Direkt zum Inhalt

Geist, Gehirn, Maschine. Philosophische Versuche über ihren Zusammenhang

Reclam, Stuttgart 1994.
176 Seiten, DM 8,-.

Es ist sicherlich ein spannendes Thema, mit dem sich der Paderborner Philosoph Holm Tetens in dem schmalen Bändchen befaßt. Die Frage, was der "Geist" mit dem Körper zu tun hat, wo und wie das Bewußtsein in oder auch mit unserem Körper arbeitet, treibt zumindest Philosophen schon seit Jahrhunderten um (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1992, Seite 48). Die Neurowissenschaften und die Forschung zur künstlichen Intelligenz (KI) bringen als neue Disziplinen in jüngster Zeit handfeste Ergebnisse in die Diskussion ein.

Seit der Philosoph und Mathematiker René Descartes (1596 bis 1650) in der Zirbeldrüse den Sitz von "Lebensgeistern" vermutete, welche er als Mittler zwischen Körperlichem und Geistigem sah, hat die Auffassung, Mentales sei grundsätzlich von Physischem verschieden, Tradition; es fanden sich immer wieder eifrige Verfechter dafür. Diesem Dualismus steht der Materialismus entgegen, der im Geist kein magisches "inneres Licht" sieht, sondern menschliches Verhalten letztlich auf neurokybernetisch-physikalische Erklärungsschemata zurückführen will.

Beide Positionen haben ihre Probleme: Der Dualismus kommt nicht umhin, irgendwelche mystischen Wechselwirkungen zwischen physikalischer und geistiger Welt zu postulieren – die Lebensgeister des Descartes waren eine erste, heute aber wohl nur noch historisch interessante These. Der Materialismus wiederum kann wenig darüber sagen, warum wir als physikalisch funktionierende Maschinen überhaupt den Eindruck haben müssen, etwas bewußt zu erleben; denn genau das ist im Kontext des Materialismus schlicht entbehrlich.

Tetens versucht, den Leser in dieses Spannungsfeld verschiedener philosophischer Ideen und Ansätze einzuführen, und entwickelt dabei erfrischenderweise eine gewisse Pragmatik, die manchem anderen Vertreter der Zunft gut anstehen würde. Für ihn ist Philosophie "eine Übung in tolerantem, weltoffenem Umgang mit Pluralität". Insofern darf der Leser keine endgültigen Antworten auf die angeführten schwergewichtigen Fragen erwarten. Doch einige Vorschläge präsentiert der Autor schon. Dabei geht er insbesondere auf die Herausforderungen der beiden genannten neuen Wissenschaftsdiziplinen ein.

Wie Tetens erläutert, sind wir es gewohnt, uns selber und anderen Menschen Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Vorstellungen, Wünsche und auch Absichten zuzuschreiben. Mit Hilfe dieser alltagspsychologischen Beschreibungen können wir die eigenen und die Handlungen anderer Menschen kausal begründen oder vorhersagen. Es ist diese durch soziale Interaktion gelernte alltagspsychologische Beschreibungssprache, mit der wir das Verhalten von Individuen erfassen, die wir selber für bewußt halten.

Tetens argumentiert nun zwingend, daß sich alltagspsychologische Beschreibungen und neurokybernetische Modellierungen in ihren Erklärungsgrenzen weitestgehend entsprechen. Nur kommen letztere ohne die These bewußten Erlebens aus.

Damit wird aber, so Tetens, die externe Zuschreibung von Bewußtsein – sei es zu anderen Menschen, zu Tieren oder auch Maschinen – beliebig und eine individuelle Ermessenssache. Aus dieser Sicht fällt auch die Herausforderung der KI an die Philosophie des Geistes in sich zusammen: Ob wir künstlichen Systemen, selbst wenn diese sich sehr ähnlich uns Menschen verhalten, ein Bewußtsein zugestehen oder nicht, bleibt eben bestenfalls Ermessenssache.

Ein anderes Rätsel des Bewußtseins, das uns allen gegenwärtige, unmittelbare Erleben unseres eigenen Ichs, wird im Text nicht ganz so stichhaltig ausdiskutiert. Warum wir überhaupt etwas erleben, obwohl wir uns doch sehr wohl als neurokybernetische Maschinen sehen könnten, die ohne dieses "innere Licht" namens Bewußtsein auskommen – diese Frage löst auch Tetens nicht. Sein pragmatischer Ansatz ist, daß wir dieses Konzept von Bewußtsein für ein Erklärungsmodell menschlichen Verhaltens nicht brauchen, es also auch keinen Erkenntnisgewinn einbringt, sich damit zu befassen. Nur gibt es – etwa in unserem visuellen System – extrem komplexe Verarbeitungsschritte, die völlig unbewußt ablaufen, während andere Prozesse wiederum von unmittelbarem bewußtem Erleben begleitet werden. Ist dieser Unterschied wirklich so belanglos, daß die Beschäftigung mit ihm keinen Erkenntnisgewinn verspricht?

Holm Tetens schreibt erfrischend und präzise. Da stören einige sehr mathematisch-formal ausgefallene Textstellen nur wenig. Alles in allem regt der Text den Leser zu eigenen Gedanken an und verführt dazu, sich weiter in dieses klassische Themengebiet zu vertiefen. Format und Preis machen die "Philosophischen Versuche" sicherlich zu einem angenehmen Reisebegleiter in einem hoffentlich ruhigen Zugabteil.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.