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Lobes Digitalfabrik: Der Computer als Kaufhausdetektiv

KI-gestützte Überwachungskameras sollen in Zukunft Verbrechen automatisch erkennen. Aber ist menschliches Verhalten tatsächlich so stereotyp?
Überwachungskamera

Man stelle sich vor, ein Ladendieb streift auf seinem Beutezug durch ein Kaufhaus und steckt sich unauffällig Sachen in den Rucksack. Eine Überwachungskamera filmt das Geschehen und erkennt automatisch eine Straftat. Der Algorithmus alarmiert den am Ausgang postierten Sicherheitsroboter, der den Ladendieb per Gesichtserkennung identifiziert und festnimmt. Was nach Sciencefiction klingt, könnte schon bald Realität werden.

Der japanische Telekommunikationskonzern NTT East hat in Kooperation mit dem Start-up Earth Eye eine Überwachungskamera entwickelt, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz Ladendiebe in flagranti erwischen soll. AI Guardman (»KI-Wachmann«), wie die Überwachungstechnologie heißt, nutzt dabei eine Open-Source-Software der Carnegie Mellon University, die die Körpersprache analysiert. Die intelligente Kamera trackt Personen in der Ladenfläche und vermisst spezifische Punkte am Körper (zum Beispiel Handwurzel, Ellenbogen, Schulter, Hinterkopf). Eine Software gleicht daraufhin die Haltungsdaten – etwa den Neigungswinkel des Arms und die Beugung des Oberkörpers – mit vorab definierten »verdächtigen« Verhaltensmustern ab. Bei einem positiven Treffer schlägt das System Alarm und informiert per App den Ladenbesitzer, der das Foto des Tatverdächtigen dann auf seinem Smartphone oder Tablet sieht. Das KI-gestützte Überwachungssystem ist bereits in einigen Filialen der japanischen Elektronikmarktkette Bic Camera im Einsatz.

Das Start-up IC Realtime hat eine intelligente Videosuchmaschine namens Ella entwickelt, in der man in Videomaterial nach Gegenständen suchen kann. Eine Art Google für Überwachungskameras. Die Software bricht das Videomaterial in Metadaten herunter und sendet es an einen gesicherten Server. Dort werden die Metadaten von einem Algorithmus analysiert und in Informationsstücke verwandelt. In einem Suchfenster kann man einfach einen Begriff eingeben – zum Beispiel »dunkler SUV« –, dann durchkämmt die Software das Videomaterial und identifiziert per Objekterkennung den gesuchten Gegenstand. Für den Anwender heißt das: Man muss nicht mehr stundenlang Videomaterial auswerten, um herauszufinden, wann der Tankbetrüger mit dem Auto wegfuhr. Bei der Fahndung nach einem Bankräuber könnte man einfach die Täterbeschreibung in die Suchmaschine eingeben.

Wissenschaftler wollen jedoch noch einen Schritt weiter gehen. Sie wollen den Täter nicht Tage oder Wochen später in einer Datenbank identifizieren, sondern in Echtzeit: Die KI soll den Kriminellen auf frischer Tat ertappen – oder sogar schon davor, im Versuchsstadium, wenn er dazu ansetzt, Supermarktartikel in seine Jackentasche zu packen. Und so die Tat verhindern.

Die KI soll eine Prügelei erkennen – noch vor dem ersten Faustschlag

An der Carnegie Mellon University, von wo NTT East seine Software bezieht, trainieren KI-Forscher maschinell lernende Algorithmen, damit diese menschliche Verhaltensweisen auf Videomaterial erkennen. Neuronale Netze, die nach dem menschlichen Gehirn modelliert sind, brechen den Körper in seine einzelnen Glieder auf: Arme, Beine, Schultern, Köpfe – und detektieren anhand bestimmter Abweichungen von Bildvektoren kleinste Veränderungen in der folgenden Bildsequenz. Das KI-System kann dann erkennen, ob eine Person rennt – und möglicherweise auf der Flucht ist. Oder auf einen Passanten einschlägt. Das alles hängt von der Auflösung der Kamera ab. Der Computerwissenschaftler Alex Hauptmann sagte dem Tech-Portal »The Verge«: »Wenn ich das Ende eines Parkplatzes mit einer Kamera anschaue, kann ich glücklich sein, wenn ich sagen kann, dass jemand eine Autotür öffnet. Wenn sich eine Person vor einer Kamera befindet, kann ich bis auf die Finger zoomen.« Je hochauflösender die Kamera ist, desto mehr sieht sie. Der Technik entgeht kein Detail.

Das vom Facebook-Investor Peter Thiel finanzierte US-Start-up Athena Security verkauft Erkennungstechnologien, die spezifische Verhaltensweisen wie Schlagen oder langsame Gehgeschwindigkeiten im öffentlichen Raum erkennen. Die Software soll in der Lage sein, einen Straßenkampf zu detektieren, noch bevor der erste Faustschlag gesetzt ist. Wenn jemand in der Öffentlichkeit ein Messer zückt, könnte der Algorithmus Alarm schlagen und die Einsatzkräfte verständigen. Auch in Mannheim kommt seit Ende 2018 eine »intelligente« Videoüberwachung zum Einsatz, die mit Hilfe einer Software »Bewegungsmuster erkennt, welche auf die Begehung von Straftaten hindeuten«. Die Bildströme werden zum Führungs- und Lagezentrum beim Polizeipräsidium Mannheim übertragen, wo sie von Algorithmen ausgewertet werden.

Eine KI, die Laden- oder Taschendiebe erkennt, klingt zunächst mal gut. Doch das methodische Problem besteht darin, dass die Modelle ein typisiertes und prinzipiell wiederholbares Verbrechensmuster unterstellen. Nicht jeder Ladendiebstahl läuft gleich ab. Und nicht jeder, der sich etwas in die Tasche steckt, ist ein Ladendieb. Noch komplizierter wird es bei Delikten wie Betrug oder Nachstellen. Wie will das eine Software erkennen? Löst das Verfolgen einer Kundin schon Alarm aus? Es scheint, als bräuchten die künstlich intelligenten Ladendetektive noch etwas Nachhilfe.

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