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Peter Janich: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften.

C. H. Beck, München 1997. 208 Seiten, DM 19,80.

Der magische Teppich der höheren Wissenschaften landet auf dem Boden der Tat-Sachen. Auch Philosophiescheue können sich an Peter Janichs Werk gelassen heranwagen. Konsequent in dem Unterfangen, die Wissenschaften in die niederen Gefilde lebensweltlicher Praxis zurückzuholen, ist die Sprache alles andere als abgehoben. Viele Beispiele entstammen dem gewöhnlichen Alltag. In diesem Buch stimmen Form und Inhalt überein.

Bevor der Teppich landet, kreist er noch ein wenig über Marburg, wo Janich Professor für Philosophie ist. Der Ortskundige erkennt ein wenig den Geist des Universitätsstädtchens wieder, in dem sich Geistes- und Naturwissenschaftler auf der Mensabrücke begegnen.

Oft hat man bei Philosophien der Naturwissenschaften den Eindruck, daß entweder Naturwissenschaftler Müßiggang treiben oder aber Philosophen über eine Sache sprechen, die sie nicht wirklich praktizieren. Bei Janich, der schon viel über Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften veröffentlicht hat, ist keines von beiden der Fall. Hier spricht jemand aus Erfahrung oder zumindest nach gründlichen Diskussionen mit Kollegen.

Jedes naturwissenschaftliche Bemühen, so die Hauptthese des Autors, ist aus Alltagshandlungen entstanden und auf einen Zweck hin gerichtet. Ein Längenmaß erweist sich als sinnvoll für Jäger und Sammler, ein Flächenmaß für den Ackerbau, und Wissen über das Tierleben ist nützlich für die Viehzucht. Darüber hinaus gibt es nur zu verbessernde Techniken, aber keine unabhängig von menschlicher Erkenntnis existierenden unentdeckten Geheimnisse.

Nach Janich wird aus einer lebensweltlichen Praxis eine Wissenschaft, indem sie hochstilisiert wird und dabei transsubjektive Geltung gewinnt, das heißt von jedermann an jedem Ort nachvollzogen werden kann. Dies geht im allgemeinen mit der Entwicklung einer Fachsprache und der Beschreibung von Verfahren einher (zum Beispiel, wie man eine Länge mißt).

Eine Grundlage für Naturwissenschaften genau in diesem Sinne können die sogenannten Prototheorien liefern, denen der Autor viel Raum widmet. Ihnen stellt er die historischen Fundierungen von Physik, Chemie und Biologie gegenüber: Sie seien charakterisiert durch das Bemühen, Grundbegriffe zu klären, die sich im Laufe der Geschichte etabliert haben. Nur muß man dafür – wenn man auf der sprachlichen Ebene verbleibt – wieder Begriffe verwenden, die es zu

klären gilt, und so weiter ad infinitum. Dabei verliert man oft aus dem Auge, daß zum Beispiel „Masse“ oder „Fläche“ keine zu entdeckenden und zu verstehenden Körpereigenschaften sind, sondern Bezeichnungen, die aus Notwendigkeiten heraus erfunden wurden – etwa um auf dem Markt verkaufen oder Land vermessen zu können.

Einfacher, pragmatischer und richtiger sei es, Grundbegriffe durch Handlungs- oder Herstellunganweisungen zu definieren. Was ist eine Ebene? Man schleife drei Platten so zurecht, daß je zwei von ihnen lückenlos aneinanderpassen. Solche Definitionen sind von jedermann an jedem Ort praktisch umzusetzen, liegen der historischen Begriffsentstehung nahe und leiten in den sprachfreien Bereich über.

Auch die wundervolle Anwendbarkeit der Mathematik auf die Naturwissenschaften erklärt sich dann ganz natürlich, denn die logischmathematischen Eigenschaften von Meßresultaten werden beim Festlegen von Meßverfahren ja gerade

als Ziel vorgegeben. Diese These bedarf wohl noch einer strengeren Überprü-

fung und Begründung, als es Janich in diesem Büchlein möglich war. Daß man

mathematische Eigenschaften findet, weil man nach ihnen sucht, ist nicht verwunderlich. Gleichwohl findet so mancher Naturwissenschaftler Anlaß zum Staunen darüber, welche mathematischen Zusammenhänge es sind, die sich dabei zeigen.

Janich erhebt mit den von ihm vorgestellten Prototheorien nicht nur den Anspruch, die Naturwissenschaften fundieren zu können, sondern auch Erkenntniskritik zu geben: fehlende Definitionen für Grundbegriffe nachzuliefern. Die Besinnung auf lebensweltliche Praxen als Ursprung und Ziel jedes naturwissenschaftlichen Bemühens sollte auch Forschungsprogramme beeeinflussen.

Ob das so einfach ist? Was wird dann aus der Grundlagenforschung, die oft erst im nachhinein ungeahnten Zwecken dient? Und ist der Praxisbezug so ein einfaches Kriterium bei der Bewilligung von Forschungsprojekten? Liegt die Kernwaffe nicht ärgerlich nahe beim Strahlentherapie-Gerät?

Anders als es der Titel des Buches ahnen läßt, findet sich ein geschichtlicher Überblick der Philosophie der Naturwissenschaften nur in einem der letzten

Kapitel. In aller Kürze, gleichwohl klar und verständlich, werden hier die Gedanken des Physikers und Philosophen Ernst Mach (1838 bis 1916), des aus dem

Verein „Ernst Mach“ hervorgegangenen Wiener Kreises sowie der Philosophen Karl Popper (1902 bis 1994), Thomas

S. Kuhn (1922 bis 1996) und Paul K. Feyerabend (1924 bis 1994) vorgestellt.

Damit bettet der Autor seine eigene Philosophie in den historischen Zusammenhang ein. Alle bisherigen Ansätze, so Janich, hätten die Naturwissenschaften mit rein sprachlichen Mitteln begründen wollen und den pragmatischen Aspekt, das Handeln und den Bezug zum Alltag, vernachlässigt. Dies gelte selbst für progressivere Ansätze wie die soziologischen Relativierungen Kuhns oder den „Anarchismus“ (gegen die Alleinherrschaft etablierter Methoden) Feyerabends.

Gewagt freilich ist die These des Autors, alle Forschung sei aus alltäglichen Handlungen entstanden und zweckgerichtet. Hat er da nicht die Neugierde und den bloßen Wissensdrang sehr vernachlässigt? Welcher Anwendungsbezug trieb die Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie? Da muß man schon weniger durchschaubare Zwecke wie den persönlichen Ehrgeiz oder das Karrieredenken in die Betrachtung einbeziehen, um das Argument zu retten.

Trotzdem: Der Gesamteindruck bleibt positiv. Ob es darum geht, Wissenschaftlichkeit zu definieren, die Naturwissenschaften durch Prototheorien zu fundieren oder einen historischen Überblick der Philosophie der Naturwissenschaften zu geben – der Autor versucht mit Argumenten zu überzeugen, nicht eine alleinseligmachende Wahrheit zu verkaufen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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