Direkt zum Inhalt

Spielpläne. Zufall, Chaos und die Strategien der Evolution


Der Wiener Mathematiker Karl Sigmund "gesteht" gleich zu Beginn, daß es "ein Buch über Mathematik sein wird – genauer, über die mathematischen Aspekte der Evolutionstheorie". Auch wer sich jetzt abgeschreckt fühlt, sollte weiterlesen. Denn es geht um Evolution und Spiel, und zwar auf höchst vergnügliche Weise. Beide Begriffe sind sehr weit gefaßt: "Evolution" schließt künstliches Leben nicht aus (Kapitel 2 behandelt selbstreplizierende Automaten im "Spiel des Lebens"), und "Spiel" schließt die Wahrscheinlichkeitstheorie mit ein (schließlich ist die Zufallsdrift von Genen – Kapitel 4 – im Prinzip nichts anderes als ein Würfelspiel). Der Schwerpunkt liegt mehr auf dynamischen als auf Gleichgewichtsaspekten, es geht also um Evolution im eigentlichen Sinne des Wortes.

Ein schönes Beispiel dafür ist der Pfauenschwanz, dem wir in Kapitel 6 "Evolution und Sex" begegnen. Wie der Pfau zu seinem prachtvollen Schwanz kam – das hat bereits Charles Darwin nicht nur beschäftigt, sondern regelrecht umgetrieben, sahen doch seine Kritiker darin ein Musterbeispiel für eine Struktur, die ihren Träger nicht lebenstauglicher, sondern flugunfähig macht und somit unmöglich durch natürliche Selektion entstanden sein könne. Darwin prägte als Ausweg den Begriff der "sexuellen Selektion": Die Weibchen finden die Männchen mit langen Schwanzfedern besonders anziehend und haben deswegen mit ihnen entsprechend zahlreiche Nachkommen.

Aber wie entsteht die Vorliebe der Weibchen? Dazu muß man dynamisch denken, und eine Möglichkeit ist der "runaway process", den Ronald A. Fisher (1890 bis 1962), der Begründer der modernen Statistik, ersonnen hat: Man stelle sich vor, in einer Bevölkerung von kurzschwänzigen Männchen und gleichgültigen Weibchen gebe es einige abweichende Individuen mit einem längeren Schwanz und einige mit der Vorliebe für denselben. Eine Fluktuation der Umweltbedingungen, die vorübergehend den längeren Schwanz begünstigt, kann dann so etwas wie eine Modewelle auslösen, die durch positive Rückkopplung zum Selbstläufer wird. Denn die Nachkommen der Mutantenpaare sind gut – aneinander – angepaßt, so daß sich die beiden neuen Gene in der Population durchsetzen. Sobald aber das Präferenz-Gen häufig ist, hat das Gen für den längeren Schwanz Vorteile, auch wenn der ursprüngliche Auslöser wegfällt. Falls Mutanten für noch längere Schwänze auftreten, werden nun sie bevorzugt, und so weiter. Der Trend ist nicht mehr aufzuhalten, zumindest bis die Grenze des Tragbaren oder des genetisch Machbaren erreicht ist.

Sexuelle Selektion ist also eine Nebenwirkung geschlechtlicher Fortpflanzung. Aber warum wird der Nachwuchs überhaupt auf so komplizierte Weise erzeugt? Der wesentliche Effekt geschlechtlicher Fortpflanzung ist die Neukombination von Erbanlagen in jeder Generation und dadurch eine größere Vielfalt in der Nachkommenschaft. Über den möglichen Nutzen gibt es vielfache Hypothesen, von der Evolutionsbeschleunigung in fluktuierenden Lebensräumen bis zur Hypothese von der Roten Königin.

Im Land der Roten Königin (einer Figur aus dem Roman "Alice hinter den Spiegeln" des englischen Schriftstellers und Logikers Lewis Caroll) müssen alle so schnell rennen, wie sie können, nur um an der Stelle zu bleiben, an der sie sich gerade befinden. So ergeht es auch der genetischen Programmierung des Immunsystems im Wettlauf mit Krankheitserregern, die schnell mutieren, so daß neue Linien den Abwehrmechanismen entgehen – wie etwa im Falle von AIDS (Spektrum der Wissenschaft, November 1995, Seite 52). Ein Spiel namens penny matching mag dies verdeutlichen: Jeder Spieler legt eine Münze auf den Tisch; stimmen sie überein, hat der eine Spieler gewonnen, sonst der andere. Wer in jeder Runde dieselbe Münze auf den Tisch legt, wird sofort vom Gegner durchschaut; wer sich immer wieder etwas Neues einfallen läßt, ist besser dran. Neue Genkombinationen können dem Immunsystem der nächsten Generation bessere Chancen geben, Gefährdungen zu begegnen. In diesem Sinne ist Evolution weniger das Erklimmen von Gipfeln maximaler Fitness als der verzweifelte Versuch, einen Sumpf zu verlassen.

Das penny matching game zwischen Immunsystem und Krankheitserregern leitet über zum Kapitel über evolutionäre Spieltheorie. Hier geht es um Interessenkonflikte zwischen Mitgliedern einer Art auf der Verhaltensebene. Kapitel 8 behandelt die Evolution der Kooperation, durchgeführt am Beispiel des Gefangenendilemmas (vergleiche "Das Einmaleins des Miteinander" von Martin Nowak, Robert May und Karl Sigmund, Spektrum der Wissenschaft, August 1995, Seite 46). Weitere Themen sind Populationsökologie und Chaos (Kapitel 3) sowie Populationsgenetik (Kapitel 5).

Die einzelnen Kapitel sind weitgehend unabhängig voneinander, man kann sie also so ungeordnet lesen, wie ich sie soeben zitiert habe. Man wird allerdings kaum eines überschlagen wollen. Denn Sigmund versteht die Kunst, gleichzeitig verständlich für den Laien, lehrreich für den Kenner und unterhaltsam für beide zu schreiben. Er vermittelt mathematische Einsichten, ohne den formalen Apparat zu bemühen; dennoch sind die Vereinfachungen nicht unzulässig. (Das Kapitel über evolutionäre Spieltheorie ist allerdings streckenweise nicht ganz leicht; man spürt die Nähe des Autors zum eigenen Arbeitsgebiet.) Viele aktuelle Ergebnisse sind aufgenommen. Die Dokumentation ist so mustergültig wie selten (nicht nur) bei allgemeinverständlicher Literatur. Und schließlich ist das Buch so fesselnd, daß ich es in einem Zug gelesen habe und beinahe das Umsteigen verpaßt hätte. Zahlreiche historische Anekdoten und ein subtiler Witz mit verzögerten Pointen halten den Leser gefangen.

Im Klappentext wird die "New York Times" zitiert, die Sigmunds "Spielpläne" so unterhaltsam findet wie einen Film der Marx Brothers. Ich würde das Buch lieber mit den Filmen von Jacques Tati vergleichen. Wie dem auch sei, es ist nur zu empfehlen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.