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Gelungener Schnellschuss

Ein italienischer Wissenschaftsautor legt ein rasch produziertes, aber überzeugendes Buch zur derzeitigen Pandemie vor.

Die Medien sind seit Wochen voll davon: Die Corona-Krise beansprucht unsere volle Aufmerksamkeit. Und es ist zu vermuten, dass inzwischen viele Autoren diese Pandemie und die freiwillige oder erzwungene Quarantäne nutzen, um ihre persönliche Betroffenheit und ihre Erfahrungen für die Nachwelt festzuhalten.

Aus Italien, dem am stärksten betroffenen europäischen Land, erreicht uns nun »In Zeiten der Ansteckung« des Wissenschaftsjournalisten Paolo Giordano. Der in Turin in theoretischer Physik promovierte Autor ist mit seinem Roman »Die Einsamkeit der Primzahlen« (2009) weltweit bekannt geworden. Das Buch wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und war im Jahr seines Erscheinens das meistverkaufte in Italien.

Wenn das Schlagzeug verstummt

»In Zeiten der Ansteckung«, geschrieben zwischen dem 29. Februar und dem Ende der ersten Märzwoche, bietet auf seinen knapp 80 Seiten eine gelungene Mischung aus Reflexionen, mathematischen Argumenten und persönlichen Erfahrungen. Giordano klärt im besten Wortsinn auf und regt zum Nachdenken an. Ausgehend von der Epidemie »als bedeutendste medizinische Notfallsituation unserer Zeit« erzählt der Autor in 27 kurzen Kapiteln, wie er sich zunächst – von täglich steigenden Zahlen gebannt und von schwindenden Terminen im Kalender irritiert – »in einem unerwartet leeren Raum« wiederfand. »Wir erleben die Suspendierung des Alltags, eine Unterbrechung des Rhythmus wie manchmal in Songs, wenn das Schlagzeug verstummt und es wirkt, als würde die Musik angehalten.« Er beschließt, die Leere mit Schreiben auszufüllen.

Bald ist er mitten in der »Mathematik der Ansteckung«. Er erläutert, wie Mathematik die Pandemie mit dem Modell SIR zu verstehen hilft: S, die große Mehrheit der nicht immunen »susceptible individuals«; I die »infectious individuals«, also die angesteckten und ansteckenden Individuen; und R die »removed individuals«, also wegen Tod oder Genesung nicht mehr am Krankheitsgeschehen teilnehmenden Personen. Es gehe darum, so Giordano, die große Zahl der nicht immunen Gesunden voneinander getrennt zu halten, weil sie potenziell siebeneinhalb Milliarden Menschen anstecken könnten.

Wie eine infizierte Kugel, die auf andere Kugeln zurollt, sie anstößt und dabei infiziert, setzt die Pandemie sich grenzenlos fort. Es komme darauf an, die exponentielle Vermehrung der Infizierten so weit wie möglich zu minimieren, die Ansteckungsrate zu verlangsamen. »In Wirklichkeit ist es die Natur selbst, die nicht linear strukturiert ist. Die Natur bevorzugt schwindelerregendes oder entschieden langsameres Wachstum, Exponenten oder Logarithmen. Die Natur ist ihrer Natur nach nicht linear.«

Immer wieder reflektiert Giordano dabei Persönliches. Er erzählt von der letzten Einladung zum Abendessen bei Freunden, wo er niemanden zur Begrüßung umarmte – und welche Verwunderung das auslöste, so dass die Leute ihn zum Hypochonder erklärten. Und er kehrt zu noch früheren Erinnerungen zurück, einem Weg in einem Skigebiet, auf dem die Gruppe nicht weiterkam, und er sich der Worte seines Vaters entsann, »dass in gewissen Situationen die einzige Form von Mut der Verzicht ist«.

Mit Schrecken stellt sich der Autor vor, was passierte, sollte sich das Virus in Teilen Afrikas ausbreiten, wo das Krankenhauswesen weniger entwickelt ist als bei uns oder es überhaupt kein Krankenhauswesen gibt, beziehungsweise in dortigen Massensiedlungen, wo katastrophale hygienische Zustände herrschen. Jetzt sei die Stunde der Wissenschaft, mahnt Giordano: »Mathematiker ans Werk, aber auch Physiker, Ärzte, Epidemiologen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Städteplaner, Klimatologen.« Der Autor geht auch auf die verwirrenden und teils sich widersprechenden Stimmen aus der Wissenschaft ein: »In Zeiten der Ansteckung hat uns die Wissenschaft enttäuscht. Wir wollten Gewissheiten und fanden Meinungen. Wir haben vergessen, dass das immer so funktioniert, ja, dass es nur so funktioniert, dass der Zweifel für die Wissenschaft sogar heiliger ist als die Wahrheit.«

Weil der Mensch in ständig neue Habitate von Wildtieren eindringe, diese zerstöre, dabei in engen Kontakt mit den Tieren kommt und sie sogar isst, steige das Risiko, dass deren Bakterien und Viren auf ihn überspringen. In den zurückliegenden Jahren sind viele Infektionskrankheiten von Wildtieren ausgegangen: Hendra, Nipah, Sars, Mers, Ebola, die Vogelgrippe oder auch das akute Durchfallsyndrom bei Schweinen. Es lauert hier eine latente Gefahr, die Giordanos Buch nicht kleinredet. Der Autor fordert uns aber auf, »der Epidemie einen Sinn zu geben. Wir können diese Zeit besser verwenden, darüber nachzudenken, was zu denken uns die Normalität hindert: Wie wir bis zu diesem Punkt gekommen sind, wie wir neu starten wollen.«

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