Biologie und Medizin 2010: Die Folgen der Forschung
Biologie und Medizin 2010: Die Folgen der Forschung
Die Natur litt 2010 – und reagierte. Mediziner entwickelten indes zu wenige und zu viele Impfstoffe und bekämpften die gefährlichste Krankheit mit dem einfachsten Mittel.
Schon vor gut zehn Monaten konnte das Wort "Schweinegrippe" kaum noch jemand hören, musste aber trotzdem. Ein Grund: Die hochgekurbelte H1N1-Impfstoffproduktion aus dem Vorjahr, so hieß es im Frühling, habe womöglich Engpässe bei der Herstellung aller anderen Vakzine verursacht; zum Beispiel jener Allerweltsimpfstoffe, die Säuglinge und Kleinkinder routinemäßig gegen wichtige Kinderkrankheiten schützen. Impfstoffentwicklung – die schlechte Nachricht des Jahres 2010?
Eher im Gegenteil. Zunächst entpuppte sich die vermeintliche Versorgungslücke mehr als gefühlt denn real; im Frühsommer war sie dann schon wieder vergessen. Unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle blieb dagegen manche Erfolgsgeschichte, etwa aus der Veterinärmedizin: In einer konzertierten Aktion war es mit einem Vakzin gegen Rinderpest endgültig gelungen, eine der verheerendsten Tierseuchen auszurotten, wie die Welternährungsorganisation FAO mitteilen konnte. Die Rinderpest geht damit in die Geschichte als zweite per Vakzin ausgerottete Infektionskrankheit nach den Pocken ein.
Vorbeugen statt heilen
Der Erfolg war von sehr langer Hand vorbereitet worden: Den Wirkstoff hatte man schon vor 50 Jahren entwickelt, seit 1994 lief dann die nachhaltige Impfaktion, die sich am Ende nun als erfolgreich herausstellte. Das gleiche Konzept wird bei der Bekämpfung der tödlichen Krankheiten des Menschen wohl weniger schnell einschlagen und ein Vakzin allein kaum je ausreichen – gegen Zivilisationskrankheiten oder Seuchen hilft wahrscheinlich nur ein vielfältiges Arsenal.
Vorbeugen statt heilen ist die gute Idee, die hinter jeder Impfmaßnahme steckt. Der beste Schutz wäre demnach, jede Infektion vollständig zu verhüten, bevor sie geschieht. Gerade die tödliche Krankheit, gegen die wir tatsächlich ein billiges und brauchbares Mittel haben – das Kondom –, bleibt indes auch 2010 die gefährlichste Bedrohung der Menschheit: Aids. In Afrika, wo die Seuche besonders heftig tobt, lehnen die Sexualpartner vieler Frauen das Kondom trotz aller Gefahren ab. Hier soll bald ein Mitte des Jahres vorgestelltes Vaginalgel helfen, das die Infektion offenbar wirksam verhindern kann, wie erste Versuche zeigten – wenn es tatsächlich von den Frauen eingesetzt wird. Könnte dieses Gel tatsächlich einmal die Seuche stoppen, es wäre sicher der größte medizinische Durchbruch seit Jahrzehnten. Vor allzu großen Hoffnungen warnen aber selbst die Erfinder des Wirkstoffs, denn zu oft schon sind übertriebene Erwartungen im praktischen Kampf gegen den Erreger zerstoben.
Lernen aus Genen und Genomen
Oft mehr theoretisch hilfreich als praktisch sofort verwertbar bleiben noch immer die Datenberge, die Genetiker bei der Analyse des Erbguts von Mensch und Tier anhäufen. Seit 2010 kennen wir nun zum Beispiel typische Genome von Frosch, Süßwasserpolyp und Braunalge; auch fanden sich wieder viele Gene, die statistisch gehäuft mit bestimmten Krankheiten oder Merkmalen korrelieren – etwa mit individueller Schmerzwahrnehmung, der Lebensdauer oder der hervorragenden Sauerstoffmangeltoleranz der höhenlufterprobten Tibeter.
Spannend werden nach der reinen Analyse nun aber die nächsten Schritte – zum Beispiel eine individuelle Analyse von Genomabschnitten mit dem Ziel, vor einer Behandlung individuelle genetische Risiken und Chancen abklären zu können. US-Forschern gelang dies in einem beispielhaften Fall bereits: Sie überprüften vor der Verpflanzung von Spendernieren verräterische Expressionsmuster von drei Immungenen, um entscheiden zu können, bei welchen Patienten die Abstoßungsreaktion besonders stark gedämpft werden muss.
Wo im Zuge einer "personalisierten Medizin" die Möglichkeiten wachsen, Patienten maßgeschneidert zu behandeln, muss auch das Knowhow Schritt halten, die genetischen Eigentümlichkeiten des Einzelnen überhaupt zu diagnostizieren – und dies möglichst preiswert, automatisiert und zuverlässig. Und dies, ein 2010 zunehmend diskutierter Punkt, ohne die Entscheidungshoheit der Patienten darüber zu bedrohen, was mit ihren Gendaten geschieht und wer Einblick nehmen darf.
Pränataldiagnostik mit Mutters Blut | Eine Pränataldiagnose kann anhand einer Blutprobe der Mutter erfolgen. Zehn Prozent der im Plasma gelösten DNA-Ketten stammen vom Ungeborenen, nach ihrer Vervielfältigung können sie mit fortgeschrittenen bioinformatischen Methoden durch einen Sequenzvergleich mit den analogen Genregionen von Mutter und Vater identifiziert werden.
Baumhummer | Dryococelus australis ist eines der schwersten flugunfähigen Insekten der Erde – und eines der seltensten auch. Nur eine Hand voll Exemplare hatte bis vor wenigen Jahren auf einem winzigen Felsen mitten im Meer überlebt.
Soweit nur einige der humanrelevanten Analyseverfahren – vielleicht noch ergänzt mit dem ganz zu Anfang des Aprils veröffentlichten Verfahren zur Erdbebenvorhersage durch seismologisch empfindliche Kröten. Kurz: Analytik leistet heute Enormes und kann sogar in einer winzigen Probe mexikanischen Agaven-Schnapses Reste der DNA aufspüren, welche die markenüblich in der Flasche eingelegte Tequila-Raupe hinterlässt.
Höchstleistungen und Comebacks
Untergetaucht waren bis zu diesem Jahr auch einige bizarre Tierarten, die man bereits für ausgestorben hielt – etwa der riesenhafte Baumhummer (Dryococelus australis, eine gigantische Gespenstschrecke) oder die seit 160 Jahren nicht mehr dokumentierte Hundefliege (Thyreophora cynophila, ernährt sich von gammelnden Knochenmarkresten).
Waran von den Philippinen | Ein spektakulärer Fund gelang Biologen auf der philippinischen Insel Luzon: Sie entdeckten eine zwei Meter lange Echse, die der Wissenschaft bislang entgangen war.
Neu für die Wissenschaft ist dagegen Tyrannobdella rex, ein in Schleimhäuten festgesaugt schmarotzender Blutegel, den mutige Zoologen in Südamerika sammelten: T. rex, so die Erstbeschreiber, zeichne sich insbesondere durch "enorm große Zähne aus", die schmerzhafte Wunden verursachen. In die Abteilung rekonstruierter Freaktiere des Jahres gehört sicherlich Drakozoon, ein 1,7 Millimeter kleiner Weichtier-Vorfahre, der vor rund 425 Millionen Jahren im Silur gelebt hat, starb, zum Fossil wurde und jetzt als "Blob aus der Urzeit" eine späte Karriere anstrebt. Wie alle Taxonomen bislang den zwei Meter langen Riesenwaran Varanus bitatawa auf den Philippinen übersehen konnten, bleibt indes unklar.
Der kleine Massospondylus | Diese Rekonstruktion des ungeschlüpften Dinosauriers aus der Familie der Prosauropoden gelang mit Hilfe von 190 Millionen Jahren alten Skelettfunden aus Südafrika.
Virenausbreitung durch Aktinschleudern | Vaccinia-Viren (grüne Punkte) beschleunigen die Infektion neuer Zellen. Eine frisch infizierte Zelle produziert unter dem Befehl des Erregers die Proteine A33 und A36 und baut sie in die Zelloberfläche ein. Geraten die Proteine in Kontakt mit neuen Viren, so induzieren sie die Ausbildung eines fadenförmigen Aktinkomplexes, der die Viren fortschleudert.
Welche Auswirkungen die Erderwärmung bereits hat, beobachteten Wissenschaftler an sehr großen und sehr kleinen Organismen. Wale, so hatten sie zum Beispiel befürchtet, könnten durch den Anstieg des Treibhausgases CO2 in Atmosphäre und Ozeanen gestört werden, weil im sauren Meerwasser immer weniger gelöste Mineralien niedrigfrequenten Schall dämpfen – und sämtliche lauten Industrie- und Umweltgeräusche unter Wasser somit noch weiter tragen. Für die Meeressäuger konnten Ozeanforscher in dieser Hinsicht nun allerdings Entwarnung geben.
Weniger gut steht es etwa um das winzige Phytoplankton: Auf Grund steigender Wassertemperaturen schrumpfen die Populationen dieses wichtigen Grundpfeilers des Ökosystems seit den letzten 100 Jahren stetig. Zu viel Hitze, berichten Forscher aus Australien am Beispiel der dort heimischen Fauna, tut aber auch eigentlich Wärme liebenden Tieren nicht immer gut: Junge Krokodile müssten im überhitzten Badewasser zunehmend häufiger auftauchen und Luft schnappen. So werden sie häufiger Opfer von Feinden und erbeuten selbst weniger.
Sex zum Schluss
Nicht unbedingt warme, jedenfalls aber ständig wechselnde Umweltbedingungen haben hingegen auch irgendwie ihr Gutes: Sex zum Beispiel, bestätigten die Forscher eine alte Überlegung, spielt seine Vorteile vor allem dann aus, wenn die Herausforderungen einer wandelbaren Umwelt größer werden. Dies demonstrierten sie in ihrem Experiment, bei dem sie Rädertierchen durch eine ständig wechselnde Rundumversorgung unter Stress setzten.
Weißgesprenkelter Bambushai | Die Weibchen dieser Haiart können auch ohne männliche Hilfe überlebensfähigen Nachwuchs zeugen.
Wandel, so die Erkenntnis, sorgt also tatsächlich für mehr Geschlechtskontakte. Wer dabei die Oberhand behält, bleibt auch im Jahr 2010 unentschieden: Mal sind es Flusskrebsfrauen, deren Urinduftstoff ihre Männer in willenlos-wilde Ausscheidungskämpfe zwingt, mal sind es Mottenmännchen, deren Fledermausschreiimitation ihre Weibchen zu wehrloser Schockstarre verdammt – beides erfüllt offenbar seinen Zweck. Ganz ohne Rosenkriege kam dagegen die jungfräuliche Mutter des Weißgesprenkelten Bambushai-Nachwuchses in einem Aquarium in Detroit aus. Obwohl sie in ihrem Leben nie mit männlichen Artgenossen in Kontakt gekommen war, hatte das Tier Eier abgelegt, aus denen Jungtiere schlüpften. Bei allem Wandel, der uns auch in den nächsten 12 Monaten erwarten dürfte, ist diese Variante aber vielleicht nur im geschützen Ökosystem Aquarium zu empfehlen.
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