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Interview: "Geburtenrate als demografisches Forschungsfeld"

Michaela Kreyenfeld, promovierte Soziologin und Demografin am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, beschäftigt sich vorwiegend mit der Familienbildung in den neuen Bundesländern. Eine allgemeine Anpassung an die Strukturen in den alten Bundesländern schließt sie bisher aus.


Spektrum der Wissenschaft: Frau Kreyenfeld, warum ist die ehemalige DDR für die Demografie so interessant?

Michaela Kreyenfeld: Durch die Wiedervereinigung hat sich eine Art experimentelle Situation ergeben. Wir können erforschen, wie Menschen mit gesellschaftlichen Umbrüchen umgehen, wie schnell sie sich anpassen und wie stabil ihre persönlichen Einstellungen sind. Bis heute ist unter anderem das Geburten- und Heiratsverhalten in Ost und West unterschiedlich. Wir untersuchen nun, welche Mechanismen den Prozess der Anpassung steuern.

Spektrum: Können Sie schon sagen, wie lange diese Anpassung dauert?

Kreyenfeld: Nein. Die amtlichen Daten sind nicht detailliert genug, um Ferti­litätsprognosen für Deutschland zu machen. Betrachtet man die zusammengefasste Fertilitätsziffer, sieht es zunächst so aus, als würde sich die Geburtenzahl pro Frau in Ost und West einander annähern. Diese Ziffer unterscheidet allerdings nicht zwischen dem ersten und dem zweiten Kind. Die Prozesse, die hinter der Angleichung stecken, sind sehr differenziert.

Spektrum: Findet die soziale Anpassung mehr in Richtung Ostdeutschland oder Westdeutschland statt?

Kreyenfeld: Was das Alter bei der Geburt des ersten Kindes betrifft, so lässt sich sagen, dass sich die Frauen in Ostdeutschland dem hohen westdeutschen Wert angenähert haben. Andere Aspekte wie das Heiratsverhalten, die Familienstrukturen oder das Erwerbsverhalten von Müttern muss man getrennt betrachten.

Spektrum: Gibt es Studien, die zeigen, welche Faktoren das Alter bei der Geburt des ersten Kindes bestimmen?

Kreyenfeld: Die Bildungsbeteiligung ist fast überall ein wichtiger Grund, die Elternschaft aufzuschieben. Weniger klar ist, welchen Einfluss Arbeitsmarktfaktoren auf die Familiengründung aus­üben. So sind es oft gerade die Frauen mit schlechten Erwerbschancen, die sich für eine frühe Elternschaft entscheiden – und sich damit zumeist ihre Erwerbskarriere endgültig verbauen. In der DDR waren die Folgen allerdings nicht negativ für die Erwerbskarriere, da die familienpolitischen Rahmen­bedingungen eine frühe Elternschaft förderten. Heute ist die hinausgeschobene Mutterschaft eine rationale Strategie, sich an die Bedingungen des Erwerbssystems anzupassen.

Spektrum: Könnte eine Annäherung nicht auch durch die gegenseitige Zuwanderung vonstatten gehen?

Kreyenfeld: Die Auswirkungen der starken Ost-West-Migration auf die Familienbildung sind noch nicht tiefgreifend genug analysiert worden. Ein ostdeutsches Paar, das in eine westdeutsche Stadt zieht, wird mit Rahmenbedingungen konfrontiert, in denen sich Kind und Beruf kaum vereinbaren lassen. Vermutlich wird das Paar versuchen, einen Platz in einer Kindertageseinrichtung zu finden. Oder aber die Frau wird nach der Geburt ihres Kindes temporär aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Auch die gewollte Kinderlosigkeit könnte ein Resultat sein.

Spektrum: Ist denn die Kinderlosigkeit nach der Wende angestiegen?

Kreyenfeld: Das lässt sich nicht abschließend sagen, denn die relevanten Geburtsjahrgänge haben das Ende ihrer fruchtbaren Phase noch nicht erreicht. Aber für die nach 1970 Geborenen zeigt sich bislang, dass in den alten Bundesländern mehr Menschen ohne Nachwuchs bleiben als in den neuen Bundesländern. Es bleibt abzuwarten, ob der Anteil kinderloser Frauen auch im Osten Deutschlands ansteigt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2003, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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