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Wissenschaftler sollen ihre Prioritäten selbst bestimmen

Der aufgeregten Auseinandersetzung in Deutschland um grundlagenorientierte und angewandte Forschung hat der Wissenschaftsrat jetzt eine klare Linie vorzuzeichnen versucht. Die „Empfehlungen zu einer Prospektion für die Forschung“, die er am 8. Juli verabschiedete, erschienen im vorhinein vielen Wissenschaftlern als Anregung zur externen Planung verdächtig – zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt.

Schwerpunkte in der Forschung und ihrer Förderung sind unerläßlich. Sie sollten allerdings wissenschaftsgeleitet gesetzt werden: Wer erkennen will, was künftig bedeutsam sein dürfte, müsse außer den Bedürfnissen der Gesellschaft auch der Leistungsfähigkeit des Systems gerecht werden, das sie befriedigen soll, verlangt der Wissenschaftsrat.

Die Mittel sowohl der öffentlichen wie der privaten Hand sind nun einmal begrenzt. Deshalb bedarf es einer Art Rangliste für ihre Verteilung. Die bisherigen regierungsamtlichen Vorausschauen auf die technologische Entwicklung oder etwa auch die "Perspektiven der Forschung und ihrer Förderung" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 123) konnten dies aber so umfassend, wie der Wissenschaftsrat es sich vorstellt, nicht leisten – ganz zu schweigen von den vielen, teils interessengebundenen Einzelaktionen wie dem sogenannten Weule-Gutachten (Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 121).

Für die nun anstehende Prospektion schlägt der Wissenschaftsrat – ohne sich dabei auf Details einzulassen – vier Elemente vor:

- Sowohl bei den Analysen und Studien, was in Zukunft zu tun sei, als auch bei der Nutzung und Umsetzung der Ergebnisse müßten Wissenschaftler "möglichst breit" einbezogen werden, damit verhindert werde, daß Wissenschaft von außen gesteuert wird.

- Ein Netzwerk der – bislang ziem-lich vernachlässigten – Wissenschaftsforschung soll mit herkömmlichen Methoden forschungspolitischer Entscheidungen, etwa fachkollegialer Begutachtung (peer review), verknüpft werden.

- Eine 18 bis 20 Mitglieder zählende Kommission soll über die Themen und Methoden prospektiver Analysen und Studien entscheiden. An dieses Gremium werden freilich fast nicht zu erfüllende Ansprüche gestellt – es soll unabhängig, multidisziplinär und international zusammengesetzt sein, aus ausgewiesenen Wissenschaftlern und forschungspolitisch erfahrenen Persönlichkeiten bestehen, die aus öffentlich finanzierten und industriellen Forschungseinrichtungen kommen, und schließlich, da es ja um die Zukunft geht, mit einem "angemessenen Anteil" jüngerer Wissenschaftler besetzt sein; seine Arbeitsergebnisse sollen breit gestreut werden.

- Ein nicht näher definiertes Aufsichtsgremium stimmt das Arbeitsprogramm der Kommission ab, eine Geschäftsstelle koordiniert es.

Aufgaben der Beteiligten an einer so organisierten Prospektion wären es, vorhandene Untersuchungen zu sichten, auszuwerten und zu nutzen, zielgerichtet vorausschauende Analysen und Studien von Forschungsfeldern zu erarbeiten, die Methodik der Prospektion selbst weiterzuentwickeln sowie mit externen Wissenschaftlern oder Institutionen zusammenzuarbeiten. Die Ergebnisse und eventuelle Vorschläge für Ranglisten sollen an Institutionen der Forschung und der Forschungsförderung gehen. "Aufgrund ihres innovativen Charakters", heißt es in dem Papier, sollten sie ein Angebot zur Bereicherung der jeweils speziellen Förderaktivitäten und Förderschwerpunkte darstellen. Dabei beruft sich der Wissenschaftsrat auf die Praxis des amerikanischen National Research Council.

Bedeutsamer als die Beschreibung von Aufgaben und Organisation dieser Art, Prioritäten zu setzen, und als der kurze Überlick über entsprechende nationale Aktivitäten in anderen Ländern sowie internationale Ansätze dazu ist, wie der Wissenschaftsrat seine Empfehlungen begründet. Er folgt darin im wesentlichen Überlegungen des Konstanzer Philosophie-Professors Jürgen Mittelstraß. Danach korrespondieren dem Wandel der Forschungsförderung zum Instrument der staatlichen Technologiepolitik tiefgreifende strukturelle Veränderungen im Verständnis von Forschung überhaupt: Die traditionelle Unterscheidung von grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung hält Mittelstraß nicht mehr für geeignet, die Forschungsprozesse angemessen zu charakterisieren, weil Technik nicht mehr nur Folge, sondern auch Voraussetzung von Wissenschaft ist.

Nun wird einen zwar jeder auch noch so kurze Abriß der Instrumentenkunde belehren, daß dies – wenngleich in graduell anderem Maße – immer so war. Aber es kommt auf die Konsequenzen an. Mittelstraß und der Wissenschaftsrat plädieren dafür zu unterscheiden:

- erkenntnisorientierte Grundlagenforschung, "deren Ergebnisse keine prak-tischen Anwendungen erwarten lassen",

- anwendungsorientierte Grundlagenforschung als einen Typ, "von dessen Ergebnissen Anwendungen zwar langfristig erhofft werden", die aber nicht direkt umgesetzt werden können, und

- produktorientierte Anwendungsforschung als solche, "die entweder bereits mit Blick auf besondere Anwendungen stattfindet oder solche Anwendungen kurzfristig erwarten läßt".

Diese Dreiteilung findet sich in ähnlicher Weise bereits in den "Perpektiven" der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1992. Darin war allerdings die Trennung der erkenntnis- und der anwendungsorientierten Grundlagenforschung von der Anwendungsforschung im Interesse der industriellen Verwertung und der Produktentwicklung noch klarer – daher auch die deutliche Zurückhaltung der DFG gegenüber jeder Form von außengesteuerter Planung. Der Wissenschaftsrat tendiert dagegen dazu, diese Grenzen etwas zu verwischen. Er definiert Prospektion künftiger wissenschaftlicher Entwicklungen als den "Versuch, neuartige Forschungsaufgaben und Forschungsfelder zu identifizieren, deren Bearbeitung dazu beitragen soll, wissenschaftliche Erkenntnisse in sich herausbildenden oder auf bisher vernachlässigten Gebieten zu gewinnen und gesellschaftlich, wirtschaftlich oder ökologisch wünschenswerte Innovationsprozesse voranzutreiben beziehungsweise einzuleiten".

Die strategische Auseinandersetzung mit langfristigen Entwicklungszielen in Forschung und Technologie soll bewirken, daß sich die Wissenschaftler untereinander verständigen und selbst steuern, und auch den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft anregen. Werden so frühzeitig die langfristigen Potentiale bestimmter, eventuell neuer Forschungsfelder aufgezeigt, sollte sich eher ein Konsens über Innovationsprozesse erzielen lassen. Damit tragen die Empfehlungen des Wissenschaftsrats auch dazu bei, daß die vor den Bundestagswahlen hektisch gewordene Diskussion über Prospektion auf dem Gebiet der Forschung wieder sachlicher geführt werden kann.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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