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Das Buch des Lebens


Seit vielen Jahren hat der Wissenschaftshistoriker und Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) eine beständige und sicherlich auch wachsende Lesergemeinde. Seine Essays mit höchst originellen Betrachtungen zur Naturgeschichte sind in mehreren Bänden auch in deutscher Übersetzung erschienen. In dem vorliegenden Werk hat Gould sieben Beiträge von fünf überwiegend britischen Autoren zusammengeführt; darunter stammen allein vier von dem Paläontologen Michael Benton von der Universität Bristol. Der etwas theatralisch klingende Titel entspricht dem der englischsprachigen Originalausgabe.

In einem sehr ausführlichen Vorwort reflektiert Gould kenntnisreich und mit gewohnter Brillanz über den Zusammenhang zwischen bildhafter Darstellung vergangenen Lebens und gesellschaftlichen Konventionen, bevor er mit problemgeschichtlichen Exkursen besondere Marksteine aus der Geschichte der Fossilienrekonstruktion und -darstellung vorführt.

Michael Benton orientiert im Einführungsteil "Leben und Zeit" darüber, wie die moderne Geochronologie die rund fünf Milliarden Jahre bisheriger Erdgeschichte in einfacher zu behandelnde Abschnitte gliedert, schildert in aller Knappheit bedeutsame geologische Prozesse (beispielsweise die Kontinentalverschiebung), skizziert den raum-zeitlichen Wandel von Arten und vergleicht frühere mit modernen Klassifikationsvorschlägen.

Nach dieser Ouvertüre breiten die übrigen Kapitel mit unterschiedlicher Gewichtung die eigentliche Chronologie des Lebens aus. John Sepkoski jr., Paläontologe aus Chicago, schildert unter dem Stichwort "Startschuß" den Beginn des Lebens in den Meeren und verfolgt dessen Spur vor allem am Beispiel der frühesten Tiere über den weiten Zeitraum vom Präkambrium bis ins untere Devon. Höhepunkte der Forschung wie die Entdeckung der Ediacara-Fauna in südaustralischen Sedimentgesteinen oder der Fossilien in den kanadischen Burgess-Schiefern nehmen dabei einen angemessen breiten Raum ein.

Die restlichen Kapitel konzentrieren sich auf die Phylogenie der Wirbeltierklassen, zunächst auf den Aufstieg der Fische im frühen Paläozoikum sowie auf die Evolution von Amphibien und Reptilien. Dann behandelt Benton die Biologie der Dinosaurier und ihrer Anschlußgruppe, der Vögel. Christine Janis von der Brown-Universität in Providence (Rhode Island) zeichnet die stammesgeschichtliche Entfaltung der Säugetiere seit der spätesten Kreidezeit nach. Peter Andrews und Christopher Stringer, die beide der "Human Origins Group" am Londoner Museum für Naturgeschichte angehören, verfolgen schließlich den Weg von den ersten Primaten bis zum modernen Menschen.

Die Texte der einzelnen Hauptkapitel lesen sich flüssig, sind sprachstilistisch dem Gegenstand angemessen und vermeiden weithin Fachwortballast. Eingeblendete Kästen zu themenverwandten Stichwörtern bieten ergänzende Informationen und lockern den Text auf.

Einige Fehlleistungen des Übersetzers beziehungsweise des Lektorats fallen allerdings auf: So wird stets fälschlich "die Membrane" geschrieben; den Pflanzen unterstellt der deutsche Text die Atmung von Kohlendioxid (Seite 41); das Mesenchym der Hohltiere wird mit "Gelatineschicht" wiedergegeben (Seite 61), Vierfüßer und andere beintragende Tiere heißen durchweg -füßler, Orchideen werden angeblich von Insekten befruchtet statt bestäubt (Seite 155); und der etwas krampfhafte Versuch, eingeführte Termini statt mit "c" einheitlich mit "k" zu schreiben, macht vor dem Vornamen des bekannten Mikrobiologen Carl Woese nicht halt.

Das Werk besticht durchweg durch seine exzellente und didaktisch recht gelungene Illustration. Außer relativ sparsam verwendeten Photos (überwiegend von Fossilfundstücken) begleiten und ergänzen zahlreiche Verlaufsgraphiken, Vergleichsdiagramme, Strukturschemata, Strichzeichnungen, Themenkarten und Rekonstruktionen die Textdarstellung.

Sehr einfallsreich, ansprechend und gerade für den Unkundigen hilfreich sind die Zeitleisten zur Evolution bestimm- ter Verwandtschaftsgruppen gestaltet: Durchgängig in allen Kapiteln sind gleiche Zeiten – bei unterschiedlicher chronologischer Auflösung – durch gleiche Farben wiedergeben.

Eindrucksvoll sind auch die Lebensraumbilder und Dioramen ausgestorbener Tiergruppen von Wissenschaftsgraphikern wie Ely Kish und John Barber. Dagegen fallen die von Marianne Collins eigens für dieses Werk gestalteten Szenarien (beispielsweise auf den Seiten 73, 82, 95, 116 oder 186) eher ab: Allzu undifferenziert und aussagenarm versinken die Bildinhalte in grüner, blauer oder grellgelber Tunke.

Der Klappentext verspricht, das Buch gehe der Dramaturgie des atemberaubenden Schauspiels Evolution auf den Grund, dessen Bühnenaufbau vor mehr als 4,6 Milliarden Jahren begann, ehe sich vor etwa 600 Millionen Jahren der Vorhang hob. Dies wird mit einer Fülle hervorragend aufbereiteten Faktenmaterials eingelöst – auf lehrreiche, nicht doktrinäre Weise und fast immer unterhaltsam. Wenn der Schutzumschlag etwas weniger kitschig und dafür zeitgemäß animativ gestaltet worden wäre, würde man das Buch noch bereitwilliger in die Hand nehmen, um sich kapitelweise festzulesen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 127
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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