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Freistetters Formelwelt: Irrationale Kaninchen

Was haben kopulationsfreudige Nagetiere mit Himmelsmechanik zu tun? Da muss man nur die richtige Formel betrachten. Und sie richtig schreiben.
Ein Kaninchen mit Sonnenbrille vor rosafarbenem Hintergrund. Bin nicht sicher, ob es eher niedlich oder verstörend ist.

Im Lauf meiner wissenschaftlichen Karriere habe ich nicht nur die üblichen Fachaufsätze in astronomischen Journalen publiziert, sondern auch ein Lehrbuch mitherausgegeben. Kein Buch, das einem im Grundstudium begegnet; es hat sich mit ziemlich speziellen Themen der Dynamik von Planetensystemen beschäftigt. Trotzdem bin ich immer wieder ein klein wenig stolz darauf, wenn ich es in die Hand nehme. Und ärgere mich gleichzeitig wahnsinnig, weil direkt auf der ersten Seite des ersten Kapitels ein Fehler zu finden ist. In dieser Einleitung ging es um die berühmte Fibonacci-Folge, die ich am liebsten mit dieser Formel darstelle:

Das ist die so genannte »Formel von Moivre-Binet«, die erst im 18. Jahrhundert entdeckt wurde – und damit lange, nachdem sich der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci im Jahr 1202 seine Gedanken über die Fortpflanzung von Kaninchen machte. Angenommen, ein Kaninchenpaar kann in jedem Monat ein weiteres Paar an Nachkommen zeugen. Im Alter von zwei Monaten kann dieses Paar selbst wieder Nachwuchs produzieren. Wie viele Kaninchen hat man dann nach einem Jahr?

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Rechnung ist simpel: Zu Beginn gibt es nur ein Paar, am Ende des ersten Monats hat sich daran nichts geändert. Am Ende des zweiten Monats haben wir aber schon zwei Paare. Im dritten Monat hat das ursprüngliche Paar nochmal Nachwuchs gezeugt, wir haben jetzt drei Paare. Im vierten Monat kommen nochmal Nachkommen dazu; diesmal aber sowohl vom ursprünglichen als auch vom im zweiten Monat gezeugten Paar. Wenn wir von Monat zu Monat die Paare zählen, lautet das Ergebnis also 1, 1, 2, 3, 5, und da ist schon ein Muster zu erkennen, das sich auch genau so fortsetzt: Wenn die ersten beiden Zahlen gegeben sind, ist jede neue Zahl der Reihe die Summe der beiden vorangegangenen Einträge. Nach zwölf Monaten landen wir so bei 144 Paaren (oder 288 Kaninchen).

Fibonaccis simple – und eher unrealistische – Überlegungen über Kaninchen haben der Mathematik eine wahre Schatzkiste an Erkenntnissen geöffnet. Der Quotient zweier aufeinander folgenden Zahlen in der Reihe nähert sich zum Beispiel immer weiter dem Wert des berühmten »goldenen Schnitts« an. Der wiederum steckt überall dort, wo es um Ordnung und Chaos geht.

Finde den Fehler

Und genau deswegen taucht die Fibonacci-Reihe auch im Lehrbuch über planetare Dynamik auf. Will man, vereinfacht gesagt, die potenziell chaotische Bewegung von Himmelskörpern beschreiben, muss man geordnete von ungeordneten Zuständen unterscheiden. Dafür wiederum muss man oft irrationale Zahlen durch rationale Ausdrücke approximieren, und der goldene Schnitt ist die irrationalste Zahl von allen.

Genau deswegen fasziniert mich auch die Formel von Moivre-Binet so sehr. Sie gibt ein explizites Bildungsgesetz für die Fibonacci-Folge an. Für jede ganze Zahl n kann man mit ihr direkt den n-ten Beitrag in der Reihe berechnen. Was ich sehr überraschend finde: In der Formel werden zwei irrationale Zahlen – (1 ± Wurzel(5)) / 2 – kombiniert, um am Ende dennoch immer eine ganze Zahl zu produzieren.

Die Zahlen der Fibonacci-Folge haben noch jede Menge andere Überraschungen parat. Der  Satz von Zeckendorf  etwa besagt, dass jede natürliche Zahl größer als null eindeutig als Summe voneinander verschiedener und nicht direkt aufeinander folgender Fibonacci-Zahlen geschrieben werden kann. Man kann sie für Computeralgorithmen verwenden, in der Analyse der optischen Eigenschaften von Materialien, bei der Beschreibung des Wachstums von Pflanzen und in jeder Menge anderer wissenschaftlicher Anwendungen.

Umso mehr ärgert es mich, dass mir gerade hier der Fehler im Lehrbuch unterlaufen ist. Wer sich selbst davon überzeugen möchte, ist herzlich eingeladen, die Abbildung 1 auf Seite 3 des Buchs »Chaos and Stability in Planetary Systems« (Springer, 2005) anzusehen.

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