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Tagebuch: Ein Ruck geht durch das Land –

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- jedenfalls was die Mathematik angeht. Und der Name des Urhebers ist in diesem Zusammenhang überraschend: Deutsche Telekom.

Schieben Sie Ihre Erfahrungen mit der Deutschen Telekom und die dazugehörigen Gefühle für einen Moment gedanklich beiseite. Die Telekom-Stiftung hat mit der gleichnamigen Firma – außer dem Namen natürlich – nur die Geldquelle gemeinsam. Ihre Aktivitäten dagegen veranlassen Günter Ziegler, Mathematikprofessor an der TU Berlin und Präsident der DMV, zu unverhohlenem Jubel: Da gibt es endlich eine – nicht zu knapp dotierte – Stiftung, deren Satzungszweck die Förderung der Bildung in den Gebieten Mathematik und Informatik ist und die inhaltliche Arbeit zu unterstützen bereit ist! Annette Schavan hat das Jahr 2008 zum „Jahr der Mathematik“ ausgerufen; wenn die Gerüchte stimmen, dann ist diese Entscheidung auf intensive meinungsbildende Aktivitäten von Ziegler und dem Vorstandsvorsitzenden der Stiftung, Klaus Kinkel, zurückzuführen.

Jawohl, der Klaus Kinkel, den man noch als Justiz- und Außenminister der Regierung Kohl kennt. Auf der gemeinsamen Jahrestagung von DMV (Deutsche Mathematiker-Vereinigung) und GDM (Gesellschaft für Didaktik der Mathematik), die zurzeit in Berlin stattfindet, lädt der Berliner Senat am Mittwochabend zum Empfang ins Rote Rathaus. Kinkel schaut sich um in den prachtvoll wieder hergerichteten Räumen und erinnert sich: „Hier haben wir auch Vereinigungsverhandlungen geführt.“ Die westlichen Delegationen wurden mit großem Tatütata und Personenschutz zum Verhandlungsort transportiert, und Kinkel versuchte sich auf dem Rücksitz ganz klein und möglichst unsichtbar zu machen, weil ihm dieser Auftritt, der wie ein Einzug der Eroberer wirken musste, zuwider war.

Heute wirft seine politische Vergangenheit auf besondere Weise Zinsen ab. Unter den Projekten, die seine Stiftung fördert, ist auch ein Modellversuch zur Neugestaltung der Mathematiklehrer-Ausbildung. Auf einem Symposium im Rahmen der Tagung führen die Professoren Albrecht Beutelspacher aus Gießen (besser bekannt als Initiator des Mathematikmuseums) und Rainer Danckwerts aus Siegen erste Ergebnisse vor.

Die sind für sich genommen schon recht interessant. Ich wusste auch nicht, dass Lehramtsstudierende sich gegenüber ihren aufs Diplom lernenden Kommilitonen, mit denen sie in derselben Vorlesung sitzen, in der Regel minderwertig fühlen und der Überzeugung sind, diese Vorlesung bringe ihnen kaum etwas. Ja, in unserer Übungsgruppe waren auch Leute, auf die das zutraf. Aber dass das ein so allgemeines Phänomen ist … Jedenfalls ziehen Beutelspacher und Danckwerts daraus die Konsequenz, Lehramts- und Diplomstudierende in getrennten Veranstaltungen zu bedienen, und nehmen sich dabei die Freiheit, das Programm für Erstere erheblich umzustellen – mit beachtlichen Erfolgen. In der Diskussion kommen jede Menge ängstlicher Einwände: dass dieses Modell doch mit den schon bestehenden und noch zu befürchtenden ministeriellen Vorschriften unvereinbar sei, und der Personalaufwand … Es ergibt sich eine merkwürdige Umkehrung der Verhältnisse – die Gesetzestreuen im Publikum, die Anarchisten auf dem Podium – und Kinkels entschlossene Ansage: „Damit gehen wir in die Kultusministerien!“ Und natürlich fällt es denen wesentlich schwerer, die Tür zuzumachen, wenn ein Kinkel davorsteht, als wenn es nur ein Mathematikprofessor ist.

Im Rahmen der Tagung eröffnet Kinkel auch die Ausstellung „Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur“. Eine sehenswerte Sammlung von Dokumenten und Statistiken, die nicht nur die braune Vergangenheit der DMV (die ungefähr so kläglich und beschämend ist wie die jeder Wissenschaft) und erschreckende Einzelschicksale jüdischer Mathematiker belegen, sondern unter anderem auch klarmachen, dass in Bonn über Jahrzehnte hinweg die Chefs des Mathematischen Instituts in der Mehrheit Juden waren (und die anderen eher unbedeutende Figuren). Die von den Nazis verbreiteten Vorurteile gegen eine „typisch jüdische“ Mathematik, die dort ebenfalls widerlegt werden, kannte ich gar nicht mehr.

Kinkel verspricht, dass seine Stiftung der Ausstellung helfen wird, durchs Land zu reisen. In diesem Fall hat er auch sehr persönliche Gründe für sein Engagement: Inzwischen hat er jüdische Enkelkinder.

Christoph Pöppe

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