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Futur III: Undichte Stellen

Nicht alle Parallelwelten sind streng parallel. Eine Kurzgeschichte von George Zebrowski
Fotografieren im Zeitalter der Quantenphysik

Da Felix wieder einmal nicht ans Telefon ging, humpelte Bruno schließlich über die Straße zum Haus seines Freundes und hielt ihm den rätselhaften Zahlungsbeleg unter die Nase. »Was soll der Quatsch, Felix?«

Obwohl Bruno schon lange Rentner war, erinnerte er sich noch gut an die Freuden seines früheren Klempnerberufs. Er liebte das kunstfertige Ausgestalten von Wasserleitungen, oft ganz ohne Notwendigkeit, nur wegen des schönen Aussehens, mit Edelstahl, Kupfer oder mit speziellen Verbindungsstücken aus Kunststoff. Es war schon eine ganze Weile her, dass jemand ihn um eine Reparatur gebeten hatte oder auch nur um einen Kostenvoranschlag. Doch jetzt war eine Zahlung seines langjährigen Freundes, eines emeritierten Physikprofessors, eingegangen, mit einem »Besten Dank dem Installateur« als Betreff.

Felix sah Bruno verständnislos an. »Aber … aber du hast die Arbeit erledigt, während ich unterwegs war.«

»Hab ich nicht«, erwiderte Bruno.

»Hast du das etwa vergessen?«, fragte Felix den auf einmal fremd wirkenden Freund.

»Ich habe dir keine Rechnung geschickt«, beharrte Bruno.

»Ganz wie du meinst«, versetzte Felix frostig und schlug Bruno die Tür vor der Nase zu.

Einen Monat später wiederholte sich die Szene, und diesmal wedelte Bruno mit einer bezahlten Rechnung für Badewannen-Armaturen, die er nicht installiert hatte.

Beim dritten Mal wurde Felix nachdenklich: »Man kann ja nicht leugnen, dass es diese Rechnungen gibt, und jede ist unterschrieben von uns beiden. Also: Wer veräppelt uns da, Bruno?«

»Vielleicht bist du’s?«, meinte Bruno.

»Du warst das wirklich nicht?«, fragte Felix. »Sind wir beide denn schon so vergesslich geworden?«

Bruno lehnte sich auf dem Sofa zurück und knetete sein krankes Knie, während sie auf die Papiere starrten, die vor ihnen auf dem Couchtisch lagen.

»Weißt du, Bruno«, sagte Felix, »ich bin ja nur ein mittelprächtiger Physiker, aber ich habe eine tollkühne Erklärung für das alles.«

»Wirklich? Das ist ja ganz was Neues.«

»Du gleitest, Bruno.«

»Ich gleite?«

»Jawohl, durch die Summe aller deiner Geschichten.«

»Meine was?«

»Du rutschst quer durch die Wahrscheinlichkeiten. Irgendeine Version von dir hat all diese Arbeiten ausgeführt.«

»Oh ja, und du hast mich dafür bezahlt«, seufzte Bruno. Ihn bekümmerte, offenbar die ersten Anzeichen von Wahnvorstellungen und geistigem Verfall bei seinem Freund feststellen zu müssen.

»Wir können es nachprüfen«, schlug Felix vor.

Sie gingen in sein Badezimmer und sahen unter dem Waschbecken nach, wo der neue Abfluss und die Wasserleitungen vor höchster Handwerkskunst nur so strahlten. Dann begutachteten sie die tadellose Ausführung von Dusche und Bad. Felix bückte sich unter die Wanne und betastete den Abfluss und die Leitungen. »Oh ja, sauber und trocken«, murmelte er zufrieden und sah sich auf dem Boden um. »Aber was haben wir denn da!«, rief er plötzlich und nahm ein langes graues Haar von den Fliesen. »Das ist sicher von dir!« Er stand auf, hielt das Haar gegen das Licht und sagte: »Weißt du, Bruno, wenn das stimmt, wirst du in der Physik berühmter werden, als ich das je sein könnte. Das ist die klassische, makroskopische Version von Feynmans Pfadintegral und Schrödingers Superposition der Wellenfunktionen.«

»Was sagt schon ein einzelnes Haar aus?«, fragte Bruno skeptisch.

»Eines ist genug … und ich werde es mathematisch beweisen«, antwortete Felix.

»Vielleicht wird noch eine Rechnung kommen«, meinte Bruno misstrauisch.

Felix seufzte. »Du hast Recht, ein Fachartikel mit der richtigen Mathematik und einem einzelnen Haar wird wohl nicht reichen. Es könnte auf mehrere Arten hierhergelangt sein, und schon gibt es endlose Debatten. Wir werden sehen, ob es noch einmal passiert, aber selbst das wäre nicht genug.«

»Also können wir im Moment nicht viel tun«, sagte Bruno in der Hoffnung, ein Aufschub würde den offensichtlich überarbeiteten Freund von seinen Wahnideen befreien.

»Aber trotzdem …«, grübelte Felix mit einem leicht irren Glitzern in seinen Augen. »Stell dir all die unendlich divergierenden Momente vor, wie sie an jeder Kreuzung eigene Wege gehen, jeden Tag, jede Minute, jeden Sekundenbruchteil, überall in allen Galaxien! Das ist doch faszinierend, davon einmal Zeuge zu sein!«

»Warum soll das ausgerechnet uns passieren?«, fragte Bruno, um seinem verwirrten Freund einen Gefallen zu tun.

»Warum geschieht überhaupt etwas in der Quantenwelt? Niemand weiß warum, außer dass es passiert und sich beschreiben lässt. Sogar vorhersagen kann man es und für technische Anwendungen nutzen. Die Frage nach dem Warum ist da sinnlos.«

Bruno fragte: »Und warum sind ausgerechnet wir in der Lage, es zu bemerken?«

»Irgendein Ausrutscher«, mutmaßte Felix.

»Aber dieses … dieses Überschwappen vom Kleinen zum Großen …«

»Der Mikrokosmos beeinflusst den Makrokosmos.«

»Sind solche Divergenzen denn häufig?«, fragte Bruno ungläubig.

»Es könnte sich um endliche Mengen handeln.«

Zermürbt und verwirrt ging Bruno heim und schlief schlecht. Unter anderem träumte er von den Objekten in der Arbeitswelt seines Freundes – eine riesige graue Unendlichkeit von raumlosen Abständen und blinzelnden Punkten, die mit der Unterseite eines Waschbeckens wenig gemein hatten. Er wachte mit dem Gedanken auf, dass das eine mit dem anderen gar nichts zu tun haben konnte, ungeachtet der Tatsache, dass die sichtbare Welt von einem unsichtbaren Quantenbereich abhängt.

Nachdem er aufgestanden war, setzte er sich an den Schreibtisch und arbeitete an den Fahnen der neuen Ausgabe seines Physikbuchs, die irgendwie unvertraut anmuteten, als hätte jemand anderer sie geschrieben. Aber schließlich ließ er sich auf ihre doch altbekannten und inzwischen oft überarbeiteten Details ein. »Wahrscheinlichkeiten ähneln den dünnen Seiten eines unendlichen Buchs«, schrieb er an den Rand des Manuskripts, »und manchmal kleben sie zusammen, gehen sogar ineinander über. Das mag durchaus die Realität sein, die menschliche Entscheidungen ermöglicht, wodurch wir einem strengen Determinismus durch eine Form von begrenztem Chaos entkommen …«

Ein kluger Gedanke, sagte er sich.

Klebriger Stoff, undichte Stellen.

Manche Weltseiten hafteten aneinander, andere nicht. Lächelnd nahm er ein Buch zur Hand und blätterte rasch die Seiten durch, wobei er sich fragte, inwiefern die Struktur des Universums einer Klempnerarbeit glich …

Leider klopfte gerade jetzt jemand an seine Tür; Bruno ärgerte sich über die Unterbrechung so früh am Morgen.

Er öffnete die Tür und erkannte Felix, seinen alten Schulfreund, mit einer Werkzeugkiste unter dem Arm.

»Also, da bin ich«, sagte Felix lächelnd. »Ich hoffe, du hast dein Spülbecken nicht nur kaputtgemacht, damit ich dich mal wieder besuchen komme.«

Bruno war einen Augenblick verwirrt, aber dann trat er beiseite, und der Klempner humpelte herein.

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