Direkt zum Inhalt

Sechs Linien und Video

Fast wäre der Video-Abend ein Reinfall geworden. Wen interessiert schon ein Film über verschlungene Röhren in einem Raum voller Gelee? Aber dann platzte doch noch der Knoten.

Das Popcorn ist fertig, und Charlotte hat Sprudel besorgt. Hast du auch das Video mitgebracht?" fragte Boris.

"Aber sicher", erwiderte Annabell und legte die Kassette ein. Auf dem Bildschirm erschien ein unregelmäßiges weißes Linienmuster, dann der Vorspann.

"Was ist das denn für ein merkwürdiger Titel?" fragte Boris. "Knoten ohne Knoten? Soll das ein Krimi sein?"

"Überraschung", erwiderte Annabell. "Wart's doch erst mal ab."

Auf dem Bildschirm wanden sich farbige, wurmartige Röhren wie ein exotisches Lebewesen im Todeskampf.

Charlotte wußte sofort Bescheid: "Außerirdische. Auch gut."

"Falsch", widersprach Annabell. "Das ist ein Mathematikfilm, der am Zentrum für Geometrie an der Universität von Minnesota in Minneapolis produziert worden ist."

Boris erschrak zutiefst. "Mathematik! Wie ekelhaft!"

"Du schwärmst doch sonst immer von allen möglichen Visualisierungen", stichelte Charlotte. "Sieht doch gut aus. Annabell, wovon handelt der Film eigentlich?"

"Entdeckungen über die Topologie der Knoten."

"Topologie?" fragte Boris, und Charlotte gleichzeitig: "Knoten?"

"Ja. Stellt euch vor, ihr bindet ein Stück Schlauch zu einem Knoten und verschmelzt die Enden, so daß sich das Gebilde nicht mehr entwirren läßt. Kann man erkennen, wann zwei solche Knoten äquivalent sind? Das heißt, kann man den einen in den anderen überführen, indem man ihn zusammen mit dem umgebenden Raum geeignet verbiegt und verdrillt, ohne ihn an irgendeiner Stelle zu zerreißen?"

"Wie zerreißt man denn den Raum?" fragte Boris. "Das sollst du ja gerade nicht", warf Charlotte ein. "Aber wie verbiegt man ihn?"

"Stellt euch vor, der Raum sei mit einem sehr weichen, dehnbaren, breiigen Gelee ausgefüllt" (Spektrum der Wissenschaft, August 1989, Seite 42).

"Und das ist Mathematik?" Boris verdrehte die Augen. "Götterspeise? Igitt!"

"Es gibt nicht nur mehr im Universum, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt", philosophierte Annabell, "sondern sogar mehr, als man überhaupt zu träumen fähig ist – und in der Mathematik ganz besonders. Ein Raum voll Gelee ist noch eines der kleineren Wunder." Der Bildschirm zeigte nun drei ineinanderhängende Ringe (Bild 1).

"Das ist eine Verkettung", sagte Annabell. "Ungefähr dasselbe wie ein Knoten, aber mit mehreren Schläuchen. Um genau zu sein: Das hier sind die borromäischen Ringe. Sie sind berühmt, weil je zwei davon nicht miteinander verkettet sind, alle drei aber wohl. Zerschneidet man einen, fällt alles auseinander" (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, Seite 12).

Alle drei sahen eine Weile zu. "Und was ist jetzt los?"

"Wir sollen die verknoteten Schläuche für einen Moment vergessen und nur den umgebenden Raum betrachten, das sogenannte Komplement dieser Gebilde. Es gilt nämlich der Satz, daß nicht-äquivalente Knoten nicht-äquivalente Komplemente haben."

Charlotte dachte einen Augenblick nach. "Ist denn das nicht offensichtlich? Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann ist das Komplement ein ganzer Raum voll Glibber mit einem Tunnel darin, dort, wo der verknotete Schlauch wäre. Wenn man nun den Raum außerhalb eines Knotens so verbiegen kann, daß er wie der Raum außerhalb des anderen Knotens aussieht, wird dann der Knoten – oder der Tunnel – nicht mit verbogen?"

"Ja, aber er könnte dabei irgendwie verzogen werden", sagte Annabell. "Es kann jedenfalls nicht offensichtlich sein, denn für Verkettungen ist dieselbe Aussage falsch. Man kann Verkettungen finden, deren Außenräume gleich sind, deren Innenräume sich aber unterscheiden" (Kasten auf der nächsten Seite).

"Das ist aber merkwürdig. Anscheinend muß man schneiden, um das zu beweisen", protestierte Boris. "Ich dachte, das sei verboten."

"Na gut, das war nicht die ganze Wahrheit. Man darf ihn zerschneiden, vorausgesetzt, man klebt ihn später genauso wieder zusammen, wie er war."

"Aber dann kann man jeden Knoten lösen", widersprach Boris. "Schneide den Schlauch an irgendeiner Stelle durch, entwirre ihn und klebe die Enden wieder zusammen."

"Genau deswegen, lieber Boris, muß man eben den ganzen Raum um den Knoten herum mit deformieren und nicht nur den Knoten", sagte Charlotte. "Offenbar heißt das Video deshalb ja auch ,Knoten ohne Knoten'."


Nichteuklidische Geometrien

"Danke, Charlotte", sagte Boris. "Aber jetzt wird es wohl komplizierter."

"Ja", erklärte Annabell. "Es geht um eine neue Entdeckung, daß nämlich die Knotenkomplemente eine natürliche geometrische Struktur haben, die man zur Klassifizierung von Knoten verwenden kann. Das Interessante daran ist, daß nichteuklidische Geometrie dabei herauskommt."

"Was für eine Geometrie? Gibt es mehr als eine?" fragte Charlotte.

"Die euklidische Geometrie, die du aus der Schule kennst, ist nur eine von vielen verschiedenen. In den nichteuklidischen Geometrien machen Parallelen die merkwürdigsten Dinge, oder es gibt gar keine. In zwei Dimensionen kannst du dir nichteuklidische Geometrie veranschaulichen, indem du die Ebene durch eine gekrümmte Fläche ersetzt, etwa eine Kugel oder eine sattelförmige Fläche, und darauf Geraden zeichnest – oder was immer das dann ist. Aber für die Knotenkomplemente mußt du dir einen dreidimensionalen gekrümmten Raum vorstellen, und das ist schwierig. Das Video läßt uns in einem solchen Raum herumfliegen und vermittelt, wie das aussehen würde."

Boris blickte auf den Bildschirm, wo winzige Autos auf einem Kegelmantel um die Wette fuhren. "Fliegen? Mit einem Auto?"

"Die Sache mit dem Fliegen kommt später. Hier sehen wir, wie man nichteuklidische Geometrien herstellen kann, indem man ein Stück aus dem gewöhnlichen Raum herausschneidet und die Schnittflächen zusammenklebt, geradeso, wie du aus einer Kreisscheibe aus Papier einen Kegel machen kannst, indem du ein tortenförmiges Stück herausschneidest. Nur ist es hier etwas mühsamer, sich vorzustellen, wie das Ergebnis aussehen würde. Immer wenn du eine Gerade ziehst und auf eine Schnittfläche triffst, mußt du sie an der entsprechenden Stelle auf der gegenüberliegenden Seite fortsetzen. Die Wirkung ist so, als würden die Linien verbogen, obwohl nach wie vor jedes Stück davon gerade ist. Das gibt nicht nur merkwürdige Effekte bei Parallelen; es können auch Geraden sich selbst überkreuzen."

Boris blickte verwirrt drein. "Annabell, ach Annabell. Wie kann eine gerade Linie verbogen sein?"

"Unter einer Geraden muß man die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten verstehen. In einem nichteuklidischen Raum erscheinen uns gerade Linien nicht immer als gerade – von außen gesehen. Aber wenn man zugrunde legt, daß ein Lichtstrahl stets den kürzesten Weg nimmt, dann sehen diese Linien für ein in diesem Raum lebendes Wesen gerade aus" (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1990, Seite 12).

"Man kann nichteuklidische Geometrien auch mit Spiegeln erzeugen", fuhr Annabell fort, "ähnlich wie bei einem Kaleidoskop. Die Spiegel ändern den Lauf der Lichtstrahlen. Stell dir vor, du wärst in einem würfelförmigen Zimmer, dessen Wände, Decke und Fußboden alle aus Spiegeln bestehen. Was siehst du?"

Charlotte dachte einen Moment nach. "Mich selbst. Viele Male."

"Ja. Die Spiegelbilder des Würfels füllen den Raum lückenlos aus, und einerlei, wohin du schaust, siehst du immer dich selbst. Na ja, ein Spiegelbild deiner selbst. Aber mathematisch müssen wir keinen Unterschied zwischen dir und deinem Spiegelbild machen. Das läuft darauf hinaus, gegenüberliegende Spiegel in Gedanken zu verkleben, gerade so, wie wir die Schnittkanten des Papiers zum Kegel verklebt haben. Aber jetzt haben wir einen dreidimensionalen Raum mit einer verrückten Geometrie. Beispielsweise trifft die gerade Linie, die von deiner Stirn aus nach vorn verläuft, schließlich wieder auf deine Stirn."

"Gerade Linien", grübelte Boris, "können also kehrtmachen?"

"Ja. Aber sie bleiben trotzdem gerade; und wenn du schon immer in einem Knotenkomplement gelebt hättest, würde dich das überhaupt nicht wundern. Nun denk dir eine andere Art Spiegel, die es in Wirklichkeit nicht gibt: solche, die nicht nur links und rechts, sondern auch oben und unten vertauschen. Nennen wir sie invertierende Spiegel. Wenn die Wände des Würfels aus invertierenden Spiegeln bestünden, dann sähst du auch viele Male dich selbst, aber zum Teil auf dem Kopf" (Bild 2).

"Ich bin aber ansehnlicher als das putzige Kerlchen da", meinte Boris.

"Es soll dir auch nur helfen, dich in eine spezielle Geometrie zu versetzen, und zwar in eine für das Komplement der borromäischen Ringe", erwiderte Annabell. "Das Video erklärt in allen Einzelheiten, warum sie das ist, aber ich will es kurz machen: An einem invertierenden Spiegel, so wie wir ihn eben definiert haben, wickelt sich der Raum gewissermaßen um sich selbst. Eine Art Raumverdrehung. Könnt ihr euch das vorstellen?"

"Na ja..."

"Gut. Nun nehmt die drei Schläuche, welche die borromäischen Ringe bilden, und zieht jeden von ihnen sehr lang, bis er dünn und fast überall gerade ist. Wie die Rennbahn eines Stadions, nur daß die geraden Teile viel länger sind. Wenn ihr es richtig macht, erhaltet ihr ein Paar paralleler Schläuche in Nord-Süd-Richtung, ein Paar in Ost-West-Richtung und ein Paar senkrecht zu den beiden anderen in vertikaler Richtung. An den Enden ist jedes Paar durch ein U-förmiges Stück verbunden, aber die schieben wir ins Unendliche hinaus, so daß es nicht mehr auf sie ankommt."

"Da treiben sich die Mathematiker überhaupt gerne herum. Aber gut."

"Es gibt eine ähnliche Anordnung von Linien auf einem Würfel. Zeichne je eine gerade Linie auf den Boden und den Deckel, jeweils durch die Mitte, von Norden nach Süden. Auf zwei gegenüberliegende Wände zeichnest du Linien in Ost-West-Richtung und auf die beiden verbleibenden Wände vertikale Linien, wieder in der Mitte. Jetzt kommt's: Stell dir vor, der Würfel trage an allen Seiten invertierende Spiegel. Dann läßt jeder Spiegel die Linie, die auf seiner Fläche verläuft, unverändert. Er stellt sie gewissermaßen nur auf den Kopf, aber das sieht man nicht. Aber wenn man alle anderen invertierenden Reflexionen ausführt, fügen die Bilder der geraden Linien auf den Würfelseiten sich so zusammen und reichen bis ins Unendliche wie die borromäischen Ringe, nachdem wir deren U-Stücke ins Unendliche weggeschoben haben. Und das bedeutet, daß der Raum darum herum – die komische Geometrie mit den vielen Kopien, von denen einige auf dem Kopf stehen – gerade so aussieht wie der Raum um die borromäischen Ringe herum."

"Das glaube ich dir lieber", sagte Charlotte.

Aber Boris war schon von etwas anderem fasziniert: "Das sieht ja aus, als wäre man in in einem riesigen Käfig und bewegte sich durch die Gitterstäbe heraus und hinein."

Rechtwinklige Dodekaeder

"Das ist der Teil mit dem Fliegen", erklärte Annabell. "Die Stäbe sind die Kanten von Dodekaedern. Nun, genaugenommen ist das immer dasselbe Dodekaeder, denn ihr müßt euch alles so zusammengeklebt denken wie bei den Seitenflächen des Würfels. In so einem Raum würde man wieder alle Dinge unendlichfach sehen. Dies ist eine andere Geometrie, mit der man das Komplement der borromäischen Ringe versehen kann. Sie verwendet eine andere Sorte Spiegel. So wie gewöhnliche Spiegel auf den Seitenflächen eines Würfels würfelförmige Bilder erzeugen, die den Raum ausfüllen, so machen nichteuklidische Spiegel als Seitenflächen eines Dodekaeders dodekaederförmige Bilder, die den nichteuklidischen Raum ausfüllen. Die Kanten dieser Körper bilden rechte Winkel, so daß vier Stück um jede Kante liegen, und deshalb kann man den ganzen Raum damit ausfüllen."

"Dodekaeder?" unterbrach Charlotte. "Körper mit zwölf fünfeckigen Seiten?"

"Genau."

"Aber deren Kanten treffen nicht im rechten Winkel zusammen."

"Im euklidischen Raum nicht. Aber dieser Raum ist nichteuklidisch, gekrümmt, wenn du willst – und zwar gerade so viel, daß die Dodekaederwinkel rechtwinklig werden."

"Aha."

"Schau hin! Du fliegst durch diesen Raum und kannst die verrückten Krümmungseffekte der nichteuklidischen Geometrie fast fühlen" (Bild 3; siehe auch Bild 1 aus "Der Tod des Beweises" von John Horgan, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1993, Seite 88).

"Nach einer Weile kommt man dahinter", gab auch Boris zu. "Ich würde gerne in so einem Raum leben. Da hat man viel Platz."

"Wie meinst du das?"

"Nun, wenn man da drin herumfliegt, sieht man, daß neben jedem Dodekaeder noch viele andere sind, mehr, als eigentlich dort hinpassen würden. Der Raum wird größer, als man denkt – um so mehr, je weiter man nach außen kommt."

"Das nennt man negative Krümmung. Daran siehst du, daß es sich um einen speziellen nichteuklidischen Raum handelt; man nennt ihn hyperbolisch. Und das ist hier der zentrale Punkt. William P. Thurston vom Mathematical Science Research Institute in Berkeley (Kalifornien) hat kürzlich entdeckt, daß fast alle Knoten- und Verkettungskomplemente eine natürliche hyperbolische Geometrie tragen; es gibt ein paar Ausnahmen, aber die sind alle bekannt. Und man kann mit Hilfe der geometrischen Struktur die übrigen Fälle klassifizieren. Das heißt, wenn zwei Knoten oder Verkettungen nicht äquivalent sind, gilt das auch für die geometrischen Strukturen ihrer Komplemente. Ein erstaunlicher Zusammenhang – fast hätte ich Verkettung gesagt – zwischen der flexiblen Topologie und der starren Geometrie der nicheuklidischen Räume. So ist jetzt ein sehr altmodisches Gebiet der Mathematik, die nichteuklidische Geometrie, wieder voll im Trend."

Literaturhinweise

- Mathematik. Probleme – Themen – Fragen. Von Ian Stewart. Birkhäuser, Basel 1990.

– Three-Dimensional Manifolds, Kleinian Groups and Hyperbolic Geometry. Von William P. Thurston in: Bulletin of the American Mathematical Society, Band 6, Seiten 357 bis 381, 1982.

– Not Knot. Knoten ohne Knoten. Videofilm. Hergestellt im Geometry Center, University of Minnesota. Videothek, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.