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Grundzüge der modernen Naturphilosophie. Ein kritischer Gesamtentwurf

Josef Knecht, Frankfurt am Main 1994.
424 Seiten, DM 49,-.

Der Autor, Professor für Naturphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main, hat sich das Ziel gesetzt, eine umfassende Darstellung der heute aktuellen naturphilosophischen Probleme und Lösungsansätze zu liefern. Seine Auffassung von Naturphilosophie ist dabei primär ontologisch orientiert, das heißt, sie "fragt nach dem Sein der Welt" (Seite 11). Für Koltermann bedeutet diese Ausrichtung die Autonomie der philosophischen Fragestellung gegenüber den Aussagen der Naturwissenschaft: Er will eine philosophische Lehre von der Natur begründen, die sich mit jenen Fragen befaßt, welche die Naturwissenschaft unbeantwortet läßt, wie Anfang und Ende des Kosmos, Unterschied von Mensch und Tier, Verhältnis von Geist und Gehirn. Er bemüht sich um eine scharfe kategoriale Abgrenzung der Erkenntnisziele von Philosophie und Wissenschaft. Naturphilosophisches Fragen beginnt nach Koltermann beim einschlägigen faktischen Wissen, überschreitet dies dann aber philosophisch. Wenn die physikalische Kosmologie etwa die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Raumzeit empirisch bestätigt hat, sollte der Philosoph, so Koltermann, noch weiter fragen, ob und wie die zufällige Struktur des Universums von einem transzendenten Wesen geschaffen wurde. Mit dieser Intention spannt der Autor den Bogen von der Kosmologie zu den modernen Selbstorganisationstheorien. Er begnügt sich also nicht mit den allgemeinsten strukturellen Zügen der Natur, wie es sonst einer säkularen Naturphilosophie entspräche, sondern beabsichtigt, den "zweck-, sinn- und wertfreien rein funktionalen Kosmos" in Richtung auf eine Metaphysik der Natur (Seite 75) zu überschreiten. Die bei der Darstellung naturwissenschaftlicher Fakten klare Diktion nimmt hier die typisch undurchsichtigen Formen traditioneller metaphysischer Rede an. Unter Einsatz des Freiheitsbegriffes möchte der Autor "den in der modernen Naturwissenschaft abgebrochenen Bogen zu Gott" (Seite 75) wiederherstellen. Sein Ziel ist, wieder zu einer "Finalität innerhalb der Natur" zu gelangen, um die "Sinn-Dimension" der Natur zurückzugewinnen. Die Intention, eine theistische Deutung der Natur zu etablieren, ist zwar von der Grundorientierung des Autors her verständlich; aber für den weltanschaulich neutralen Leser ist das Kontingenz-Argument des Thomas von Aquin, das von der akzidentellen Form der Welt auf die Existenz eines notwendigen Wesens schließt, nicht überzeugend, auch dann nicht, wenn man es mit E=mc2 anreichert (Seite 80). Der Autor muß selbst gefühlt haben, daß es nicht leicht sein wird, den heutigen Leser auf die scholastischen Argumentationsformen zu verpflichten, denn er verlangt von ihm eine "psychologische Offenheit", sich auf solche Gedankengänge "einzulassen". Nur unter dieser Vorgabe wird man nachvollziehen können, was es heißt, daß "ein ontologischer Ermöglichungsgrund, ein Seinsprinzip für die Existenz von kontingentem Seienden notwendig" (Seite 81) sei. Die Bewertung von Bertrand Russells Einwand gegen den Kontingenzbeweis wird dem Leser dann als Übungsaufgabe überlassen. Der britische Mathematiker und Philosoph Russell (1872 bis 1970) hatte behauptet, die Unterscheidung zwischen notwendig und kontingent sei sinnvollerweise nur auf Sätze, nicht aber auf Dinge anwendbar und der Begriff des "notwendigen Wesens" somit eine sprachliche Fehlkonstruktion; das zu widerlegen wäre aber eigentlich Sache des Autors gewesen. Der Abschnitt über die Biogenese zeigt den gleichen zweigleisigen Aufbau. Über lange Strecken wird sie historisch und systematisch in neutraler Diktion dargestellt; jeder kann etwa der Schilderung der Theorien über die Entstehung des Lebens durchaus mit Gewinn folgen. Abrupt verläßt Koltermann dann die Argumentationsebene, wenn er nach dem Mitwirken Gottes bei der Biogenese fragt. Um für das transzendente Wesen bei dem gegenwärtigen Stand des biologischen Wissens noch Platz zu schaffen, muß er von scholastischen Prinzipien Gebrauch machen: "Kontingentes Sein existiert in keinem Augenblick durch sich selbst, ist labil in seinem Dasein" (Seite 134). Durch die akademische Sprache könnte mancher Leser verführt werden zu glauben, es bedürfe wirklich der göttlichen Schöpferkraft, um zu verhindern, daß das kontingente Sein, rein auf sich gestellt, spontan ins Nichts zerfalle. Eine solche natürliche Zerfallstendenz alles alleingelassenen Seienden hat aber ohne theologische Vorgaben nicht die geringste Plausibilität. Die Welt bedarf keiner externen Stützung, um nicht augenblicklich ins Nichts zu versinken. Je mehr die Darstellung sich dem Menschen widmet, desto mehr verdichtet sich das theologische Anliegen des Autors. Ausführlich sucht er die Sonderstellung des Menschen im Tierreich zu begründen, indem er auf eine übernatürliche Entstehung seines Personseins rekurriert. Hier verliert er nun in seiner philosophischen Interpretation jeden realen Boden unter den Füßen. Mit seiner kreationistischen These "Jede individuelle menschliche Seele wird durch den unmittelbaren Schöpfungsakt von Gott hervorgebracht, nicht aber von den Eltern gezeugt" hat die naturphilosophische Argumentation nicht nur den Naturalismus überschritten, sondern auch jede Glaubwürdigkeit angesichts des heutigen Standes der Neurologie verloren. Im Fazit kann das Buch dem Leser nur mit großen Vorbehalten empfohlen werden. Die sachbezogenen Teile der Darstellung bieten gute wissenschaftsgeschichtliche Information, aber die naturphilosophischen Interpretationen werden nur für jene Leser nachvollziehbar sein, die schon vorher auf dem Boden der katholischen Theologie stehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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