklich verständlich, wenn der naturwissenschaftliche (inklusive neuropsychologische) Aspekt gehörig berücksichtigt wird.

Offensichtlich haben Ernst Pöppel und Anna-Lydia Edingshaus in ihrer Absicht, anschaulich zu bleiben, zu vereinfachen und sich dennoch korrekt auszudrücken, so manche Probleme bewältigen müssen. Man solle alles so einfach wie möglich darstellen, riet Albert Einstein, der sich im populärwissenschaftlichen Terrain auskannte – aber nicht einfacher. Das vorliegende Buch gehört zu den gelungenen Beispielen.

Die 31 Abbildungen, sämtlich farbig und in zwei Tafelteilen zusammengestellt, sind von der plakativen Art, Blickfang, kaum mehr. Der Text wäre leicht ohne sie ausgekommen.

Ursprünglich als Begleitpublikation für eine gleichnamige siebenteilige Fernsehserie des Senders 3sat gedacht, ist ein völlig eigenständiges Werk entstanden. Alles in allem ein schönes, ein lesenswertes Buch.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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