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Wissenschafts- und Kulturgeschichte: Wunderkammern des Wissens

Mit rund 30 Millionen Objekten gehören die Sammlungen der Humboldt-Universität Berlin zu den weltweit größten ihrer Art. Eine Ausstellung dokumentiert erstmals Geschichte und Bedeutung der über hundert Einzelsammlungen.


In den Sammlungen der Humboldt-Universität spiegelt sich ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Generationen von Forschern in Berlin trugen durch ihre Arbeit – direkt oder indirekt – zu Entstehung und Entwicklung eines riesigen Objektbestandes aus nahezu allen Bereichen der Natur- und Kulturwissenschaften bei. Welche Schätze sich im Laufe der Jahrhunderte auf diese Weise ansammelten, war selbst Experten bisher nur unzureichend bekannt.

Seit 1998 werden die Sammlungsbestände am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Berlin nach modernsten Gesichtspunkten erschlossen. Die digitale Erfassung macht sie dem Forschenden wie in einem "musée imaginaire" zugänglich – gleich, ob es sich um seltene Tonaufnahmen auf Schellackplatten, um Briefe des Evolutionsbiologen Charles Darwin, die Totenmaske des Philosophen Immanuel Kant, die Bibliothek der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm oder um die Nachbildung eines 1842 im Ural gefundenen Goldklumpens von 36 Kilogramm Gewicht handelt, den Alexander von Humboldt als Geschenk von der russischen Regierung erhielt. Im Zuge dieser Recherchen kamen auch verschollene oder durch Kriegswirren verloren geglaubte Teile der ursprünglichen Bestände überraschend wieder ans Licht – beispielsweise Exponate des 1900 gegründeten Instituts und Museums für Meereskunde.

Die Anfänge der heutigen Sammlungen reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück. Die ältesten Objekte, darunter zahlreiche Präparate einheimischer und exotischer Säugetiere, Vögel und Fische, aber auch so kuriose Exponate wie ein von einem Eichenbaum umwachsenes Hirschgeweih, stammen aus der zu jener Zeit eingerichteten Berlin-Brandenburgischen Kunstkammer. Sammeln, Forschen und Gestalten wurden damals – anders als heute – noch als Einheit begriffen.

Um 1700 erhob der Philosoph, Mathematiker und Physiker Gottfried Wilhelm Leibniz dann den enzyklopädischen Anspruch der Kunstkammer zum Programm – nämlich Vielfalt und Unordnung der Welt räumlich wie zeitlich darzustellen. In einer Denkschrift, die er anlässlich der Errichtung der Berliner Sozietät der Wissenschaften verfasst hatte, entwickelte Leibniz die Idee eines Theaters der Natur und Kunst, das sowohl universaler Anschauungsraum der Welt in ihrer Gesamtheit als auch ein Laboratorium der Wissenschaften sein sollte: "Theatrum naturae et artis". In den ersten hundert Jahren der Berliner Sozietät – der späteren Preußischen Akademie der Wissenschaften – bewährte sich diese Konzeption und führte zur Entstehung umfangreicher und bedeutender Privatsammlungen, die teilweise vom preußischen Staat angekauft wurden.

Mit Gründung der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt 1809 wurden die Sammlungen sowie bereits bestehende wissenschaftliche Institute räumlich vereint. Angesichts des immensen wissenschaftlichen Fortschritts sowie der raschen Differenzierung der Naturwissenschaften in einzelne Disziplinen erwies sich die Idee einer räumlichen Einheit von Universität und Sammlungen allerdings schon bald als illusorisch. Den nun beginnenden Prozess der Zersplitterung der gigantischen Wunderkammern des Wissens beschleunigten die Kriegsverluste im 20. Jahrhundert erheblich. Von den einst 20833 Exponaten der Sammlung des berühmten Pathologischen Museums von Rudolf Virchow, in dem die Bestände des Anatomischen Museums aus der Zeit der Berliner Sozietät der Wissenschaften im Jahre 1876 aufgingen, sind heute nur noch knapp 500 vorhanden.

Jedoch auch noch als Torso und im Lichte gegenwärtiger Forschungen sowie in ihrer virtuellen Rekonstruktion als "musée imaginaire" erwecken die Sammlungen der Humboldt-Universität Staunen – nicht nur wegen des Umfangs von rund 30 Millionen Objekten, sondern ebenso wegen der illustren Reihe von Persönlichkeiten, die mit der Geschichte dieser Sammlungen untrennbar verbunden sind.

Etwa 265000 Mineralien sowie 120000 Erze und Gesteine zählen die Sammlungen des Instituts für Mineralogie. Mit den Beständen des Instituts für Paläontologie sowie des Instituts für systematische Zoologie bilden sie den Hauptfundus der Sammlungen der Humboldt-Universität. Diese drei Forschungseinrichtungen des Museums für Naturkunde verfügen zusammen über 25 Millionen Objekte.

So findet sich im Institut für Mineralogie nicht nur das mit 950 Gramm bisher größte bekannte Stück baltischen Bernsteins, sondern mit etwa 2700 Exemplaren auch eine der weltweit bedeutendsten Meteoritensammlungen. Deren Anfänge gehen auf den Privatgelehrten Ernst Florens Friedrich Chladni zurück. Chladni, der 1794 die kosmische Herkunft von Meteoriten nachweisen konnte, gilt zudem als Begründer der experimentellen Akustik. Der Mineraloge Gustav Rose – 1829 war er mit Alexander von Humboldt im Ural und in Sibirien unterwegs – forschte hier ebenso wie Martin Heinrich Klaproth, der als Wegbereiter der analytischen Chemie bei Mineralanalysen zahlreiche Elemente wie etwa Uran, Zirkonium, Strontium und Titan entdeckte und 1797 nachwies, dass das bis dahin nur aus dem Pflanzenreich bekannte Kalium auch im Mineralreich vorkommt. Im Jahre 1813 fand der Mineraloge Christian Samuel Weiß das Gesetz der Kristallsymmetrie.

Mit etwa 9000 Arten präsentiert das Institut für systematische Zoologie die heutige Vogelwelt fast lückenlos. Hinzu kommen eine Fischsammlung mit 133000 Objekten aus dem 18. Jahrhundert, sechs Millionen Käfer sowie vier Millionen Schmetterlinge – ein Bestand, der immer wieder Grundlage für zahlreiche Artenbeschreibungen wurde. Ein im Besitz des Instituts für Paläon-tologie befindliches Saurierskelett, das auf der so genannten Tendaguru-Expedition (1909–1913) entdeckt wurde, ist mit 23 Meter Länge und 12 Meter Höhe das größte Fossil, das je in einem Museum aufgestellt wurde. Wichtig sind ebenfalls die Sammlun-gen des Tierstimmenarchivs, das mit annähernd 100000 Tierstimmen das größte in Europa ist, sowie das Botanische Museum, dessen Herbarium von etwa 3,5 Millionen Pflanzen auch 200000 Typen aufweist, beispielsweise ein Exemplar der Kalifornischen Staatsblume, Eschscholtzia californica, das der Botaniker und Schriftsteller Adelbert von Chamisso 1817 in Kalifornien einsammelte.

Die bedeutende historische Instrumentensammlung des Johannes-Müller-Instituts für Physiologie geht in ihren Ursprüngen auf Emil Du Bois-Reymond und Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz zurück. Beide wurden maßgeblich von Johannes Peter Müller beeinflusst, dem Begründer der modernen Physiologie und langjährigem Leiter des Königlichen Anatomischen Museums. Helmholtz beeinflusste als einer der vielseitigsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts durch die Verbindung von Experiment und theoretischer Auswertung die Wissenschaft seiner Zeit und erfand 1850 den Augenspiegel. Gemeinsam mit Du Bois-Reymond setzte er sich energisch für die Überwindung des Vitalismus und für eine physikalisch-chemische Physiologie ein.

Aus wissenschaftshistorischer Sicht erweist sich der Erhalt und die Erforschung des reichhaltigen Sammlungsbestandes der Humboldt-Universität als außerordentlich bedeutsam. Dabei zeigen sich vielfältige Anknüpfungspunkte zu neueren Forschungen, wie beispielsweise zu den spektakulären Ausgrabungen zum antiken Reich von Kusch (8. Jh. v. Chr.–4. Jh. n. Chr.), die das Institut für Sudanarchäologie und Ägyptologie in den sechziger und neunziger Jahren durchgeführt hat.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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