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Das Abitur vor der nächsten Reform

Diskussionen und Versuche zur Umgestaltung der Oberstufe an den höheren Schulen gibt es in Westdeutschland seit mehr als 40 Jahren. Derzeit erarbeitet die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder neue Vorgaben für ein Curriculum und die Reifeprüfung. Die Schweiz hat die Matura schon zum 1. August dieses Jahres reformiert.

Die Reifeprüfung ist in Deutschland seit rund 200 Jahren nicht nur Schulabschluß, sondern wird seit 1834 normalerweise auch für ein Hochschulstudium vorausgesetzt. Damals löste das in Preußen 1788 eingeführte Abiturientenexamen von Gymnasiasten endgültig die Aufnahmeprüfung der Universität ab.

Die alte Form des Abiturs und insbesondere der Kanon der Unterrichtsfächer in den voraufgehenden Jahren stehen nun seit Jahrzehnten zur Debatte. Änderungen wurden teils begrüßt, teils heftig abgelehnt. Auch die aktuellen Reformierungsabsichten finden sehr unterschiedlichen Widerhall.

Bereits 1951 gab es zwischen den westdeutschen Kultusministern und Hochschulrektoren Gespräche zu diesem Thema, die in die Richtlinien eines "Maturitätskatalogs" mündeten. Doch die Kritik am Wert des Abschlusses blieb. Nicht nur die Wirtschaft beklagte zunehmend die "Unwahrhaftigkeit und Dekadenz des Abiturs", das den neuen Anforderungen der technischen Zivilisation nicht gerecht werde.

Mit dem "Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens" vom 14. Februar 1959 setzte dann der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen endlich die Reform der gymnasialen Oberstufe in Gang. Er stellte fest: "Im Unterschied zu dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Bildungswesen kann die Vorbereitung auf ein akademisches Studium heute nicht mehr als das ausschließliche Ziel der Höheren Schule angesehen werden." Sie müsse auch den Bildungsbedürfnissen der Abiturienten gerecht werden, die ohne Studium in Wirtschaft und Verwaltung gingen.


Fächerwahl: Ausschluß vonMathematik oder Fremdsprachen

In der Saarbrücker "Rahmenvereinbarung" vom 29. September 1960 der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) heißt es zur Oberstufe des Gymnasiums: "Die Verminderung der Zahl der Pflichtfächer und die Konzentration der Bildungsstoffe werden eine Vertiefung des Unterrichts ermöglichen und die Erziehung des Schülers zu geistiger Selbsttätigkeit und Verantwortung fördern."

Die Mängel und Inkonsequenzen, die der Deutsche Ausschuß dem Entwurf 1964 vorwarf, sind bis heute Anlaß für den Kern der Kritik am derzeitigen Abitur. Je nach Schultyp sollte ein in den beiden letzten Schuljahren mathematik- oder fremdsprachenloser Unterricht erlaubt sein, denn diese Bereiche konnten schon vorher durch Prüfungen abgeschlossen werden. Nach weiteren Vorschlägen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und des Deutschen Bildungsrates kam schließlich am 7. Juli 1972 die "Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II" zustande, die – unter oft großen Mühen – auch realisiert wurde. Ein Beschluß vom 11. April 1988 revidierte allerdings die Gestaltung wieder etwas in Richtung des traditionellen Abiturs.

Nach dieser bis heute gültigen, ziemlich komplizierten Regelung beginnt die gymnasiale Oberstufe mit dem elften Schuljahr. An die Stelle der Jahrgangsklassen tritt ein Kurssystem; die Fächer sind einem Pflicht- und einem Wahlbereich zugeordnet, und es gibt Grund- und Leistungskurse. Die Abiturprüfung wird in vier Fächern – aus den Bereichen Mutter- und Fremdsprache, Gesellschaftswissenschaften, Mathematik/Naturwissenschaften/Technik sowie Religion oder Sport – abgenommen. Statt mit Noten wird nach einem Punktesystem beurteilt, das es erlaubt, auch wichtige Fächer schon in der zwölften Jahrgangsstufe abzuschließen, also etwa Mathematik, wenn man sich für Deutsch und eine Fremdsprache, oder eine Fremdsprache, wenn man sich für Mathematik und Deutsch entscheidet.


Fächerkanon oder Projektorientierung?

In bisher drei Konferenzen in Loccum hat die KMK einen neuen Dialog über ein "zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Verständnis von allgemeiner Bildung in der gymnasialen Oberstufe" begonnen. Die Schlußfolgerungen daraus sind konträr: Die eine Seite fordert, die Fächer Deutsch und Mathematik sowie die Fremdsprachen zu stärken, die andere will mehr fächerübergreifenden und projektorientierten Unterricht.

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat, wie ein Kongreß am 25. April dieses Jahres in Bonn zeigte, die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung Vorrang. Die Oberstufe des Gymnasiums müsse künftig auf das Studium und zugleich auf den Beruf vorbereiten – der Fächerka-non dürfe nicht einem konservativen Verständnis folgen. Die Reform von 1972 sei behutsam weiterzuentwickeln. (Zu diesem Kongreß hat der Vorstand der GEW-Bundesfachgruppe Gymnasien eine umfangreiche Dokumentation zur Vergangenheit und Zukunft der gymnasialen Oberstufe unter dem Titel "Reform oder Restauration" vorgelegt.)

Hingegen ist nach Meinung des Deutschen Philologenverbandes (DPhV) das Ziel der Vereinbarung von 1972 über die differenzierte Oberstufe "im ganzen nicht erreicht" ("Vorschläge des DPhV für die Weiterentwicklung der Oberstufe des Gymnasiums", August 1994). Am 13. Dezember letzten Jahres präsentierte der Verband ebenfalls in Bonn zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung sein neues Konzept, das wieder einen Kanon von Pflichtfächern fordert. Die Freiheit der Fächer(ab)wahl, die Gleichwertigkeit aller Fächer und die Auflösung des Klassenverbandes hätten sich im Schulalltag verheerend ausgewirkt, schrieb der Sprachwissenschaftler Horst Albert Glaser von der Universität Gesamthochschule Essen in der Zeitschrift des mit dem DPhV sympathisierenden Deutschen Hochschulverbandes ("Forschung und Lehre", Heft 2, 1995).

An einer Mittelposition dagegen hält die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) fest. Sie verwies in einem Entwurf zur Entwicklung der Hochschulen in Deutschland ("Dokumente zur Hochschulreform" 75/1992) auf eine gemeinsame Stellungnahme mit der KMK von 1982, daß bis zum Abitur in den Fächern Deutsch, mindestens einer Fremdsprache, Geschichte, Mathematik und mindestens einer Naturwissenschaft kontinuierlich unterrichtet werden solle.


Wird die Wahlfreiheit eingeschränkt?

Insgesamt verstärkt sich die Tendenz weg von den bisherigen freien Kombinationsmöglichkeiten der Fächer in der gymnasialen Oberstufe. In einer "Leipziger Erklärung" forderten der sächsische Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer und der Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) Gütersloh, Detlef Müller-Böling, am 23. Juni eine Reform des Abiturs, die sich ausschließlich an der Hochschulreife orientiere. Zum – bundesweit verbindlichen – Fächerkanon müßten Deutsch, Mathematik, Geschichte, eine fortgeführte Fremdsprache und eine Naturwissenschaft gehören. Bisher verleite der für viele Studienfächer angewandte Numerus clausus die Schüler in der Oberstufe oft dazu, die Kurse "nicht nach Begabung, Interesse und Studienwunsch, sondern unter dem Aspekt der Zensurenoptimierung" zu wählen.

Auf dem Kongreß "Hochschulzugang in Deutschland – Status quo und Perspektiven", den das sächsische Wissenschaftsministerium und das CHE am 22. und 23. Juni in Leipzig veranstalteten, betonte HRK-Vizepräsident Klaus Landfried, die derzeitige Gymnasialoberstufe tendiere "zur pseudowissenschaftlichen Spezialisierung, vor allem in den Leistungskursen". Er stellte die KMK vor die Alternative, entweder das Abitur wieder aussagestark zu machen oder Zulassungsprüfungen durch die Hochschulen einzuführen.

Die KMK sieht als vordringlich für ihre Arbeit in diesem Jahr an, die Prinzipien der gymnasialen Oberstufe weiterzuentwickeln und dabei anzustreben, daß allgemeine und berufliche Bildung den gleichen Rang erhalten. Sie hat eine Expertenkommission eingesetzt, die unter anderem klären soll, welche Qualifikationen bis zum Abitur vermittelt werden müssen, welche Defizite einer Studierfähigkeit entgegenstehen und was eine neue, noch für diesen Dezember geplante Vereinbarung der Kultusminister dazu verlautbaren könne. Am 12. Januar sagte Rosemarie Raab bei ihrer Amtsübernahme des KMK-Präsidiums, das Gymnasium habe "heute längst nicht mehr allein eine Zubringerfunktion für die Hochschulen, sondern muß sich verstärkt der Aufgabe der Vorbereitung für die Berufswelt stellen". Ein wichtiger Diskussionspunkt ist auch, ob für das Abitur statt der bisher 13 Schuljahre in Westdeutschland künftig zwölf genügen – wie früher in der DDR und künftig in der Schweiz. (In Österreich waren es immer zwölf; der Versuch in der sechziger Jahren, den Besuch der höheren Schule um ein Jahr aufzustocken, ließ sich nicht durchsetzen.)


Matura-Reform in der Schweiz

Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen mag ein Blick in die Schweiz nützlich sein. Die Eidgenossenschaft hat nämlich zum 1. August dieses Jahres tatsächlich eine Reform zustande gebracht. Die Maturitäts-Anerkennungs-Verordnung – Norm für die allgemeine Hochschulreife – ist jetzt nicht mehr nur Sache des Bundes, sondern zugleich die der Kantone. Von den mindestens zwölf Schuljahren (bisher teils auch 13) sind die letzten vier in eigens zur Vorbereitung der Reifeprüfung eingerichteten Maturitätsschulen abzuleisten.

Die Freiheiten bei den Wahl- und Pflichtfächern sind größer geworden, und statt bislang elf Fächern sind nur noch neun gefordert. Es gibt sieben obligatorische Grundlagenfächer: die jeweilige eigene Landessprache (Deutsch, Französisch oder Italienisch), eine zweite der Landessprachen, eine dritte Landessprache beziehungsweise Englisch oder eine alte Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften mit Pflichtunterricht sowohl in Biologie als auch in Physik und in Chemie, Geistes- und Sozialwissenschaften (Geschichte und Geographie samt einer noch intensiveren Einführung in Wirtschaft und Recht als bisher) sowie bildnerisches Gestalten oder Musik oder beides. Aus diesen Bereichen ist außerdem – als achtes – ein Schwerpunktfach zu wählen. Das neunte Fach ist ein Ergänzungsfach, das auch Religionslehre oder Sport sein kann.

Für den Abschluß wird in fünf dieser Fächer geprüft: in der Erstsprache, in einer zweiten Landessprache oder einer dritten Sprache, in Mathematik, im Schwerpunktfach sowie in einem weiteren Fach, für das der Kanton die Kriterien festlegt. Die Maturitätsnoten in diesen Fächern ergeben sich jeweils zur Hälfte aus der Prüfungs- und aus der Jahresleistung, in den übrigen Fächern aus der Jahresleistung.

Das Konzept soll mehr Spielraum bieten und dadurch besseren Unterricht ermöglichen. Laut der "Regelung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen" ist das Ziel der Maturitätsschulen, "die Entwicklung von Persönlichkeiten, die für ein Hochschulstudium geeignet sind, und den Erwerb einer auf unsere Zeit abgestimmten Allgemeinbildung in Einklang zu bringen".

Darüber, ob diese Doppelfunktion überhaupt Sache der Reifeprüfung sein soll und ob sie mit der Reform erreicht ist, scheiden sich die Geister. Der Rektor der Universität Zürich, Hans Heinrich Schmid, nennt sie "keinen tragfähigen Konsens". Auch der Verein Schweizerischer Gymnasiallehrer lehnt die Reform ab. Dagegen lobt sie der Rektor der Kantonsschule Küsnacht, Robert Gsell – sie werde es den Schulen ermöglichen, "einige drängende und zeitgemäße Anliegen zu verwirklichen: Förderung des selbständigen Arbeitens der Schülerinnen und Schüler, mehr Selbstverantwortung für die Lernenden, Maturitätsniveau für die Allgemeinbildung in der Lehrerausbildung, Einführung in Wirtschaft und Recht für alle Mittelschüler". (Die Kommentare von Schmid und Gsell sind in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 13. Januar 1995 nachzulesen.)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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