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Mercator

Mercator

Gibt es eine Erdkarte, auf der die Fahrtrichtung eines Schiffs oder Flugzeugs überall direkt gegen eine Parallele zum geraden Bildrand abgelesen werden kann? Auf der also Fahrten mit gleich bleibendem Kurswinkel als Geraden erscheinen?

Was folgt aus den Bedingungen für die Breitenkreise, speziell den Äquator, und für die Meridiane? Wie man auf diesen den Maßstab gleiten lässt, ist dann der eigentliche Trick, den Gerhard Kremer, der sich Mercator (lat. für Händler) nannte, wohl nur näherungsweise bei seiner Karte "ad usum navigantium" (also zum Gebrauch der Seefahrer) anwenden konnte.

Zunächst müssen alle Breitenkreise als parallel zueinander liegende Geraden erscheinen: nennen wir diese Richtung waagerecht. Die Bilder der Meridiane sind dann rechtwinklig dazu, also senkrecht (wenn die Karte an der Wand hängt). Die Pole wandern damit unendlich weit nach oben und nach unten. Für den Äquator können wir mühelos einen festen Maßstab wählen, für andere Breiten ist er aber dann größer, und zwar zu den Polen hin unbeschränkt.

Wenn wir auf der Kugel vom Äquator aus entlang zweier benachbarter Meridiane, die dort den Abstand 1 Meter haben, nach Norden wandern, wird der Abstand immer kleiner und verschwindet ganz am Pol. Auf der Karte soll aber ein gleich bleibender Abstand gezeichnet werden, der Maßstab muss also mit dem Kehrwert des tatsächlichen Abstands zunehmen (also mit dem Kosinus der geografischen Breite).

Dieser gleitende Maßstab soll nicht nur für Entfernungen in Ost-West-Richtung gelten, sondern auch in alle anderen Richtungen, zumindest für kurze Entfernungen. Doch wie konstruiert man diesen Maßstab?

Zu jedem Winkel gegen die Nordrichtung denken wir uns dazu ein kleines Rechteck, dessen Seiten in West-Ost- und in Süd-Nord-Richtung stehen, so dass eine Diagonale die betrachtete Richtung hat. Unsere Forderung nach Richtungstreue (allgemeiner Winkeltreue) wird offenbar erfüllt, wenn hinreichend kleine Rechtecke auf der Kugel in dazu ähnliche Rechtecke auf der Karte abgebildet werden. Es gibt also für jede geografische Breite auf unserer Karte einen bestimmten Maßstab, der für kurze Entfernungen in beliebigen Richtungen gilt.

Vom Äquator aus bilden wir viele kleine Rechtecke zwischen zwei Meridianen entlang der Kugel; die Höhe dieser Rechtecke ist eine konstante Anzahl von Breitengraden (links im unteren Bild). Da der Abstand zu den Polen hin abnimmt, werden die Rechtecke immer schmaler. Die Rechtecke auf der Karte (rechts im unteren Bild) sollen ihren Vorbildern auf der Kugel ähnlich sein (gleiche Seitenverhältnisse), allerdings mit konstantem Abstand zwischen den Meridianen. Das folgende Bild zeigt das im Prinzip, nur mit viel zu großen Rechtecken.

Leider kann man das Verfahren nicht elementar-geometrisch ausführen. Mercator konnte die Koordinaten noch nicht ausrechnen, denn man muss dazu den Kehrwert des Kosinus integrieren. Wenn \(\lambda\) die geografische Länge und \(\beta\) die geografische Breite ist, dann lauten die Koordinatzen des zugehörigen Punkts auf der Karte \[\eqalign{x & = R \cdot \lambda \cr y & = R \cdot \ln\left(\tan\left({\beta \over 2} + {\pi \over 4}\right)\right)}\] Dabei ist \(R\) die Länge des Erdradius auf der Karte (in dem am Äquator gültigen Maßstab).

Die (unvermeidlich an beiden Polen unvollständige) Mercator-Erdkarte sieht dann so aus:

Die Speichenellipsen (Tissot-Indikatrizen, vergleiche Rätsel 604 und Rätsel 610) sind stark vergrößerte Bilder von kleinen Kreisscheiben, die man sich auf dem Erdboden liegend vorstellen soll. Sie zeigen, wie Kreisscheiben (stark vergrößert dargestellt) verzerrt werden:

Auf dieser Karte ist überall Norden oben und Osten rechts, aber auch eine Fahrt mit konstantem Kurswinkel (Loxodrome) erscheint hier als Gerade, obwohl sie bei längeren Reisen einen erheblichen Umweg darstellt. Die Seefahrer sind immer nur kurze Teilstücke auf Loxodromen gefahren.

Mit einem Teleobjektv würde eine Loxodrome so aussehen:

Ein Fußball sieht in der Mercator-Abbildung so aus:

Vielleicht wäre das ein passendes Wappen für den MSV Duisburg?

Die wirklich kürzesten Linien (Luftlinien, also Flugrouten) auf dem Globus sehen wie fürchterliche Umwege aus:

Es ist kaum zu glauben, dass man von Frankfurt nach San Francisco erst nach Nordwesten über einen Teil von Grönland fliegt, weil der direkt erscheinende Weg nach Westen tatsächlich viel länger ist. Nehmen Sie einen Globus und einen Bindfaden und staunen Sie!

Linien gleicher Entfernung von FRA sehen so aus:

Für Sternkarten ist die Mercator-Abbildung hervorragend geeignet, da der gleitende Maßstab dabei kein Problem ist und alle (nicht zu großen) Sternbilder ohne Verzerrungen zu sehen sind. Allerdings werden die Umgebungen der Himmelspole nicht erfasst:

Wenn Sie eines dieser Stereo-Bilder anklicken, sehen Sie eine gleitende Umwandlung zwischen Kugel und einer zu einem Zylindermantel aufgewickelten Mercator-Karte:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Stellen Sie sich einen durchsichtigen Globus mit einer fast punktförmigen Lampe in seiner Mitte vor und einen Zylindermantel so um ihn gewickelt, dass er ihn auf dem ganzen Äquator berührt. Gibt das die Mercator-Abbildung, wenn man diesen Mantel abwickelt?

Nein! Das Verfahren geht so:

\[x=R \cdot \lambda, \quad y= R \cdot \tan \beta \] und das Ergebnis sieht so aus:

und mit Tissot:

Jetzt ist deutlich zu sehen, dass diese Projektion weder flächen- noch winkeltreu ist und dass ihr Maßstab noch stärker ins Unendliche gleitet, wenn man zu den Polen geht, als beim Mercator-Entwurf.

Die Kartografen nennen alle Erdkartenentwürfe "Projektionen". Nach meiner Meinung ist das ungefähr so sinnvoll wie die Bezeichnung "Wauwau" für jedes Tier mit vier Beinen. Sie sprechen daher auch von der "Mercator-Projektion" und verleiten damit viele Menschen dazu zu glauben, die Mercator-Karte könnte man als Zentralprojektion auf den berührenden Zylinder gewinnen. Ich gebe ja zu, dass es schön wäre, wenn das ginge.

Ich habe sogar ein sonst seriöses Astronomie-Lehrbuch gefunden, in dem es allen Ernstes so dargestellt wurde, ich habe mir aber den Titel fairerweise nicht gemerkt. Auch sonst findet man oft Beschreibungen, die zumindest beim Überfliegen zu der Verwechslung verleiten. Allein die Bezeichnung "Projektion" spielt hier eine ungute Rolle.

Kehren wir zur richtigen Mercator-Abbildung zurück: Gelten ihre Eigenschaften bezüglich der Loxodromen und Kurswinkel auch noch, wenn man den Globus vor der Abbildung beliebig dreht?

Sie gelten nicht mehr, denn sie sind ja auf das Gradnetz und seine Ausrichtung zu den Himmelsrichtungen bezogen und nicht auf allgemeine Eigenschaften der Kugel. Die Karten sehen dann ziemlich seltsam aus:

Auch hier fehlen oben und unten Teile, die auf den Karten unendlich weit reichen müssten, aber es trifft jetzt nicht die Polargegenden.

Schon als Grundschüler hatte ich einen kleinen Atlas (Jarosch) mit einer Mercator-Erdkarte, und in der Schule hing eine Mercator-Karte mit den Linien der Hapag. Grönland sah darauf riesig aus, und die Schiffslinien wie Umwege. Später hatten wir Atlanten, in denen höchstens bei Karten für die Vegetation und Windrichtungen oder Meeresströmungen noch dieser Entwurf verwendet wurde. Mittlerweile sind auch die ersetzt durch Karten, die nicht einmal Zylinderentwürfe sind, was ziemlich absurd ist: wie soll man dann Richtungen einordnen? Ich gebe ja zu, dass für viele Zwecke (etwa Bodennutzung, Politik) flächentreue Karten sinnvoll sind, aber es ist schon merkwürdig, wie das Gradnetz dabei oft unnötig verbogen ist, sogar auf Teilausschnitten, bei denen man den Eindruck hat, dass der Grafiker, der für eine Fernsehsendung eine Karte von Australien aus einer Erdkarte schneidet, überhaupt nicht weiß, was ein Gradnetz ist.

Der Rückgang der Verwendung der Mercator-Karte ist also zum Teil sinnvoll, wird aber viel zu weit getrieben. Als ich nach Duisburg kam, suchte ich mir für den nebenamtlichen Unterricht das Mercator-Gymnasium aus, und etwas später wurde unsere Uni nach dem berühmtesten Gelehrten der Stadt benannt. Sie sehen: Ich bin ein Mercator-Fan.

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