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Flucht ins Vergessen

Am 12. April 2005 sitzt Jonathan Overfeld auf einer Parkbank und ist einfach nur da. Er begutachtet seinen Autoschlüssel, betastet Hemd und Hose und wundert sich über den befremdlichen Geruch seines Rasierwassers. In seinem Kopf hat sich eine gähnende Leere ausgebreitet. Jonathan hat vergessen, wo und wer er ist. Sein ganzes Leben ist ihm entfallen wie anderen eine Telefonnummer.

"Wer kennt diesen Mann?", titelte die Hamburger Morgenpost einige Tage später und druckte dazu sein Bild ab. Der Journalist Kuno Kruse liest die Anzeige und wittert ein brisantes Thema: Was kann ein Gehirn derart zum Kapitulieren bringen? Die Diagnose der Psychologen lautet "dissoziative Fugue" – eine durch ein Trauma ausgelöste Flucht ins Vergessen. Der Patient kann zwar mit Zahlen jonglieren und Bachs "Ave Maria" auf dem Klavier spielen, seine engsten Freunde aber hält er für Fremde. "Jemand, der eine Amnesie hat, könnte mit seinem gelernten Wissen im Fernsehen Millionär werden, aber bei den persönlichen Zwischenfragen müsste er passen ", erklärt der Autor. Gemeinsam mit Jonathan macht er sich auf die Suche nach dessen Vergangenheit.

Schwer zu sagen, was beim Lesen mehr bedrückt: die Verzweiflung, die sich durch die ersten Kapitel zieht, Overfelds nicht enden wollende Fragen, sein Irren durch eine zeitlose Realität. Oder das, was danach kommt. Overfeld hat die Wahl: weiter im Dunkeln tappen – oder den schlimmsten Teil seines Lebens wieder an die Oberfläche holen. Er entscheidet sich für Letzteres.

Mit Kruses Hilfe trägt Overfeld Schicht für Schicht die Trümmer ab, unter denen er seine Erinnerungen begraben hat. Was zum Vorschein kommt, tut weh: Vergewaltigungen, Machtspiele und das allgegenwärtige Gefühl, für etwas bestraft zu werden. Je mehr Dokumente ihm das Geschehene wieder vor Augen führen, desto detailreicher kehrt auch die Erinnerung zurück – an die Schläge seiner Pflegemutter, die Brutalität der Erzieher im katholischen Salvator-Kolleg und die nächtlichen Priesterbesuche in der Strafzelle des Erziehungsheims. Zahlreiche Akten bezeugen, dass Overfeld in seiner Jugend ein Rabauke und Randalierer war.

Kruse setzt ein Mosaik zusammen aus bruchstückhaften Erinnerungen, den Reisen zu Schauplätzen von Overfelds Kindheit und zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen. Er redet mit Ärzten, Psychologen, Pflegegeschwistern. Je mehr er dabei ans Licht bringt, desto häufiger fragt sich der Leser, ob die beiden den richtigen Weg gewählt haben. Ein Psychologe rät, die Amnesie als Chance auf einen Neuanfang zu begreifen. Sei das nicht besser, als alte Wunden aufzureißen?

Als Overfeld seinen größten Peiniger wiedertrifft, sagt ihm dieser ins Gesicht: "Man muss auch einmal vergessen können. " In dem Moment wird klar, dass er richtig entschieden hat. Overfeld sei jemand, der mit dem Kopf gegen die Wand rennt, berichtet der Autor. Das habe ihm viele Schläge sowie unzählige Tage und Nächte in den Kerkern der Kirche eingebracht. Aber das sei auch gleichzeitig "das, was ihn überleben ließ".

Aus dem diffusen, lückenhaften Erlebnisbericht des Mannes auf der Parkbank ein rundes Werk zu zimmern, war gewiss eine Herausforderung. Kruse hat sie mit Bravur gemeistert.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 12/2010

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