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Freistetters Formelwelt: Eine Matrix mit beeindruckendem Namen

Elementarteilchen oszillieren zwischen verschiedenen Geschmacksrichtungen. Das macht Rechnen schwer - aber natürlich nicht unmöglich.
Sonne mit Flares und Sonnenflecken

Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts stand die Sonne im Zentrum einer Kontroverse zwischen Physik und Astronomie. Beobachtungen lieferten unerklärliche Daten, und jede Disziplin gab der anderen die Schuld am mangelnden Verständnis. Die Lösung fand man in einer überraschenden Eigenschaft der Elementarteilchen.

Neutrinos gehören zu den seltsamsten Elementarteilchen, die die Natur uns präsentiert. Es sind geisterhafte Objekte, für die der Rest der Materie nicht zu existieren scheint. Sie durchdringen alles und treten so gut wie nie mit dem Rest der Welt in Wechselwirkung. Sie sind überall; ihre Existenz zu messen, ist aber wegen ihrer Flüchtigkeit schwer. Die stärkste natürliche Quelle von Neutrinos in unserer unmittelbaren Umgebung ist die Sonne. Bei den nuklearen Reaktionen in ihrem Inneren werden sie in unvorstellbar großer Zahl freigesetzt. Ein paar Dutzend Milliarden von ihnen sausen hier auf der Erde pro Sekunde durch jeden Quadratzentimeter Oberfläche.

Ab den 1960er Jahren gelang es, Neutrinos in speziellen Teilchendetektoren nachzuweisen. Allerdings deutlich weniger, als man erwartet hatte. Der Grund ist in dieser mathematischen Formel zu finden:

Pontecorvo–Maki–Nakagawa–Sakata-Matrix

Links und rechts in dieser Gleichung sieht man einen Vektor, der die Eigenschaften eines Neutrinos beschreibt. Und dazwischen sitzt ein mathematisches Objekt mit dem beeindruckenden Namen »Pontecorvo–Maki–Nakagawa–Sakata-Matrix«. Um zu verstehen, was ihre Rolle in dieser Geschichte ist, müssen wir noch einmal zurück ins Innere der Sonne.

Das so genannte Standard Solar Model (SSM) der Astronomie beschreibt mathematisch, was im Kern unseres Sterns vor sich geht. Unter anderem sagt es voraus, dass dort eine große Anzahl an »Elektron-Neutrinos« produziert wird. Es gibt aber auch noch zwei andere Arten – so genannte »Flavors«- die »Myon-Neutrinos« und die »Tauon-Neutrinos«. Als man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Menge der von der Sonne abgestrahlten Elektron-Neutrinos in Experimenten maß, stellte man fest, dass man systematisch zu wenig von ihnen nachweisen konnte. Auf der Erde kam nur zirka ein Drittel der Menge an, die laut SSM von der Sonne produziert werden sollte.

Zuerst gab man die Schuld an dieser Diskrepanz den Astronomen. Sie hätten die Sonne falsch beschrieben; in Wahrheit würden ganz andere als die angenommenen Bedingungen herrschen. Temperatur und Druck in ihrem Kern würden vom Modell abweichen, und daher würden dort auch nicht so viele Neutrinos erzeugt wie vorhergesagt.

Die Astronomie ließ sich aber nicht beirren und verteidigte das Standard Solar Model. Und tatsächlich lag der Fehler bei einem unvollständigen Verständnis der Neutrino-Eigenschaften. Denn die drei verschiedenen Flavors von Neutrinos können sich ineinander umwandeln. Ein im Kern der Sonne produziertes Elektron-Neutrino muss auf der Erde nicht zwingend auch als solches ankommen, sondern kann sich unterwegs in ein Neutrino der beiden anderen Arten verändern.

Wie die Neutrinos das genau tun, wird durch die Pontecorvo–Maki–Nakagawa–Sakata-Matrix beschrieben. Mathematisch kann man sich den Prozess als eine Art abstrakter Rotation vorstellen. Der Vektor links in der Gleichung beschreibt – vereinfacht gesagt –, welchen Anteil die drei Flavors an einem Neutrino haben; der rechte Vektor tut das Gleiche für die Massen. Zwischen beiden Vektoren gibt es Abweichungen, die durch die Matrix beschrieben werden; sie stellt quasi eine »mathematische Mischung« dar. Berücksichtigt man die Tatsache, dass Neutrinos nie sie selbst bleiben, sondern oszillieren und als Mischung verschiedener Flavors existieren, dann stimmen die Vorhersagen des SSM wieder gut mit den Beobachtungsdaten der Teilchendetektoren überein.

Neutrinos können ihren Flavor übrigens nur dann ändern, wenn sie nicht masselos sind. Genau das war aber immer eine der Annahmen im Standardmodell der Teilchenphysik. Die Neutrinooszillationen belegen, dass diese Annahme falsch sein muss. Wir haben das Rätsel der Neutrinos noch lange nicht gelöst ...

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