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Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace


Spätestens seit dem Erfolg der Personal Computer auf breiter Basis ist auch den weniger Eingeweihten klar, daß man mit einem Computer mehr als nur rechnen kann. Meistens beschränkt sich die Nutzung dann jedoch auf das Erstellen von schönen Briefen und Graphiken und auf das Videospiel. Die eigentliche Computerkunst (Graphik und Musik) ist entgegen allen Beteuerungen nur einem relativ kleinen Publikum vertraut.

Dies ist um so bemerkenswerter, als im künstlerischen Bereich viel eher als bei den Standardanwendungen die technische Art der Kommunikation zwischen Mensch und Computersystem für den schöpferischen Prozeß entscheidend sein kann. Im Normalfall bleibt dem Benutzer nur, mehr oder weniger intensiv die Tastatur zu betätigen oder kunstvoll ineinandergeschachtelte Menü-Hierarchien mit graphischem Bildschirm und Maus zu durchstreifen. Diese Interaktionsformen haben allerdings durch Lautlosigkeit und mangelnde Transparenz schon viele anfangs hoffnungsvolle Schöpfungsprozesse in der Mittelmäßigkeit versanden lassen. Vielleicht ist die mit dieser Technik verbundene geistige und körperliche Distanz einfach zu groß.

Eine Ausnahme bildet mit Sicherheit – obwohl von aufgeklärten Eltern, Pädagogen und ähnlich kompetenten Leuten immer wieder als Verdummungsmaschinerie verteufelt – das Videospiel. Wer einmal Kinder oder etwas offen gebliebene Erwachsene dabei beobachtet, wie sie im Spiel in eine völlig neue, andere Realität eintauchen, bemerkt häufig, daß nicht nur der Geist, sondern auch der ganze Körper in die Interaktion mit einbezogen wird. Dies gilt für primitive Kampfspiele ebenso wie für Super Mario und seine Kumpane oder Simulationen von Autorennen, das Fliegen von Flugzeugen, Zeitreisen und die Schatzsuche.

Im Ansatz ähnlich, aber weitaus perfekter sind die Möglichkeiten der virtual reality (VR), so daß ich selbst mich nur mit Mühe dieser Droge entziehen kann, um mich der Aufgabe der Rezension eines Buches über VR zu widmen.

Hat der Leser das erste einführende Kapitel überwunden (die entscheidenden Hürden liegen nicht so sehr in der Komplexität der Materie, sondern in der Vielfalt der beschriebenen Orte mit interessanten, modernen VR-Entwicklungen), so wird er im folgenden mit den Ursprüngen von VR bekannt gemacht, und zwar von einem Punkt aus, dem „Sensorama Simulator“ von Morton Heilig (1962), der den Spielhallen mit ihren Vergnügungsmaschinen doch sehr nahe liegt.

Es ist zu bewundern, mit welch liebenswürdiger Hartnäckigkeit der kalifornische Journalist Howard Rheingold die Väter von VR nicht nur aufgespürt, sondern auch ihre beruflichen Wege und gemeinsamen Zwischenstationen erkundet hat. Wenn man diese Informationen sucht und solche zur eng damit verknüpften Entwicklung der Arbeitsplatzrechner (Workstations) schätzt, kommt man sicherlich auf seine Kosten; von VR erfährt man aber herzlich wenig.

Ich bin sicher, daß man auch dem Leser eines populärwissenschaftlichen Buches die Grundzüge komplexer Techniken hätte zumuten können – Zeichnungen mit viel Farbe und plakativem Text tun da Wunder. Aber anscheinend ist dem Autor der Elan ausgegangen bei dem Versuch, die Gedankengänge verschiedener Ost- und Westküsten-VR-Freaks in allen Höhen und Tiefen nachzuvollziehen („Computerprogrammieren ist in Wirklichkeit ein Zweig des Filmemachens“). Die Segnungen der Computergraphik hat er trotz der Nähe zur VR nicht genutzt. Dies ist um so weniger verständlich, als Rheingold die verborgenen Pfade zum großen Geld mit Leichtigkeit aufspürt. Ein Youngster, immer auf der Suche nach neuen, noch attraktiveren Forschungslabors oder auf dem Absprung in die Selbständigkeit unter Vermeidung von Finanzierungsproblemen, kann da eine Menge lernen – über VR praktisch nichts.

Eine der interessantesten Computertechniken überhaupt, die zudem noch eine enge und schöpferische Verbindung zu bildender Kunst und Musik unter Einbeziehung einer echten Interaktion erlauben wird und dem menschlichen Geist die Schaffung neuer Universen ermöglicht, die in ihrer Vielfältigkeit, Komplexität und Dynamik völlig neue Kunstwerke darstellen können – diese Technik wird verkauft wie die praktische quadratische Tomate der Gentechnologie. Wenn erst der Preis für ein mit dem Kopf verbundenes Bildschirmpaar (head mounted display) oder einen Datenhandschuh, die erforderlichen Peripheriegeräte, auf den Wert einer Maus oder eines Videospiels gefallen ist, werde eine Industrie bereitstehen, die Menschheit mit den Segnungen dieser Technik in allen Bereichen, von der Finanzanalyse bis zur häuslichen Unterhaltung, zu beglücken. So verheißt Rheingold mit dem ungebrochenen Optimismus der Science-fiction-Autoren der fünfziger Jahre, als ob man den nicht schon vor einer Weile ohne Aufhebens beerdigt hätte.

Es gibt jedoch einen Trost für den Leser, der die Reise durch den Cyberspace bis zum Schluß, zur Technik des 21. Jahrhunderts, durchgehalten hat: Nun weiß er, in welche Aktien er seine Ersparnisse am Ende des 20. Jahrhunderts investieren sollte.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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