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Tagebuch: Das Kurhaus im Spessart

Ältere Herren in Jogginganzügen, ein bisschen Schnee im Frühling und – last, not least – über 800 Psychotherapeuten auf einem Haufen. Das waren meine ersten Eindrücke von der Jahrestagung der Milton-Erickson-Gesellschaft für klinische Hypnose (MEG) Ende März in Bad Orb. Die skurril anmutende Kombination ergab sich aus meiner Unterbringung in einer der lokalen Kurkliniken – in einem Patientenzimmer wohlgemerkt. Auf den Fluren der »Anstalt« begegnete ich also entspannten Herrschaften in Freizeitkleidung und auf dem Weg zum Tagungsgebäude den typischen Requisiten eines Kurortes: Heilbrunnen, Kurpark mit Salinen und gutbürgerliche Wirtshäuser. Jahr für Jahr ist das mittelalterliche Städtchen im Spessart Tagungsort der MEG.

In der Konzerthalle, geprägt von altmodisch-plüschigem Ambiente, wurden die Vorträge abgehalten. So liefen hier am ersten Tag zusammen mit mir fast alle Teilnehmer ein, um den Worten der berühmten Hypnose-Koryphäen zu lauschen. Passend zum Tagungsthema »Hypnotherapie und Verhaltenstherapie bei Ängsten, Zwängen und Depressionen« erinnerte Paul Janouch, 1. Vorsitzender der MEG, in seiner Begrüßung daran, dass die Verhaltenstherapie unter anderem in der Hypnose wurzelt: Bei der »systematischen Desensibilisierung«, dem bekannten verhaltenstherapeutischen Standardverfahren bei Phobien, bilden Hypnose sowie Imagination und das Durcharbeiten problematischer Situationen in der Vorstellung zentrale Therapieelemente. In der Pause stürzte ich mich dann gemeinsam mit über 800 Psychotherapeuten ins Getümmel und beschäftigte mich mit asiatischen Klangschalen und Herumstehen in der Kaffeeschlange. Das Aufputschmittel erwies sich später als hilfreich gegen die Müdigkeit, die sich in den bequemen Sesseln im Saal irgendwann unweigerlich einstellte.

Am nächsten Morgen unterhielten die Vortragenden das Publikum weiter mit kreativen Ansätzen und unkonventionellen Sichtweisen. Gunther Schmidt, Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg, erklärte zum Beispiel, wie manche Menschen aus Loyalität zu anderen Depressionen entwickeln, weil es ihnen selbst nicht besser gehen soll als diesen. Die Depressionen müssten deshalb als Leistung anerkannt und gewürdigt werden, ehe man gemeinsam mit dem Patienten eine alternative Lösung erarbeiten könne.

Das ist überhaupt das Schöne an der Hypnotherapie: Sie begegnet den Menschen voller Respekt und Wertschätzung und nutzt all ihre Kreativität. Und sie eignet sich hervorragend als Ergänzung zu den praktischen Übungen der Verhaltenstherapie. Diese ist in Kombination mit Hypnose sogar wirksamer. In einer bekannten Studie des amerikanischen Psychologen Irving Kirsch aus dem Jahr 1995 mit übergewichtigen Patienten nahmen über 70 Prozent der Teilnehmer, die mit beiden Therapieformen behandelt wurden, mehr ab als diejenigen, die nur Verhaltenstherapie erhielten.

Aber auch an spannenden aktuellen Projekten herrschte in Bad Orb kein Mangel. Die Tübinger Professorin Ulrike Halsband stellte zum Beispiel ihre laufende Studie zum Vergleich von Hypnose und Meditation vor. Zum ersten Mal werden die Wirkungen beider Techniken auf das Gehirn an denselben Personen untersucht. Mittels bildgebender Verfahren schaut die Neuropsychologin ihren Freiwilligen dabei in den Kopf. Vorläufiges Resultat: Es gibt Gemeinsamkeiten in der Wirkung, aber auch Unterschiede. Näheres erst nach vollständiger Auswertung.

Neben Kuratmosphäre gab es an dem Wochenende also allerlei Neues aus der Hypnotherapie-Forschung und -Praxis. Der Schwerpunkt der Tagung lag dabei deutlich auf der praktischen Anwendung: Sehr vielen Workshops für Therapeuten standen nur relativ wenig Berichte aus der Forschung gegenüber. Insgesamt erfreut sich die Hypnotherapie in Deutschland wachsender Beliebtheit und hat viele bewährte und neuartige Techniken zu bieten. Wissenschaftliche Belege für ihre Wirksamkeit bleiben dafür rar – die Aussagekraft vieler Studien leidet schlicht an zu geringer Teilnehmerzahl, fehlender Kontrollgruppe und so fort. Und so ziehe ich das bei wissenschaftlichen Arbeiten so beliebte Fazit: Weitere Forschung ist nötig.

Anke Römer

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