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Buchkritik zu »Die Zukunft der Arten«

Der Naturschutz ist in Erklärungsnot. Trotz intensiver Schutzbemühungen in den letzten drei Jahrzehnten wurden die Roten Listen der gefährdeten Arten immer länger. Nach den aktuellen Ausgaben für Bayern ist etwa die Hälfte aller erfassten Pflanzen- und Tierarten bedroht – mehr als je zuvor. Josef H. Reichholf geht in seinem jüngsten Buch den Ursachen des Artenschwunds auf den Grund und kommt dabei zu überraschenden, oft provokanten Schlussfolgerungen.

Vielfach habe der Naturschutz die Abnahme von Artenvielfalt selbst zu verantworten: durch gut gemeinte Maßnahmen, die ihrem Ziel zuwiderliefen. So das Verbot, Kies-, Sand- und Lehmgruben wild auszuheben, wie es früher zur Gewinnung von Baumaterial gang und gäbe war. Die ständig neu entstehenden Kleingewässer und ihr trocken-warmer Uferbereich waren Refugium für eine Vielzahl von Arten, darunter Eidechsen, Schlangen, Lurche und Insekten. Oder das strikte Verbot des Kahlschlags. In den selten gewordenen Waldlichtungen entfaltete sich einst ein buntes Leben. Hier krabbelten zahlreiche Ameisenarten und flatterten Auerhühner, für deren Küken die proteinreichen Insekten ein wichtiges Kraftfutter sind. Der Hauptschuldige für den allgemeinen Artenrückgang sei jedoch die moderne Landwirtschaft, so Reichholf. Die Vereinheitlichung von Strukturen sowie die Überdüngung hätten vielen Organismen den Lebensraum genommen. Wo Hecken und Raine fehlen, sind Feldhase, Fasan und all die anderen Flurbewohner verschwunden.

Reichholf gibt sich nicht mit einfachen Wahrheiten zufrieden. In detektivischer Kleinarbeit geht er den Dingen nach. Stimmt es wirklich, dass der Klimawandel Vögel früher aus ihren Winterquartieren lockt? Für den Kuckuck ist die Antwort eindeutig "Nein", zumindest was die durch Daten gut dokumentierten letzten fünfzig Jahre anbelangt. Bleibt noch zu klären, warum die Männchen an der Isar etwa drei Wochen später zur Balz rufen als am unteren Inn. Klimatische Unterschiede scheiden aus. Vielmehr liegt der Grund in der zeitlichen Abstimmung auf den jeweiligen Wirtsvogel: Am unteren Inn sind es Rohrsänger, an der Isar hingegen Rotkehlchen, denen das Kuckucksweibchen seine Eier untermogelt.

Eine unvermutete Erklärung liefert der Autor auch für die Wiederansiedlung des Gänsesägers an Isar und Lech in den späten 1960er Jahren. Dies sei nicht dem Schutz vor Verfolgung, sondern dem Bau von Stauseen zu verdanken. Indem sie Schwebstoff e im Oberlauf der beiden Flüsse abfangen, sorgen sie für klare Sicht und schaffen somit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Fischjagd. Dagegen verschmähen die Vögel die umfangreichen, eigens für sie eingerichteten Schutzgebiete am unteren Inn, da der Fluss zu ihrer Brutzeit von alpiner Gletschermilch getrübt ist.
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Anhand zahlreicher Einzelbeispiele erhält der Leser Einblick in die bunte Welt der Pflanzen und Tiere wie auch in komplexe ökologische Zusammenhänge. Die Landschaft Mitteleuropas ist in höchstem Maße von menschlichem Handeln geprägt und hat sich mit ihm ständig verändert. Das geht, auch heute noch, im Einzelfall zu Gunsten der Artenvielfalt aus. So tummeln sich in Städten mehr Arten als in ihrem Umland, weil sie eine größere Vielfalt an Strukturen zu bieten haben. Manche Tiere finden sich dabei an unvermuteten Orten ein. Wer hätte gedacht, dass die Feldlerche auf den kurz geschorenen Wiesen von Flughäfen, der Bienenfresser in den Lehmwänden von Baugruben brütet? Die zahlreichen Anekdoten machen deutlich, wie vielfältig die Ansprüche an den Lebensraum sind.

Reichholf, Leiter der Abteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung, Professor an beiden Münchner Universitäten und Mitglied im Stiftungsrat des World Wildlife Fund (WWF), gilt als einer der führenden Experten Deutschlands in Sachen Naturschutz. Dass er verständlich und lebendig zu schreiben versteht, stellt er auch in seinem jüngsten Buch unter Beweis.

Gleichwohl trägt dessen Aufmachung die akademische Handschrift des Autors. So könnten die meisten der 46 Abbildungen direkt den im Anhang zitierten Originalveröffentlichungen entnommen sein – wogegen nichts einzuwenden ist, denn die schlichten Schwarz-Weiß-Grafiken sind eingängig und stützen die Aussagen des Texts.

Störend ist hingegen das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses. Wer Orientierung sucht, muss sich mit den Überschriften der zwölf Kapitel begnügen, von denen sich jedes gesondert lesen lässt. Dass sich dadurch Aussagen im Buch wiederholen, ist angesichts der Informationsmenge dem Verständnis durch aus dienlich.

Das einzige echte Manko liegt im Überfluss. Zweifellos lässt sich die Vielfalt der heimischen Natur nicht als "gradlinige Einbahnstraße erschließen". Aber Reichholf kann es nicht lassen, die überwältigende Fülle seines Wissens vor dem Leser auszubreiten, und verstrickt sich häufig in einen Dschungel von Einzelheiten. Das macht das Lesen unnötig schwer. Das Buch ist bestimmt nicht dazu geeignet, der Natur entfremdete Menschen für den Naturschutz zu gewinnen. Ökologisch Interessierten liefert es aber einen unerschöpflichen Schatz an Informationen und Denkanstößen. Und den in der Szene Engagierten sei wärmstens empfohlen, sich mit Reichholfs Argumenten auseinanderzusetzen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2006

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