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Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - die Grenzen der Konjunkturpolitik

Die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften hat mit Robert E. Lucas einen Wissenschaftler ausgezeichnet, der die makroökonomische Theorie und das Verständnis von Wirtschaftspolitik grundlegend verändert hat

Diese Entscheidung des Nobel-Komitees stieß unter Fachkollegen in vielen Ländern auf weitgehende Zustimmung. Ohnehin war die Vergabe des von der Schwedischen Reichsbank anläßlich ihres 300jährigen Bestehens gestifteten, 1969 erstmals verliehenen und dieses Jahr mit 7,2 Millionen Kronen (etwa 1,5 Millionen Mark) dotierten Preises an Lucas schon länger erwartet worden: George J. Stigler (1911 bis 1991) konstatierte bereits vor dreizehn Jahren, als er selber den Nobelpreis erhielt, Lucas würde wohl einer der nächsten Laureaten sein. So gesehen, hat sich das Komitee Zeit gelassen; andererseits benötigen fundamentale Neuerungen auch in der Wissenschaft eine gewisse Zeit, um allgemein akzeptiert und als preiswürdig befunden zu werden.

Robert Lucas, geboren 1937 in Yakima (Washington), studierte zunächst Geschichte, dann Volkswirtschaftslehre an der Universität Chicago. Er promovierte dort 1964 und lehrte danach an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania). Seit 1975 ist er als John Dewey Distinguished Professor wiederum an der Universität Chicago, wo auch Stigler sowie sechs weitere Träger der angesehensten wirtschaftswissenschaftlichen Auszeichnung tätig waren oder sind. Er ist zudem unter anderem Mitglied der amerikanischen Akademie der Wissenschaften.


Die Keynesianische Theorie

Um die Bedeutung des Beitrags von Lucas richtig einschätzen zu können, muß man sich den Stand der makroökonomischen Theorie in den sechziger Jahren vergegenwärtigen. Sie beschäftigt sich mit gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen, und bevorzugte Untersuchungsgegenstände sind Phänomene wie Inflation und Arbeitslosigkeit. Die sechziger Jahre waren nun die Zeit des Keynesianismus. Diese nach dem Engländer John Maynard Keynes (1883 bis 1946), dem Begründer der Makroökonomik, be-nannte Denkrichtung weist der staatlichen Konjunkturpolitik eine aktive Rolle zu. Demnach kann eine Regierung durch haushalts- und geldpolitische Maßnahmen die gesamtwirtschaftliche Produktion und Beschäftigung nachhaltig beeinflussen und durch geeignete Dosierung der Staatsausgaben und der Geldmenge die konjunkturellen Ausschläge – Flauten wie Überhitzungen – dämpfen.

Ende der fünfziger Jahre wurde die Phillips-Kurve entdeckt, die eine negative Korrelation von Inflationsrate und Arbeitslosenrate wiedergibt; sie war von dem britischen Volkswirtschaftler Alban William Phillips ursprünglich zur Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Zuwachsrate der Nominallöhne und der Arbeitslosenquote verwendet und für die Jahre 1861 bis 1957 anhand der Entwicklung dieser Parameter in Großbritannien empirisch untermauert worden (Bild).

Dieses analytische Instrument suchte man alsbald zum handlungsleitenden Schema umzufunktionieren. Für die Wirtschaftspolitik bedeutete das: Regierung und Zentralbank können durch eine expansive Geldpolitik die Arbeitslosenrate senken, wenn sie dafür eine höhe-re Inflationsrate in Kauf nehmen. Die Äußerung des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt "Mir sind fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslose" beschreibt diesen Zusammenhang sehr treffend.

Allerdings hatten die Keynesianischen Denkmodelle der sechziger Jahre keine theoretisch befriedigenden mikroökonomischen Grundlagen (Mikroökonomik ist die Lehre vom einzelwirtschaftlichen Verhalten; ihre Untersuchungsgegenstände sind zum Beispiel Entscheidungen über Verbrauch, Arbeitsangebot, Arbeitsnachfrage, Güterproduktion und Investitionen). Dieser Mangel fiel indes nicht weiter ins Gewicht, solange die Modellvoraussagen einigermaßen mit der Realität übereinstimmten. Die Wirtschaftspolitik der USA unter Präsident John F. Kennedy (1917 bis 1963) und die von Wirtschaftsminister Karl Schiller (1911 bis 1994) zur Überwindung der Rezession 1966/67 in der Bundesrepublik eingeleiteten Maßnahmen zeitigten Resultate, welche die herrschende makroökonomische Theorie zu bestätigen schienen.

Auch die Phillips-Kurve konnte bis Ende der sechziger Jahre empirisch nicht widerlegt werden, wenngleich sie ebenfalls nur theoretisch schwach fundiert war. Die zugrundeliegende Idee beruht auf der einfachen Überlegung, daß bei einem angespannten Arbeitsmarkt (also niedriger Arbeitslosigkeit) die Lohnsteigerungen höher ausfallen als bei hoher Arbeitslosigkeit. Weil höhere Lohnsteigerungen in der Regel auch höhere Preissteigerungen bedeuten, ist der Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit hergestellt. Dabei ist allerdings außer acht gelassen, daß das Ergebnis von Lohnverhandlungen auch von der erwarteten Preisentwicklung abhängt. Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber für das nächste Jahr mit einer höheren Inflationsrate rechnen, werden die vereinbarten Lohnsteigerungen entsprechend größer ausfallen.


Rationale Erwartungen und die Phillips-Kurve

Ähnliches hatten sich 1968 auch schon der von 1948 bis 1976 in Chicago lehrende Milton Friedman (Nobelpreis 1976) und Edmund Phelps von der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, der nun an der New Yorker Columbia-Universität tätig ist, überlegt. Es gelang jedoch erst Lucas, der auch bei Friedman studiert hatte, diese Überlegungen mit hohem mathematischen Aufwand theoretisch exakt zu formulieren und in ein handhabbares konsistentes Modell zu integrieren. Er griff dabei auf die bereits 1961 von John F. Muth von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) unterbreitete Hypothese der rationalen Erwartungen zurück (Muth ist inzwischen an der Indiana-Universität in Bloomington tätig).

Demnach verhalten sich die Wirtschaftsakteure – seien es etwa Produzenten, Geschäftsleute und Konsumenten am Markt oder Arbeitgeber und Gewerkschafter in Tarifauseinandersetzungen – nicht wie mechanisch reagierende Roboter, sondern können aufgrund ihrer Erfahrung künftige Entwicklungen einigermaßen abschätzen und in einem permanenten Prozeß des Aktualisierens und Deutens der ihnen zugänglichen ökonomischen Informationen – also durch Lernen – intelligent handeln. Deshalb sollten auch in ökonomischen Denkmodellen den Akteuren nicht immer wieder die gleichen irrigen Prognosen unterstellt werden. Das bedeutet nicht, daß die Zukunft vorhergesagt werden könnte; es heißt nur, daß bei der Prognose keine systematischen Fehler gemacht werden.

War das Konzept Muths von der Fachwelt noch weitgehend ignoriert worden, so war das bei Lucas nicht mehr gut möglich, weil er die weitreichenden Folgen aufzeigte, die eine konsequente Anwendung der Theorie der rationalen Erwartungen hat. Die theoretischen Grundlagen einer stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik mußten somit neu entwickelt werden.

Frühere Versuche der Modellierung von Erwartungen waren unbefriedigend, weil sie zu simple Verhaltensweisen annahmen. So wurden dafür in den Simulationsrechnungen statische Faktoren (für morgen wird der gleiche Preis wie heute erwartet) oder adaptive (der für morgen erwartete Preis ist ein Durchschnitt aus dem heute realisierten und dem für heute erwarteten) verwendet. Dies hat zur Folge, daß bei einer inflationären Entwicklung die den Erwartungen zugeschriebenen Werte der tatsächlichen Entwicklung immer hinterherhinken – es gibt systematische Fehler.

Der These der rationalen Erwartungen, die keineswegs sofort akzeptiert wurde, warf man nun eine Übertreibung in der anderen Richtung vor: Sie überschätze, was Informationsverarbeitung und Intelligenz angehe, das Antizipationsvermögen der Akteure; rationale Erwartungen könne es in striktem Sinne nicht in Wirklichkeit geben, und deshalb sei diese These als widerlegt oder jedenfalls als unbrauchbar anzusehen.

Bei dieser Kritik lag jedoch ein Mißverständnis vor. Ökonomische Simulationen sind Denkmodelle, um bestimm-te Aspekte des komplexen wirtschaftlichen Geschehens abzubilden und um die Effekte einzelner Veränderungen (beispielsweise bestimmter wirtschaftspolitischer Maßnahmen) abzuschätzen. Die Annahme rationaler Erwartungen ermöglicht es nun, im Modell alle die Wirkungen der Wirtschaftspolitik auszuschließen, die auf Irrtümern, Täuschungen und Fehlinformationen der Akteure beruhen. Dies ist besonders wichtig, wenn die längerfristigen Wirkungen der Wirtschaftspolitik abgeschätzt werden sollen. Die These der rationalen Erwartungen ist in erster Linie als Methode der Modellkonstruktion und weniger als Hypothese über tatsächliches Verhalten anzusehen; sie schreibt den Wirtschaftsakteuren durchaus nicht umfassende Kenntnis aller Variablen und perfekte Voraussicht zu.

Die Arbeiten von Lucas ermöglichen mithin eine bessere Einsicht in die langfristigen Wirkungen von Stabilisierungsmaßnahmen: Staatliche Haushalts- und Geldpolitik ist im besten Falle wirkungslos, sonst verstärkt sie eher konjunkturelle Ausschläge.

Ein anderer wichtiger Beitrag von Lucas betraf die in der Keynesianischen Makroökonomik übliche ökonometrische Praxis. Ökonometrie beschäftigt sich damit, ökonomische Modelle und Theorien anhand empirischer Daten zu testen und Parameterwerte der Modelle numerisch aufgrund dieser Daten zu bestimmen. Ein so quantifiziertes Modell wird dann dazu benutzt, die Folgen von Politikvarianten durchzuspielen. Lucas gelang es nachzuweisen, daß die empirisch geschätzten Strukturparameter eines Modells abhängig sind von der Wirtschaftspolitik.

Damit war ein entscheidender Schwachpunkt dieser Methode aufgezeigt: Wenn nämlich die Strukturparameter des Modells von der Art der Wirtschaftspolitik abhängen, kann man anhand einer solchen Simulation nichts über die Wirkung einer Änderung dieser Politik aussagen, weil sich dann eben auch die Modellstruktur ändert. Mit dieser Diskreditierung der ehemals gängigen ökonometrischen Praxis (die als "Lucas-Kritik" in die Fachliteratur eingegangen ist) hat Lucas ein neues Forschungsprogramm initiiert. Es galt nun, Modelle so zu konstruieren und empirisch so zu schätzen, daß die Strukturparameter unabhängig von der jeweils herrschenden Wirtschaftspolitik sind.

Die aus den revidierten Modellen abzuleitenden Voraussagen über die Wirksamkeit konjunkturpolitischer Maßnahmen wurden in den siebziger Jahren eindrucksvoll bestätigt: Die Erfahrungen mit gleichzeitig steigenden Inflations- und Arbeitslosenraten (Stagflation) belegten, daß es keinen langfristigen Zusammenhang im Sinne der Phillips-Kurve gibt. Dies hat sicherlich auch dazu beigetragen, daß die Ideen des Chicagoer Forschers rasche Verbreitung und die von ihm kreierten Methoden viele Anhänger fanden.


Eine andere Sichtweise der Konjunktur

Die von Lucas entwickelten Methoden erforderten auch einen neuen Ansatz in der Konjunkturtheorie (man müßte eigentlich von einer Vielzahl von Theorien sprechen). Sie ist zwar weit davon entfernt, eine geschlossene Einheit zu bilden, aber nahezu alle theoretischen Ansätze erklärten die Konjunktur als ein Phänomen des Ungleichgewichts. Damit war die Vorstellung verbunden, konjunkturelle Bewegungen seien unerwünscht und sollten, wenn möglich, vermieden werden. Ebenso war damit die Vermutung verknüpft, ein perfektes Funktionieren der Markt- und Preismechanismen würde konjunkturelle Bewegungen eliminieren.

Lucas zeigte nun, daß es Rezession und übermäßiges Wachstum auch bei perfekt funktionierenden Märkten geben kann und daß sich empirische Konjunkturverläufe durchaus mit Hilfe von Gleichgewichtsmodellen erklären lassen. Mit diesen Arbeiten hat Lucas der Forschung ebenfalls wichtige Impulse gegeben und neue Ansätze für die Wirtschaftspolitik deutlich gemacht.

Indem Lucas gesamtwirtschaftliche Prozesse auf Entscheidungen realer Individuen zurückführte, näherte er sich geradezu – wie Carl-Olof Jacobsson, der Generalsekretär der Stockholmer Akademie anmerkte – "der Grenzlinie zwischen Verhaltensforschung und Wirtschaftswissenschaften". Mit seinen theoretischen und empirischen Beiträgen hat er eine fundamentale Umwälzung in der Makroökonomik herbeigeführt (das Wort Revolution mag Lucas in diesem Zusammenhang überhaupt nicht, weil es zu sehr an Gewalt erinnere) und Theoretiker wie Praktiker gezwungen, ihre Vorstellungen über makroökonomische Zusammenhänge gründlich zu überdenken. Die Rolle einer grauen Eminenz praktischer Wirtschaftspolitik hat er nie angestrebt, vielmehr gescheut; aber seine exakte und in der Sache kompromißlose Art der Argumentation setzte für die wissenschaftliche Diskussion auf diesem Gebiet neue Standards.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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