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Die Kunst der Vorhersage

Menschen neigen dazu, extreme oder auffällige Daten überzubewerten. Maschinen tun das nicht. Sind sie uns daher prinzipiell überlegen?

Die jüngsten Fortschritte in der künstlichen Intelligenz laufen genau genommen unter falscher Flagge. Es geht gar nicht um Intelligenz insgesamt, sondern nur um eine – allerdings wesentliche – Komponente derselben: die Fähigkeit zur »prediction«. Das ist nicht ganz dasselbe wie »Vorhersage«. Die drei Autoren, sämtlich Professoren an der Rotman School of Management der University of Toronto, verstehen darunter schlicht die Verwendung von Informationen, die wir schon besitzen, kurz Daten, zur Gewinnung von Informationen, die wir noch nicht besitzen. Diese müssen sich nicht unbedingt auf die Zukunft beziehen. Wenn beispielsweise bestimmte Blut-, Messwerte oder Symptome des Patienten als Dateninput vorliegen, dann kann »vorausgesagt« werden, dass ein Tumor bösartig ist.

Fallende Preise für Vorhersageleistungen

Als Ökonomen interessieren sich Agrawal, Gans und Goldfarb vor allem für die wirtschaftliche Folge der neuesten KI-Revolution: Vorhersageleistungen sind im Preis drastisch gefallen – so sehr, dass die Maschinen den Menschen ernsthaft Konkurrenz machen. Also sei es angesagt, die Vorhersageleistung von Maschinen im Vergleich zu der von Menschen systematisch zu bestimmen. Dabei ziehen sie unter anderem drei Lehren:

  • Menschen, einschließlich Experten, treffen unter bestimmten Bedingungen schlechte Vorhersagen. Sie neigen dazu, die Häufigkeit extremer oder allgemein auffälliger Daten zu überschätzen, und berücksichtigen statistische Eigenschaften nicht ausreichend.
  • Maschinen sind Menschen voraus, wenn es darum geht, komplexe Interaktionen zwischen verschiedenen Einflussgrößen einzubeziehen, insbesondere wenn viele und gute Daten vorliegen. Wenn dagegen Daten knapp und von geringer Qualität sind, können Menschen ihr Weltwissen, genauer: ihre kognitiven Modelle über Abläufe in der Welt und insbesondere ein Verständnis von Ursache und Wirkung, einsetzen und damit die Maschinen übertreffen.
  • Auf Grund dieser Komplementarität resultieren in manchen Situationen die besten Vorhersagen aus der Kombination von menschlicher und maschineller Leistung. Das gilt zum Beispiel auch für das Schachspiel. Der Großmeister Garri Kasparow, selbst von einer künstlichen Intelligenz auf spektakuläre Weise entthront, sieht die Zukunft des Spiels nicht als »Mensch gegen Maschine«, sondern als »Mensch mit Maschine«. Über alle Situationen hinweg gemittelt, lassen sich Vorhersagen schneller und mit geringerem Ressourceneinsatz durchführen, und deshalb sei das Auftreten maschineller »Intelligenz« im Prinzip eine gute Sache.

Dass der Preis der Vorhersage sinkt – bei gleichzeitiger Zunahme der Qualität –, hat unmittelbare Folgen auf das nächste Glied der »Produktionskette«: die Entscheidungen, die wir ausüben und für die wir zunehmend Vorhersagemaschinen zur Unterstützung heranziehen. Auf diesem Wege, so Agrawal und Kollegen, erhöhen künstliche Intelligenzen den Wert unseres menschlichen Urteilsvermögens. Aber sie machen es nicht überflüssig.

In überschaubaren Umgebungen, wo Daten reichlich vorliegen und Menschen bereits zahlreiche Entscheidungen getroffen haben, kann die KI aus diesen Beispielen lernen, indem sie darauf trainiert wird, das Verhalten ihrer menschlichen Vorbilder getreulich zu imitieren. Wenn in Banken etwa private Hypothekarkredite vergeben werden, dann erfolgen solche Kreditentscheidungen nach festen Kriterien (Tragbarkeit, Belehnung und so weiter), die auch eine Maschine anwenden könnte. Solche Entscheidungen würden in Zukunft wahrscheinlich von Bankangestellten an die Maschine delegiert werden. Aber dadurch drohen die Menschen nicht in die Überflüssigkeit abzudriften.

Denn zum einen liegen für viele Fälle die Voraussetzungen von Datenreichtum und hinreichender Regelmäßigkeit gar nicht vor. Zum anderen erweise sich unser menschliches Verständnis von anderen Menschen gerade in Ermangelung hochwertiger Daten als zentral für unsere Urteilsfähigkeiten. So können wir etwa anders als Maschinen ein Gesicht erkennen, nachdem wir es nur ein- oder zweimal, vielleicht sogar aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen haben. Urteilsfähigkeiten wiederum könnten auch weiter fortgeschrittene Maschinen schwerlich vorhersagen beziehungsweise erlernen. Der Mensch ist, mit Nietzsche gesprochen, das »nicht festgestellte Tier«.

Es ist das Verdienst der Autoren, zunächst begriffliche Klarheit herzustellen. Mit deren Hilfe können sie in erfrischender Weise übertriebenen Reaktionen beider Richtungen entgegentreten: sowohl den Pessimisten, die – in der Regel aus mangelndem Verständnis der Technik – das Schlimmste fürchten, als auch den glorifizierenden Optimisten, die vor allem in Unternehmerkreisen anzutreffen sind.

Die menschliche Autonomie ist durch KIs und ihre massiv angestiegenen Fähigkeiten per se nicht bedroht. Zunächst liegt es an uns, ob wir, nur die Effizienzsteigerung im Blick, blind Aufgaben an Maschinen delegieren wollen und sich dadurch eine Rückentwicklung von handwerklichem Können, Orientierungsvermögen und Bildung einstellt. Dazu gebe die Ökonomik, die sich als Anwältin der Vernunft versteht, jedenfalls keinen Anlass.

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