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Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung - stabil durch Innovation

Eine Art Großforschungseinrichtung für die Sozialforschung: das war im Herbst des gesellschaftlich unruhigen Jahres 1968 ein revolutionärer Gedanke. Gleichwohl gelang es 15 Abgeordneten der drei großen westdeutschen Parteien, ihn zu realisieren. Vor 25 Jahren, am 3. Februar 1969, gründeten sie dafür eine private Trägergesellschaft. Seit 1976 wird das heutige Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) als Institut der Blauen Liste zu 75 Prozent vom Bund und zu 25 Prozent vom Land Berlin getragen.

Die anspruchsvolle und umstrittene Gründung des WZB wurde mißverstanden; es war linken Kritikern ein Symbol des Kapitalismus ("GmbH-Universität für die Mandarine der Zukunft") und stieß bei Hochschulen und Wissenschaftsrat auf prinzipielle Ablehnung. Einmal etabliert, mußte sich diese Institution immer wieder selbst überprüfen und oft von außen bestimmten inhaltlichen und organisatorischen Änderungen fügen; sie wurde mehr als einmal totgesagt und überzeugte dennoch mit unkonventionellen Forschungsansätzen und -ergebnissen.

Weder für die Struktur einer sozialwissenschaftlichen Großforschungseinrichtung noch für ihre Orientierung an gesellschaftlich wichtigen Problembereichen gab es 1969 Modelle. Das WZB sollte mit acht Projekt- und Institutionsvorschlägen, von denen nur das Internationale Institut für Management und Verwaltung (IIMV) verwirklicht wurde, ein sowohl disziplinenübergreifendes als auch internationales Zentrum für damals neuartige Forschungen werden – außerhalb der Universitäten, aber in enger Verbindung mit diesen. Doch dieses Verhältnis war zunächst sehr gespannt, bis schließlich 1976 ein Kooperationsvertrag mit den beiden Westberliner Universitäten geschlossen wurde, dem neuerdings auch die Humboldt-Universität beigetreten ist.

Der Wissenschaftsrat hat die Entwicklung des WZB in fünf kritischen Stellungnahmen zu Institutsplänen und zur Personalpolitik maßgeblich beeinflußt. Dem IIMV schrieb er 1970 die Erforschung der Organisation von Planungs-, Entscheidungs- und Führungsaufgaben in Verwaltung und Wirtschaft zu; es solle eine Lücke in der Grundlagenforschung schließen. Als weithin anerkanntes Forschungsinstitut, so stellte der Wissenschaftsrat dann 1981 in einer umfassenden Bewertung fest, bearbeitete es die Schwerpunkte Arbeitsmarkt-, Regional- und Sektoralpolitik, Industriestruktur sowie Organisation und Management.

Das 1974 wie weitere Einrichtungen außerhalb der ursprünglichen Projektvorstellungen gegründete Internationale Institut für Vergleichende Gesellschaftsforschung (IIVG), so hieß es in dieser Evaluation weiter, zeige bei der Untersuchung globaler Entwicklungen hohe wissenschaftliche Qualität, insbesondere bei der Arbeit an dem von Karl W. Deutsch und Stewart Bremer geleiteten computerisierten Weltmodell "GLOBUS". Einschränkende Kritik: Es gehe zu global vor. Anerkennung und Förderung verdiene dagegen der zweite Schwerpunkt, der die innerhalb hochindustrialisierter Gesellschaften entstehenden Belastungen und die Möglichkeiten, sie zu bewältigen, untersucht.

Skeptischer wurde das Internationale Institut für Umwelt und Gesellschaft (IIUG) beurteilt. Es hatte ein breites Themenspektrum in Angriff genommen, die Arbeiten seien aber "von recht verschiedenartiger Qualität", meinte der Wissenschaftsrat. Das IIUG solle sich stärker auf bestimmte Schwerpunkte konzentrieren, zum Beispiel auf Umweltpsychologie und Implementationsforschung oder bestimmte Umweltbelastungen. Der Haushaltsausschuß des Bundestages hat dem IIUG außerdem nahegelegt, sich mit Fragen der Technologiebewertung zu befassen.

Seit 1978 trat das WZB stärker an die Öffentlichkeit mit jährlich mehr als 200 Eigenpublikationen. Die bis heute 62 "WZB-Mitteilungen" sind aktuelle Überblicke der wissenschaftlichen Projekte, die bisher gut 50 Ausgaben von "WZB-Forschung" weisen auf neue Arbeiten hin. Dazu kamen Buchreihen sowie Berichte und Ergebnisse aus der laufenden Forschung. Jährlich fanden, so der Stand 1981, am WZB zwischen 25 und 30 Konferenzen statt. Seltsamerweise erschien der erste Jahresbericht erst 1983 für 1981, danach allerdings kamen regelmäßig Zweijahresberichte heraus.


Technologiepolitik und Politikverflechtung

Forschungsthemen am WZB waren in den ersten 15 Jahren zum Beispiel Technologiepolitik als Element der Strukturpolitik, Regionalpolitik in den EG-Ländern, Sozialbilanzen, neue Chancen für Sozial- und Marktinnovationen durch Politisierung der Wirtschaft, Politikverflechtung im föderalistischen System, Dienstleistungen im sozialen Bereich, im Gesundheitswesen und in der Rechtshilfe, Umweltbewußtsein, Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitslose Akademiker, Risiken der Technologie, aktive Gestaltung der Beziehungen zwischen Gesellschaft und natürlicher Umwelt, Auseinandersetzungen um Technikfolgenabschätzung und um einen möglichen Wissenschafts-Gerichtshof sowie schließlich die Entwicklung von GLOBUS (Generating Long-Term Options by Using Simulation).

Nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1981 hatten jahrelange heftige Strukturdebatten, die auch stark vom Regierungswechsel 1982 berührt wurden, eine grundlegende Neufassung des Gesellschaftsvertrages im Herbst 1985 zur Folge. Die alten Institutsbezeichnungen entfielen, der Name des WZB wurde um den Zusatz "für Sozialforschung" erweitert.

Die Reformer erhofften größere Autonomie und einen längeren Duktus für die Forschung, die sich nicht in kurzatmigen Aktualitäten der Tagespolitik verheddern sollte. Doch befürchteten manche Wissenschaftler, das Besondere des WZB und sein Bezug zur Politik gehe damit verloren; die Ausrichtung auf Anwendungen werde durch eine auf Probleme ersetzt, und das sich nunmehr als Einrichtung der Grundlagenforschung verstehende WZB büße seine Interdiszi-plinarität und seine internationale Perspektive ein.

Entsprechend den Strukturänderungen des Jahres 1985 stellen sich die heutigen Forschungseinheiten des WZB und ihre Leiter so dar: Der Forschungsschwerpunkt I "Arbeitsmarkt und Beschäftigung" umfaßt die Abteilungen Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung (Günther Schmid), Organisation und Beschäftigung (Hedwig Rudolph) sowie Wirtschaftswandel und Beschäftigung (David Soskice), der Forschungsschwerpunkt II "Technik – Arbeit – Umwelt" die Abteilungen Organisation und Technikgenese (Meinolf Dierkes), Regulierung von Arbeit (Frieder Naschold), Normbildung und Umwelt (Wolfgang van den Daele), die Forschungsgruppe Große technische Systeme (Bernward Joerges) und eine Forschungsprofessur (Udo E. Simonis), der Forschungsschwerpunkt III "Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse" die Abteilungen Öffentlichkeit und soziale Bewegung (Friedhelm Neidhardt), Institutionen und sozialer Wandel (Hans-Dieter Klingemann) und ebenfalls eine Forschungsprofessur (Max Kaase); zum Forschungsschwerpunkt IV "Marktprozeß und Unternehmensentwicklung" (geleitet von Horst Albach und einem derzeit nicht Nominierten) gehört eine weitere Forschungsprofessur (David B. Audretsch). Schließlich gibt es Forschungsgruppen beim Präsidenten: Internationale Beziehungen (Wolf-Dieter Eberwein), Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik (Rolf Rosenbrock), Wissenschaftsstatistik (Werner Meske) und Sozialberichterstattung (Roland Habich).

Präsident des WZB ist – nach Meinolf Dierkes (seit 1980) und dem ersten Generalsekretär Helmut G. Meier – seit 1987 Wolfgang Zapf. Administrativer Geschäftsführer war seit 1986 Erwin Jost. Unter seiner Nachfolgerin Christiane Neumann sind die Bereiche Personal und Allgemeine Verwaltung eine bemerkenswerte weibliche Domäne geworden: Mit einer Ausnahme sind alle 20 Leitungspositionen mit Frauen besetzt.

Vorsitzender des elfköpfigen Kuratoriums, das die Grundzüge der Forschungspolitik des WZB beschließt und in allen forschungspolitischen und finanziellen Fragen mitwirkt, ist derzeit Bernd Neumann, Parlamentarischer Staatssekretär beim BMFT. Dem 18 Mitglieder zählenden externen WZB-Beirat sitzt Burkard Lutz vor, der an der Universität München lehrt und das dortige Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung leitet. Der interne Wissenschaftliche Rat wird von Zapf geleitet; Sprecherin ist Gerlinde Dörr aus der Abteilung Regulierung von Arbeit.

Die Gesamtausgaben des WZB sind bis 1991 auf 18,3 Millionen Mark jährlich gestiegen, davon waren aber beachtliche 8,3 Millionen Mark Drittmittel. Im Mai 1988 zogen die bis dahin auf vier Standorte in Berlin verteilten Arbeitseinheiten in einen Neubau, der am Reichpietschufer in der Nähe der Staatsbibliothek liegt und das alte Reichsversicherungshauptamt einschließt (Bilder 1 und 2).


Die staatliche Einigung: große Chance für das WZB

Was zunächst wie isolierte Lage aussah, entpuppte sich eineinhalb Jahre später als Mittelpunktsposition: Nach dem Fall der Mauer im November 1989 rückte der in der gesamtdeutschen Hauptstadt zentrale Potsdamer Platz in zehn Minuten Gehentfernung. Viele Wissenschaftler aus Ostberlin und der ehemaligen DDR besuchten damals das WZB und nutzten seine Arbeitsmöglichkeiten; es übernahm dann 1992 auch Mitarbeiter der ehemaligen Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR, so daß der Neubau mittlerweile schon wieder zu klein ist und demnächst erweitert werden muß.

Auch in den Forschungsthemen des WZB spielen die Prozesse der deutschen Einigung und die Transformation der ostdeutschen wie der ost- und mitteleuropäischen Strukturen eine wichtige Rolle, wie den "WZB-Mitteilungen" vom Dezember 1993 zu entnehmen ist. Es ersetzt damit einen Teil der Arbeit des Instituts für Gesellschaft und Wissenschaft in Erlangen, dem das BMFT vor einem Jahr die Mittel gestrichen hat, weil es seine Aufgabe – die laufende Beobachtung der mittel- und osteuropäischen Wissenschaftsszene – erfüllt habe.

So befaßt sich die WZB-Forschungsgruppe Wissenschaftsstatistik zur Zeit mit der Forschungsförderung in der ostdeutschen Wirtschaft, hat wichtige Materialien zur Um- und Neugestaltung des Hochschulwesens in Ostdeutschland zusammengestellt (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 115) und analysiert zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wie die industrie-orientierte Forschung an der AdW betrieben worden war.

In der Abteilung Organisation und Beschäftigung werden generelle Aspekte der gesellschaftlichen Transformation im Osten, in der Arbeitsgruppe Sozialberichterstattung die Folgen der Einheit für Ost- und Westdeutschland, im Forschungsschwerpunkt Sozialer Wandel die Entwicklung der Parteiensysteme in der damaligen DDR und im Forschungsschwerpunkt Arbeitsmarkt und Beschäftigung die Wirkung der europäischen Deregulierung der befristeten Beschäftigung in Ost- und Westdeutschland untersucht.

Die Entwicklung in der heutigen Europäischen Union (EU) war und ist eines der Hauptthemen im WZB. Es geht aktuell zum Beispiel um den Kündigungsschutz (im Schwerpunkt I) sowie um Umweltschutz und industrielle Beziehungen (im Schwerpunkt II).

Japan ist für den Schwerpunkt IV "Marktprozeß und Unternehmensentwicklung" ein besonders interessantes Objekt. Die japanischen Innovationsstrategien werden mit denen Europas und der USA verglichen, die informationelle Vernetzung des regionalen Wirtschaftspotentials in Japan wird analysiert.

Dabei verhält es sich durchaus nicht so, daß bescheidenere Themen keine Chance hätten. Die Architektur der Räume für Wissenschaftler etwa findet ebenso Interesse wie die Frage, warum wer zur Prominenz zählt.

Bernhard Wilpert, ehemals erster Wissenschaftler am WZB (er lehrt nun an der Technischen Universität Berlin), bestätigte auf einem bilanzierenden Symposium am 16. November 1993, man habe mit einer "Gegenuniversität" das Auswandern der Forschung aus der Hochschule stoppen und Berlin in die internationale wissenschaftliche Welt einbinden wollen. Das allerdings widersprach der Erwartung der Politiker, die vom WZB verlangten, sozialwissenschaftlich die bundesdeutschen Forschungs- und Technologieprogramme zu begleiten.

Als Gründungsdirektor des IIMV hatte James E. Howell der Grundlagenforschung, der internationalen Dimension und der theoretischen Verallgemeinerung zugeneigt. Das Bundesforschungsministerium dagegen hatte abrufbares Wissen darüber verlangt, zu welchem gesellschaftlichen Bedarf Forschung und Entwicklung zu fördern seien. Der an der Rettung des WZB nach seiner ersten Krise 1973 maßgeblich beteiligte damalige Beamte in diesem Ministerium, Ekkehard Wienholtz, bestätigte bei dem Berliner Symposium jetzt diese damalige Absicht, zeigte sich allerdings enttäuscht darüber, daß die Forschungsergebnisse des WZB von der Politik nicht abgenommen wurden.

Fritz W. Scharpf, zweiter Direktor des IIMV und jetzt am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung tätig, sprach den Zwiespalt an zwischen problemorientierter Politikberatung, die beim Adressaten doch nicht ankomme, und langfristiger Grundlagenforschung, die sich ihre Gegenstände nach wissenschaftlichen Kriterien wählen kann. Die von Franz E. Weinert vom Münchener Max-Planck-Institut für psychologische Forschung gerügte Tendenz, Forschung zu politisieren und ihre Ergebnisse im vorhinein festzulegen, ist nach dem Ende der sozialliberalen Koalition wieder umgekehrt worden: Die dritte Umstrukturierung 1985 rückte die Grundlagenforschung neuerlich nach vorne. Das WZB hat nach Scharpfs Urteil seither wesentlich zur Entwicklung von Methoden und zur Professionalität der Sozialwissenschaften an den Universitäten beigetragen. Während es sich zuvor auf wenige Themen spezialisiert hatte, deckt es heute den gesamten Bereich der Sozialforschung ab.

Das WZB wäre aber keine lebendige und lebensfähige Institution, wenn es Fragen seiner thematischen Ausrichtung nicht immer wieder neu erörterte. Über seine Zukunft entscheidet die Fähigkeit zur permanenten wissenschaftlichen und sozialen Innovation.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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