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Höhlenmalerei. Ein Handbuch

Aus dem Französischen
von Peter Nittmann.
Thorbecke, Sigmaringen 1997.
340 Seiten, DM 59,-.

Höhlenmalerei, die Kunst der eiszeitlichen Großwildjäger, ist wie ein weitgehend unerforschter Kontinent. Erstaunlicherweise erst vor 100 Jahren entdeckt, erstreckt er sich über gut 20000 Jahre, fünfmal so lange wie die abendländische Kunstgeschichte seit Beginn der griechischen Antike. Aber Einblick haben wir nur in vier Epochen; sie liegen in den Jahrtausenden um 31000, um 25000, um 18000 und von 15000 bis 11000 Jahren vor der Gegenwart. Die Unschärfen naturwissenschaftlicher Datierungen lassen sie wahrscheinlich als größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.

Da ist es offensichtlich aussichtslos, den ganzen Kontinent anhand des vergleichsweise spärlichen Materials – der Bildfriese eiszeitlicher Tiere, der rätselhaften Zeichen, der wenigen Menschendarstellungen aus rund 300 Höhlenfundstellen – auf eine einzige Formel bringen zu wollen. Viele haben es trotzdem versucht: Höhlenmalerei sei l'art pour l'art, Jagdzauber, Totemismus; die Darstellungen seien sexuelle Metaphern, in einem ausgeklügelten Kompositionskanon angeordnet, so der Pariser Felskunst-Papst André Leroi-Gourhan. David Lewis-Williams von der Universität Johannesburg (Südafrika), der gegenwärtig von den Vertretern der postmodernen Archäologie favorisiert wird, deutet europäische Höhlenmalereien, ebenso wie die gesamte südafrikanische Felskunst, als Ausdruck von Trance-Erlebnissen.

Zaubert Michel Lorblanchet, Forschungsdirektor bei der französischen Forschungsgemeinschaft CNRS, nun eine neue Deutung aus dem Hut? Nein. Unbeirrt führt er vor, was er weiß: über die beiden großen Gattungen paläolithischer Bildnerei, die Kleinkunst – insbesondere Ritzzeichnungen auf Knochen, Elfenbein und Stein – und die Wandgemälde, über die Themen und Techniken, über die bisherigen Forschungsansätze sowie über die Regionen, aus denen wir Höhlenbilder kennen, vom spanischen Kantabrien bis zum Ural. Statt eine weitere Theorie auszubrüten, macht er sich Gedanken, wie die Erforschung der prähistorischen Höhlenkunst weiterentwickelt werden könnte.

Wichtigstes Instrument ist die genaue graphische Dokumentation. Sie soll nicht nur die Teile einer Malerei erfassen, die wir als Bild zum Beispiel eines Mammuts oder Wollhaarnashorns lesen können, sondern auch diejenigen Linien und Strukturen, die scheinbar keinen Sinn ergeben. Für eine verläßliche Wiedergabe müssen meist verschiedene Personen zu verschiedenen Zeiten dasselbe Ensemble von Motiven abzeichnen. An der reich gestalteten Decke der Höhle von Altamira in Kantabrien führt Lorblanchet vor, wie unterschiedlich solche Beschreibungen ausfallen können.

Der Dokumentation müssen naturwissenschaftliche Analysen folgen. Die Pigmente, außer natürlichen Mineralen vor allem Holzkohle, sowie ihre Herkunft, Mischung und Zubereitung können wichtige Hinweise geben, welche Bildelemente auf einem solchen Fries überhaupt zusammengehören (Spektrum der Wissenschaft, August 1982, Seite 52). Die Darstellungen in der Höhle von Cougnac im französischen Département Lot zum Beispiel wurden früher als einheitlich angesehen, weil sie stilistisch übereinstimmen. Leroi-Gourhan ordnete sie seinem "Stil III" zu. Nun entpuppten sie sich als mindestens drei verschiedene Kompositionen: ein "rotes Ensemble" mit Riesenhirsch, Steinböcken und Mammuts, ein "braunes" mit Hirsch, Pferd und einem verwundeten Menschen und ein "schwarzes" mit in Holzkohle gemalten Zeichen und einem weiblichen Riesenhirsch. Einige Tiere des roten Ensembles wurden mit schwarzem Farbstoff nachgezeichnet, der Riesenhirsch an einer Schulter zudem mit demselben braunen Farbstoff überzogen, der für das braune Ensemble benutzt wurde. Einige Maler haben ältere Werke in eine neue Komposition miteinbezogen. Kein Wunder, daß die hier gemessenen Radiokohlenstoff-Daten über einen Zeitraum von 6000 Jahren (ungefähr 25000 bis 19000 vor heute) verstreut sind! Die letzten Motive sollen in Cougnac noch einmal 5000 Jahre später entstanden sein.

Zur Analyse gehört auch die Rekonstruktion der Mal- und Zeichentechniken. Das wichtigste Hilfsmittel sind dabei Experimente, in denen die Forscher die erstaunliche Vielfalt der Farbauftragsmethoden nachvollziehen: von der Fingermalerei bis zum Gebrauch von Schablonen. In allen Details erleben wir mit Lorblanchet nach, wie die "gepunkteten Pferde" in der Höhle von Pech-Merle (Lot) entstanden sind: Der Künstler zerkaute vermutlich Holzkohle zu pulverigem Brei, nahm dazu einen Schluck Wasser in den Mund und blies die Farbe auf die Wand, seine Hände oder auch eigens ausgeschnittene Lederstücke als Schablone benutzend.

Lorblanchets Buch ist ein Plädoyer, die paläolithische Felskunst Figur für Figur neu zu betrachten und zu analysieren, auch da, wo sie schon hinreichend erforscht zu sein scheint. Der Autor begegnet uns nicht nur als einer der führenden Forscher, der seit Jahrzehnten an der Dokumentation der südfranzösichen Höhlenkunst arbeitet, sondern auch als einer, der bei aller Wissenschaft die Begeisterung über die Höhlenheiligtümer und das Geheimnisvolle, das sie umgibt, noch immer bewußt erlebt. Deshalb ist sein bunt bebildertes Buch beileibe kein trockenes Standardwerk geworden, sondern erzählt Geschichten "im Lichtkreis der Lampe", der uns von einer im prähistorischen Dunkel liegenden Welt trennt. Ein Anhang mit Verzeichnissen der Bilderhöhlen, die für Besucher offenstehen (Adressen und Öffnungszeiten sind angegeben), dient als Reiseführer.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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