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Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik


Philosophie hat sich seit jeher des Verdikts zu erwehren, eine unpraktische – sprich unnütze – Wissenschaft zu sein. Doch hier scheint sich, folgt man den Autoren des vorliegenden Buches, ein tiefgreifender Wandel vollzogen zu haben. Vor allem die durch wissenschaftlich-technische Innovationen entstandenen qualitativ neuen Handlungsspielräume des Menschen sowie der rasche soziale Wandel werfen Fragen nach den Maßstäben menschlichen Handelns auf. Offenbar haben die modernen Gesellschaften ungeachtet ihrer funktionalen Ausdifferenzierung die Moral nicht als Störfaktor ausgeklammert. Vielmehr hat sich die Besorgnis verstärkt, man müsse dem „entfesselten Prometheus“ (ein Schlagwort des Philosophen Hans Jonas) eine Ethik an die Hand geben, die menschlichen Handlungen in den neuen Bereichen als Kompaß dienen kann.

Kurt Bayertz, Herausgeber und Autor des gewichtigen Einführungsbeitrages, beabsichtigt nicht, einer endlosen philosophischen Debatte eine neue Facette anzutragen. Vielmehr geht es ihm und seinen sieben Koautoren Dieter Birnbacher, Malte Lehming, Anton Leist, Josef Meran, Hans-Martin Sass, Ulrich Steinvorth und Jean-Claude Wolf darum, der Philosophie als angewandter Ethik die Teilnahme am öffentlichen Diskurs zu Entwicklungsproblemen moderner Gesellschaften zu sichern.

Bayertz verwendet daher zunächst viel Mühe darauf, den nicht unumstrittenen Begriff der angewandten Ethik zu fundieren. Von der klassischen theoretischen Ethik her könne sie nur in der Subsumtion des Einzelfalls unter universelle Prinzipien und Regeln gedacht werden. Der ideengeschichtliche Ausgangspunkt wäre hier Immanuel Kant, der vehement gegen Versuche zu Felde zog, die Vernunft mit den Maulwurfsaugen der Erfahrung zu reformieren. Werde hingegen von der spezifischen Sensibilität für den jeweils besonderen Fall ausgegangen, so nehme man eine Anleihe bei der Aristotelischen Lehre von der phronesis, der praktischen Klugheit.

Bayertz hält wenig davon, sich in einem harten Entweder-Oder für Kant oder für Aristoteles zu entscheiden; vielmehr sieht er Berührungspunkte. Die einzelfallbezogene Analyse kann sehr wohl – vor allem im Bereich der Medizinethik – auf beachtliche Ergebnisse verweisen und kommt zudem der allgemeinen Aversion gegen philosophische Prinzipienreiterei entgegen; doch liegen ihr immer, mitunter verdeckt, generelle moralische Regeln oder Gesichtspunkte zugrunde. Andererseits ist die Bestimmung von angewandter Ethik als Subsumtion des Einzelfalls unter allgemeine Prinzipien nicht hinreichend. Qualitativ neue Handlungsmöglichkeiten, wie sie vor allem durch wissenschaftlich-technische Innovationen entstehen, sind nicht ohne weiteres durch traditionelle moralische Prinzipien zu erfassen, sondern for-dern deren produktive Fortschreibung.

Als hauptsächliche Themenbereiche angewandter Ethik werden die Felder Politik und Wirtschaft, Mensch und Natur sowie Aspekte des wissenschaftlich-technischen Fortschritts genannt. Sie bilden den inhaltlich recht weit gesteckten Rahmen der Einzelbeiträge dieses Bandes. Diese folgen dem theoretisch-methodischen Konzept des Einführungsbeitrags, auch wenn mitunter die philosophische Substanz der behandelten Probleme durch den einzelwissenschaftlichen Disput verdeckt zu werden droht.

Die Crux eines solchen Sammelbandes besteht darin, daß zu den verschiedenen Themenbereichen vielfach bestenfalls ein fundierter Überblick zum Diskussionsstand gegeben werden kann. Jedem Abschnitt ist deshalb ein bibliographischer Anhang beigefügt, der dem Leser die selbständige Orientierung im Themenbereich ermöglichen soll.

Ein Aspekt des Einführungsbeitrags verdient besondere Beachtung: Will Philosophie als angewandte Ethik im öffentlichen Diskurs gehört werden, ist Kompetenz vonnöten. Dazu muß sich der Phi-losoph tief in Fachprobleme – seien es solche der Technik, der Medizin oder der Ökologie – einarbeiten. Interdisziplinäre Kommunikationsfähigkeit, für den Philosophen leider nicht selbstverständlich, wird zum Schlüssel, will er den ihm zugewachsenen Spielraum auch nutzen.

Von wohltuender Sachlichkeit ist auch der Hinweis von Bayertz, daß die aufgezeigten inhaltlichen Möglichkeiten und Aufgaben keinesfalls der angewandten Ethik ein Monopol zur Reflexion öffentlicher Probleme moderner Gesellschaften überantworten. Analytische Kompetenz und das aufklärerische Potential der Philosophie seien zwar notwendig, aber keineswegs hinreichend für eine Lösung der dargestellten Probleme.

Der vorliegende Band spricht einen breiten Leserkreis an: Philosophen, Techniker, Mediziner, Lehrer, aber auch generell Interessierte, denen die Suche nach gültigen Maßstäben für die Entwicklung der Welt nicht gleichgültig ist. Auf jeden Fall wird er auf seine Weise auch dem Vorurteil entgegentreten, Philosophie beschäftige sich nur mit weltfremden Fragen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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