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Gebirgstunnel: Vom Urner Loch zum Neat-Projekt: das Abenteuer der Alpendurchquerung

Die kürzeste Verbindung zwischen Deutschland und Italien führt durch die Schweizer Alpen. Der Bau von Passstraßen und Tunnel entsprach stets dem Stand der Technik.


Dem einen bieten sie ein faszinierendes Panorama, dem anderen ein Verkehrshindernis – die Alpen. Etwa 300 Billionen Tonnen Gestein und Eis auf rund 72|000 Quadratkilometer teilen Europa in einen Süd- und einen Nordteil. Müßig zu fragen, wie sich Geschichte ohne diese Barriere entwickelt hätte. Ihre Überwindung durch Wege, Passstraßen und schließlich Tunnels ist ihrerseits ein Stück Geschichte, das nicht nur die Veränderungen in Politik und Wirtschaft, sondern auch die Entwicklung der Technik spiegelt. Nicht zuletzt ist es eine Geschichte, die von Unternehmern, Ingenieuren und einem Heer mutiger Mineure vorangebracht wurde. Beispiel Schweiz: Im Zentrum der Alpen gelegen wird mehr als ein Drittel ihrer Fläche vom Gebirge beherrscht. Wer auf dem kürzesten Wege von Deutschland nach Italien wollte oder umgekehrt, benutzte seit dem 12. Jahrhundert dazu den Pass über den Gotthard, doch erst im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurde dieser Weg durchgehend ausgebaut. Tatsächlich setzt diese Passstraße den Anfang in der Geschichte des Tunnelbaus in den Alpen. Denn in der Schöllenenschlucht, die von Göschenen nach Andermatt führt, versperrte lange der Chilchbergfels den Weg, und musste mit einem hölzernen, durch Hochwasser oft zerstörten Steg umgangen werden. Im Jahre 1707 sprengte der Tessiner Baumeister Pietro Morettini einen Durchgang von 64 Metern Länge in den Fels, das "Urner Loch". Es war 2,7 Meter hoch und fast ebenso breit, eine großartige Leistung seiner Zeit. Doch erst nachdem 1818 bis 1830 Urner und Tessiner vereint den Weg ausgebaut hatten, war er durchgehend für Wagen befahrbar.

Das industrielle Gründungsfieber des 19. Jahrhunderts förderte das neue Verkehrsmittel Eisenbahn. Güter wollten transportiert sein, und betuchte Reisende zog es in die Ferne. Eine Alpenquerung per Schiene tat Not. Österreich eröffnete deshalb im Jahre 1867 die Brennerlinie, und im Jahre 1871 übergaben die Franzosen den Mont-Cenis-Tunnel zwischen Frankreich und Italien dem Betrieb. Mit finanzieller Unterstützung Italiens und Deutschlands begann 1872 der Bau einer Gotthardbahn von den Schweizer Städten Göschenen und von Airolo aus. Zehn Jahre später wurde nach vielen Problemen das fast 15 Kilometer lange Bauwerk eingeweiht.

Die grundlegenden Arbeitsgänge sind auch heute noch die gleichen geblieben: Liegt der Plan von Geologen und Ingenieuren erst einmal fest, folgen Bohren und Laden der Sprenglöcher, Heraussprengen des Felsens, Abtransport des Schutts und Sicherung der Stätte gegen eventuell nachrutschenden Fels (damals zunächst durch stützende Holzkonstruktionen und anschließendes Ausmauern, später durch Verschalen und Ausbetonieren, heute mehr und mehr mit vorgefertigten Betonelementen, so genannten Tübbingen, die meist noch mit Innenringbeton ausgekleidet werden). Hatten Pietro Morettini und seine Arbeiter noch mit Hammer und Meißel die Sprenglöcher in die Ortsbrust – die jeweils im Tunnelquerschnitt stehende Felsfläche – eingebracht, trieb Pressluft im Mont-Cenis- und zunächst auch im Gotthard-Tunnel einen Bohrer in den Fels. Diese "Sommeiller Stoßbohrmaschinen" wurden noch in der zehnjährigen Bauzeit durch hydraulische Bohrmaschinen des Ingenieurs Brandt aus Hamburg ergänzt: Ein Druckluft-Motor versetzt einen Zylinder in Rotation, Wasserdruck presst ihn und den mit ihm verbundenen Bohrer an den Fels; der Bohrer ist hohl und trägt drei Zähne auf seinem Rand, die nun das Gestein zermalmen.

Alfred Nobels Erfindung des Dynamits 1865 ersetzte Schwarzpulver durch explosivere Sprenggelatine, einem Gemisch aus 92 bis 93 Prozent Nitroglyzerin und 7 bis 8 Prozent Nitrozellulose; zur Abstufung der Sprengkraft gab man ihr noch Natronsalpeter und Holzmehl zu. Waren am Mont Cenis noch 80 Sprenglöcher mit Schwarzpulver zu füllen, taten am Gotthard 24 mit Dynamit beladene die gleiche Wirkung.

Der Hauptvortrieb erfolgte an Hunderten von kleinen Arbeitsstellen, und somit wurden gleichzeitig Vortrieb, Ausweitung und Ausmauerung auf eine lange Strecke verteilt. In Göschenen wie in Airolo erreichten zwischen 1000 und 2000 Arbeiter fast den gleichen Vortrieb pro Angriff wie hundert Jahre später maximal 300 Mann trotz besserer Geräte.

Und unter welchen Bedingungen gingen diese Menschen zu Werke! Eine gute Belüftung war noch nicht möglich. Hinzu kam die damals unverstandene tödliche Staublunge. Die Ärzte sprachen von "Blutschwäche", vermuteten Würmer, verunreinigtes Wasser und anderes als Ursachen. Erst viel später stellte sich Quarzstaub als der Risikofaktor heraus: Wird er eingeatmet, gelangt das feine Material bis in die Verästelungen der Lungenflügel und zerstört das Gewebe. Nur einer erkannte dieses Problem schon am Gotthard-Tunnel, der aus Sachsen-Weimar stammende Geologe Friedrich Moritz Stapff (1836–1895), dessen 75 Meter langes geologisches Längen- und Situationsprofil des durchquerten Gebirges die Fachwelt heute noch bewundert. Er wog die verschmutzte Luft und empfahl daraufhin den Mineuren, nass zu bohren. Das war mit der Brandtschen Bohrmaschine möglich, denn ein Wasserstrahl, der aus dem Bohrer austritt, schwemmt das zertrümmerte Gestein fort und reduziert so unmittelbar die Staubentwicklung.

Rund ein Dutzend Ingenieure und 20|000 italienische Arbeiter haben den Gotthard-Tunnel gebaut. Die Spedition von Gütern zwischen Luzern und Mailand brauchte nun nicht mehr Tage, sondern lediglich noch acht bis zehn Stunden. Bezahlt haben dieses Riesenwerk vor allem 146 Unfalltote, 350 Verletzte und die Beteiligten an weiteren 4|380 Unfällen mit nur vorübergehender Erwerbsunfähigkeit. Hunderte, die an Silikose erkrankten, sind in dieser traurigen Bilanz noch nicht erfasst!

Als nächster Tunnel wurde 1898 der durch den Simplon begonnen. Erstmals waren zwei Röhren für jeweils eine Schienenspur vorgesehen. Aus Kostengründen entstand zwar zunächst nur eine davon (Einweihung 1906), doch die zweite ließen die Ingenieure als Parallelstollen für Belüftung und Transport bereits anlegen (sie wurde 1921 vollendet). Fast 20 Kilometer lang arbeiteten sich die Mineure von Brig im Wallis (Schweiz) bis zum Lago Maggiore (Italien) durch den Fels. Für die Herstellung des Sprengstoffs wurde übrigens eigens eine Fabrik in Baustellennähe gebaut. Der Transport erfolgte unter Polizeischutz mit Maultierfuhrwerken.

Richtung Norden sollte die Lötschbergbahn diese Strecke weiterführen. Doch als die Arbeiter unter dem Gasternertal unvorhergesehen auf wassergefülltes Lockergestein trafen, stürzte der Stollen ein und 25 Mann kamen ums Leben. Der Tunnel musste dieses Gebiet umgehen, anschließend aber wieder in die ursprünglich veranschlagte Gerade einmünden – ein noch nicht da gewesenes Unterfangen. Dazu wurden drei Kurven von jeweils 1100 Metern Radius und insgesamt 2267 Metern Länge ausgemessen. Die Ingenieure steckten dafür Polygone von 100 Metern Seitenlänge mit Pflöcken ab und bestimmten dann mit Theodoliten und Messlatten die Winkel und Sehnen. Eine "Meisterleistung der Vermessungskunst", lobte 1911 die "Schweizerische Bauzeitung": Die abschließende Kontrolle ergab eine Richtungsabweichung der Tunnelachse von nur 25,7 Zentimeter; in der Länge waren es 41,0 und in der Höhe 10,2 Zentimeter.

Anfang der 1950er Jahre erfasste eine Welle der Motorisierung ganz Europa, Touristen wollten rasch von Deutschland nach Italien. Passstraßen wurden jetzt ausgebaut, die Schweizer Nationalstraßen und in den sechziger Jahren außerdem Straßentunnels angelegt. Dazu gehört der Gotthard-Tunnel, der wie der Bahntunnel in Göschenen sowie in Airolo beginnt und endet, in der Linienführung aber dem Gotthardpass folgt.

Der Tunnelbau hatte mittlerweile seinen Charakter verändert, orientierte sich nicht mehr am Handwerksbetrieb, sondern an der industriellen Produktion. So wurden in Göschenen so genannte Jumbos aufgefahren, große Maschinen, die mit fast einem Dutzend Bohrarmen gleichzeitig arbeiten und den Mineuren ein festes Schutzdach bieten. Doch das Gebirge erwies sich als tückisch. Nach dem zweiten tödlichen Unfall verzichteten die Ingenieure darauf, das gesamte Tunnelprofil, das einer Fläche von 65 bis 80 Quadratmetern entspricht, auf einmal auszusprengen. Stattdessen wurde nun in Abschnitten von etwa 250 Metern Länge immer erst die obere Hälfte des Tunnels ausgesprengt und mit Ankern, Netzen und Spritzbeton abgesichert, danach die untere Hälfte.

Von Airolo aus ging ein so genannter Slidingfloor in Betrieb, das ist ein gleitender, mehrteiliger Stahlboden von damals 240 Metern Länge, den hydraulische Pressen vorwärts bewegten. Er trug ein Schutzgerüst, unter dessen Dach die Sicherungsarbeiten durchgeführt und die Transportwaggons beladen werden konnten. Gebohrt wurde mit zwei neuentwickelten fahrbaren Jumbos mit zehn Bohrarmen.

Anfangs kamen noch pneumatische, also mit Druckluft angetriebene Bohrhämmer zum Einsatz. Die machten nicht nur einen höllischen Lärm von 115 Dezibel, sie benötigten auch ein kompliziertes System von bis zu 30 Zentimeter dicken Druckluftleitungen. Nach 1970 wurden sie von ölhydraulischen Werkzeugen abgelöst. Ölgefüllte Druckleitungen sind nur wenige Zentimeter dick, zudem lässt sich die aufgewendete Energie effektiver in Druck umsetzen. Diese Maschinen steigerten die Bohrleistung um das Zwei- bis Dreifache und machten weniger Lärm.

Als letzte Alpenquerung des 20. Jahrhunderts wurde der Schmalspur-Eisenbahntunnel von Klosters im oberen Prättigau nach Susch-Lavin im Unterengadin durch das Vereina-Massiv gebaut. Die neue Verbindung – die auch eine Autoverladung beinhaltet – verkürzt die Reisezeit ins Unterengadin um mehr als zwei Stunden. Der Vereina-Tunnel ist jeweils am Anfang und Ende auf zwei Kilometer doppelspurig und in seiner Mitte mit einer ebenfalls zwei Kilometer langen Kreuzungsstation ausgebaut.

Dass seine Errichtung nur 6,5 Jahre gedauert hat, ist sicher dem Einsatz einer Tunnelbohrmaschine auf etwa 11 seiner 19 Kilometer zu verdanken. Diese Giganten wurden seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA als Alternative zum Sprengvortrieb entwickelt. Es sind riesige Fräsen, die den gesamten Stollen- oder Tunnelquerschnitt mechanisch aufbohren, sich sozusagen durch das Gestein fressen. Das bewerkstelligt ein mit Rollenmeißeln bestückter Bohrkopf, der unter ständigem Drehen gegen die Ortsbrust gedrückt wird. Immer widerstandsfähigere Rollenmeißel und eine höhere Drehzahl sowie ein automatisierter Ausbau mit Stahlbeton-Fertigteilelementen ermöglichen heute im Schnitt 20 bis 30 Meter Tunnel pro Tag.

Normalerweise wird heute zuerst ein mit Stahlmatten bewehrtes Spritzbetongewölbe zur Sicherung auf die Felsoberfläche aufgetragen und anschließend durch ein zweites Gewölbe aus Beton mit einer entsprechenden formgenauen Tunnelschalung verstärkt; dazwischen kann eine wasserundurchlässige Isolation aus Kunststoff liegen. Der Vereina-Tunnel hingegen erhielt kostengünstiger ein einziges mit Spritzbeton hergestelltes Gewölbe; es übernimmt dort sowohl die Felssicherung als auch die Auskleidung.

Ganz ähnlich sollen die geplanten Bauten der "Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen" (Neat) realisiert werden. Diese neuen Vorhaben resultieren aus der aktuellen Verkehrsentwicklung: In den beiden letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich der Straßengütertransport am Gotthard etwa verzehnfacht; die Zahl der Bahnreisenden hingegen ist seit 1980 um 40 Prozent zurückgegangen.

Um die Bahn wieder konkurrenzfähig zu machen, muss die Qualität und Produktivität im Güterverkehr verbessert und die Reisezeit im Personenverkehr verkürzt werden – beispielsweise durch Hochgeschwindigkeitszüge. Verschiedene Studien sagen bis 2015 ein dramatisches Anwachsen des gesamten Verkehrs durch die Schweizer Alpen vo-raus, sogar eine Verdopplung ist dabei nicht ausgeschlossen.

Der Ausbau von zwei vorhandenen Nord-Süd-Linien soll deshalb den Anschluss an die europäischen Hochgeschwindigkeitsnetze sicherstellen. Die Lötschberg-Simplon-Linie durchquert das Land im Westen von Bern kommend durch das Berner Oberland via Wallis nach Domodossola. Die zweite Verbindung folgt der alten Gotthardlinie von Zürich/Luzern bis Chiasso/Mailand; dazu wird der Gotthard-Basistunnel durch den Ceneri- und durch den Zimmerberg-Basistunnel ergänzt. Beide Projekte sollen innerhalb der nächsten zehn Jahre betriebsbereit sein. Das ermöglichen automatisierte Tunnelbohrmaschinen mit ausgeklügelten Logistiksystemen, die eine weit reichende Industrialisierung der Fertigung vor Ort ermöglichen. Der traditionelle handwerkliche Sprengvortrieb, der Einsatz von Mensch und Leben, wird wohl künftig nur noch bei sehr schwierigen, wechselnden Gebirgsverhältnissen oder bei relativ kurzen Tunnel die bessere Wahl darstellen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 84
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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