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Biologisch vorgegebene Grenze?

Unser Erkenntnisapparat neigt zu folgenreichen Vorurteilen, meint der Autor dieses Buchs – leider geht ihm selbst das genauso.

Auf fast 500 Seiten möchte Frank Urbaniok seine überspitzte Grundthese belegen: Alle sozialen, politischen und kriminalistischen Probleme der Gegenwart resultierten aus der Tatsache, dass unser Geist ein spätes Produkt der biologischen Evolution sei. Unsere Kognition sei nun einmal nicht auf objektive Erkenntnis programmiert, sondern als Instrument im Überlebenskampf entstanden.

Dieses Instrument funktioniert angeblich gemäß dem so genannten RSG-Modell: Um Umweltreize einzuordnen, folge unser Geist dem schematischen Dreischritt »Registrieren-Subjektivieren-Generalisieren«. Das Schema habe den Frühmenschen die lebensnotwendige schnelle Orientierung im Kampf ums Dasein ermöglicht – und es prägt, so der Autor, noch heute ganz wesentlich unsere Urteile und Vorurteile.

Tellerrand der biologischen Programmierung

Wie bei jeder Erkenntniskritik stellt sich sofort die Frage: Wie entgeht just der Geist Urbanioks dieser Einschränkung? Muss nicht auch er jedes Problem, das er registriert, unweigerlich gemäß den eigenen Vorurteilen subjektivieren und anschließend mit dem Ziel der egoistischen Selbstbehauptung generalisieren? Wie schafft er es, über den Tellerrand der biologischen Programmierung hinauszuschauen? Diese Frage beantwortet Urbaniok mit einer »pragmatisch-phänomenologischen Betrachtungsweise«. Sie sei im Wesentlichen »der neugierige und gleichzeitig nüchterne Blick auf die Praxis, auf den Alltag, auf das Konkrete und Banale«. Ob das reicht?

Urbaniok gibt gleich ein Beispiel. Dank seiner Betrachtungsweise erscheint ihm die Psychosomatik als typischer Fall des RSG-Schemas. Da sei zunächst zu Recht registriert worden, dass körperliche und seelische Leiden meist irgendwie zusammenhängen. Doch dann habe man einzelne Fallgeschichten anhand beliebiger »tiefenpsychologischer« Theorien so lange subjektiviert und generalisiert, bis am Ende blühender Unsinn herausgekommen sei.

Nun mag man ja einräumen, dass unter dem Titel Psychosomatik auch wilde Spekulationen blühten – aber der zornige Versuch, deshalb gleich die ganze Disziplin als Pseudowissenschaft abzuräumen, erscheint seinerseits als unzulässige Subjektivierung und Generalisierung. Die Untersuchung der Zusammenhänge von Nerventätigkeit und Immunsystem, von seelischer Gesundheit und Mikrobiom ist ein hochaktuelles und fruchtbares Forschungsgebiet, welches die Psychosomatik auf eine durchaus solide Grundlage zu stellen beginnt.

Der Grund für die rabiate Ablehnung dürfte in Erfahrungen liegen, die der Autor in seinem Beruf als forensischer Psychiater gemacht hat. Offenbar sind ihm dabei Gerichtsgutachter begegnet, die ihm mit »tiefenpsychologischen« Überlegungen auf die Nerven gingen. Dagegen wendet er ein: »Krankheit und Gefährlichkeit sind zwei unterschiedliche Phänomene.« Bei einem forensischen Gutachten gehe es nicht darum, Krankheiten zu diagnostizieren, sondern die Risikoeigenschaften einer kriminellen Person zu erfassen. Dazu sei die »Tiefenpsychologie«, zu der er auch die Psychosomatik zu zählen scheint, prinzipiell ungeeignet.

Urbaniok ist in der Schweiz als öffentlicher Kritiker des herrschenden Strafvollzugs aufgetreten. Er legt Wert auf eine Unterscheidung zwischen Situations- und Persönlichkeitstätern, für die er einen eigenen Kriterienkatalog entwickelt hat. Während Situationstäter nach dem Motto »Gelegenheit macht Diebe« von einer sich zufällig bietenden Situation zu kriminellem Tun verführt wurden und erfolgreich resozialisiert werden können, sind Persönlichkeitstäter laut Urbaniok quasi von Natur aus unheilbare Wiederholungskriminelle, vor denen man die Gesellschaft nur durch dauerhaftes Einsperren zu schützen vermag.

Im zweiten Teil des Buchs zieht der Autor aus seiner biologistischen Grundthese viele schiefe Schlüsse auf gesellschaftliche Phänomene. In einer grotesken Hitliste charakterisiert er Mao Tse-tung, Hitler und Stalin als historische Rekordhalter des Massenmords – als könnte er diese Figuren wie Einzeltäter einer forensischen Risikoanalyse unterziehen, um ihnen anschließend als millionenfachen Wiederholungstätern geringe Resozialisierungschancen und ein hohes Tatrisiko zu bescheinigen.

Auch in einem langen Abschnitt, der sich mit beträchtlichem Zahlenaufwand dem Thema Ausländerkriminalität widmet, feiert das forensische RSG-Schema fröhliche Urständ. Der Autor möchte nachweisen, dass das Migrationsproblem von offizieller Seite systematisch verniedlicht wird. Sein Hauptgegner ist der deutsche Kriminologe Christian Pfeiffer: »Zusammenfassend vertritt Pfeiffer den für Kriminologen und Soziologen typischen Ansatz, dass Kriminalität vor allem auf soziale Ursachen wie zum Beispiel Armut oder mangelnde Bildungschancen zurückzuführen sei.« Dagegen wendet Urbaniok ein, dieser Ansatz verkenne den gewissermaßen von Natur aus bösen und gefährlichen Persönlichkeitstäter, bei dem Hopfen und Malz verloren sei – den man also nur ewig einsperren oder zügig ausweisen könne.

Gewiss, auch unter Migranten gibt es Schwerkriminelle. Aber damit gibt sich Urbaniok nicht zufrieden. Er will beweisen, dass Ausländer – selbst wenn man den Straffälligen unter ihnen all die mildernden Umstände zugesteht, die Pfeiffer ins Treffen führt – nicht nur zahlenmäßig, sondern an sich, ihrem Wesen nach, viel krimineller sind als Deutsche. Zu diesem Zweck zitiert er eine Analyse von Jochen Renz, Informatikprofessor an der Australian National University, der sich 2017 die deutsche Polizeiliche Kriminalstatistik vornahm. Erschienen war die Arbeit von Renz in der Online-Publikation »Tichys Einblick«, die gern Klimawandel-»Skeptikern« und Rechtspopulisten ein Forum bietet.

Renz zog aus den Zahlen den Schluss, die Nationalität sei ein wesentlicher Indikator für die überdurchschnittliche Kriminalität von Ausländern. So seien Türken, Syrer und Afghanen besonders tatverdächtig, Vietnamesen oder Japaner hingegen kaum. Immerhin räumte Renz ein: »Zwar ist Staatsangehörigkeit sicherlich keine Ursache für Kriminalität, d.h. jemand begeht nicht eine Straftat, weil er aus einem bestimmten Land kommt, jedoch gibt es zweifellos eine starke Korrelation zwischen Staatsangehörigkeit oder Ethnie und Kriminalrate« (so zitiert in Urbanioks Buch).

Das hindert Urbaniok aber nicht, kurz darauf zu behaupten: »Nationalität und Herkunft sind Faktoren, die zu stark erhöhten Kriminalitätsquoten führen können.« Aus der statistischen Korrelation ist so flugs ein ursächlicher Zusammenhang geworden. Nach dieser Logik wäre auch die Tatsache, dass Afroamerikaner in US-Gefängnissen überrepräsentiert sind, ein Beweis für ihre angeborene Kriminalität – eine Meinung, die außer Anhängern der Alt-Right-Bewegung kaum jemand vertritt.

Auch hier bricht sich das enge RSG-Schema des Gerichtsgutachters Bahn. Weder die psychologische Erklärung einer Tat noch die soziologische Analyse der Migrationsprobleme interessieren diesen Forensiker; ihm geht es ausschließlich um Tatverdacht und Rückfallrisiko. Mit dieser eingeschränkten Perspektive lassen sich zwar vor Gericht Warnungen vor gefährlichen Wiederholungstätern aussprechen. Doch ein ganzes Buch über sämtliche Gegenwartsprobleme scheitert am verengten Blickwinkel kläglich.

Das fängt schon beim Titel an, der eine vermeintliche Gewalttat anzeigt. Der Begründer der Evolutionslehre »schlägt« keineswegs den deutschen Philosophen der Aufklärung. Es gibt in Gestalt der evolutionären Erkenntnistheorie sogar einen Versuch, die von Kant postulierten Grenzen des Verstands mit Darwins Entwicklungsgeschichte des Lebens zu versöhnen.

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