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Die Evolution des Rassismus. Gebrauch und Mißbrauch von Wissenschaft

Aus dem Amerikanischen
von Sebastian Vogel.
S. Fischer, Frankfurt am Main 1995.
416 Seiten, DM 48,-.

Die Frage stellt sich nicht nur für Atomphysiker: Was geschieht, wenn die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in den Mittelpunkt politischen Interesses geraten? Was tun, wenn man befürchten muß, daß die eigenen Befunde radikalen Gruppierungen Argumente liefern?

Die amerikanische Anthropologin Pat Shipman schlägt in ihrem neuen Buch ein brisantes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte auf. Es beginnt bei Charles Darwin (1809 bis 1882), dem Begründer der modernen Evolutionstheorie, und endet – das macht die Aktualität des Werkes aus – erst bei Studien über die Erblichkeit von Anlagen zur Kriminalität im Jahre 1993.

Der gesundheitlich stark angeschlagene, zu einem zurückgezogenen Gelehrtenleben gezwungene Darwin war zum Kampf gegen die zahlreichen Gegner seiner Theorie nicht geneigt. Er war Naturforscher, kein Propagandist des Neuen, Umstürzlerischen. Diese Rolle übernahmen für ihn zwei Zoologen, in England Thomas Henry Huxley (1825 bis 1895) und in Deutschland Ernst Haeckel (1834 bis 1919).

Haeckel transformierte Darwins Evolutionstheorie in eine Weltanschauung, die er selbst Monismus nannte und die inhaltlich dem entsprach, was später Sozialdarwinismus hieß. Er betrachtete die menschlichen Rassen als so stark voneinander verschieden wie die Arten des Tierreichs, behauptete, die "Naturmenschen" in den Kolonialgebieten stünden den Affen näher als den "Kulturmenschen", und erklärte die "wahren Germanen", das "von Natur aus gute Volk der Deutschen", zur Krone der Schöpfung. Sein Einfluß auf die öffentliche Meinung in Deutschland ist laut Pat Shipman kaum zu überschätzen; seine populärwissenschaftlichen Schriften erzielten hohe Auflagen, und man betrachtete ihn – so zitiert die Autorin zustimmend den Historiker Daniel Gasman – als gottähnlichen Propheten, als Genie.

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geriet Haeckel mit seinem ehemaligen Lehrer, dem Pathologen Rudolf Virchow (1821 bis 1902), in einen großen Streit, den Pat Shipman so akribisch wie spannend darzustellen weiß. Virchow konnte den Abstammungsgedanken nicht akzeptieren; er "unterdrückte und leugnete die Tatsache der menschlichen Evolution... aus zwei Gründen: wegen der politischen Nützlichkeit und aufgrund seiner Ansichten über richtige wissenschaftliche Arbeit" (Seite 135). Mit harten Fakten versuchte er Haeckels dunklem Gerede von "Degeneration" und "Verunreinigung" des deutschen Volkes zu begegnen. Zu diesem Zweck unternahm er Reihenuntersuchungen an 676000 Schulkindern, die bewiesen, daß die Deutschen eben nicht mehrheitlich groß, blond und blauäugig waren.

Diese Arbeit, die Pat Shipman als unbeholfenen Versuch wertet, die Anthropologie aus einer Sammelleidenschaft in eine quantitative Wissenschaft zu transformieren, tat der Verbreitung Haeckelschen Gedankenguts keinen Abbruch, schürte aber diffuse Ängste in der Bevölkerung. Nachdem die Kinder in den Schulen begutachtet worden waren, ging das Gerücht um, der König von Preußen habe 40000 blonde, blauäugige Kinder beim Kartenspiel an den türkischen Sultan verloren, die nun ausgesucht werden sollten. Es spricht für die Vielseitigkeit von Pat Shipmans Studie, daß sie diese – in der Geschichtsschreibung häufig vernachlässigten – Reaktionen der Bevölkerung berücksichtigt und überzeugend als Hinweis auf die tiefen Wurzeln des nationalsozialistischen Rassenwahns interpretiert.

Während dieser in Deutschland, gestützt durch die Argumente des von Haeckel gegründeten Monistenbundes, die Oberhand gewann, machte der Darwinismus – und hier beginnt der vielen deutschen Lesern noch wenig bekannte Teil der Geschichte – in den USA eine ähnliche Wendung zum Politischen durch. Zu derselben Zeit, als man im Deutschen Reich die sogenannte Judenfrage als "Problem der Volksgesundheit" betrachtete und behandelte, diskutierte man in den USA die Erblichkeit von kriminellem Verhalten und Intelligenz, und man hetzte gegen Schwarze und An- gehörige der weißen Unterschicht. Es folgten gesetzlich legitimierte Sterilisationen, Zwangsmedikationen und Massenintelligenztests.

Es ist ein großes Verdienst des Buches, daß es nicht bei dem Zeitpunkt abbricht, als das systematische Morden an Juden und Zigeunern unter dem nationalsozialistischen Regime beendet worden war. Nachdem in den vierziger Jahren die alte Naturgeschichte einerseits sowie die neue experimentelle Biologie mit der Genetik andererseits nach langem gegenseitigem Ignorieren zusammengefunden hatten, erhielt die Evolutionstheorie ihre moderne, genetische Fundierung. Doch "Rasse" war ein unanständiges Wort geworden, das "schmutzigste im Lexikon". Eine ganze Generation von Forschern scheute sich, das Thema erneut anzugehen. Als man sich endlich wieder an das Gebiet herantraute, waren die rassistischen Anklänge nicht aus dem Diskurs verschwunden: Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kamen, daß die "negroide Rasse" als letzte das Gehirnvolumen des Jetztmenschen erreicht habe, wurden von Afroamerikanern als Beleidigung aufgefaßt. Die Frage, welche Rasse zuerst die Schwelle zum Menschsein überschritten habe, wurde zu einer nach dem Wert der Menschenrassen.

Als die Idee, Kriminalität als Problem der Volksgesundheit zu betrachten, in den USA neuerlich einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, befand man sich schon in den neunziger Jahren. Die Alcoholism, Drug Abuse and Mental Health Administration kündigte 1992 eine "Gewaltinitiative" unter Federführung des Gesundheitsministeriums für das Jahr 1994 an. Man wollte die zunehmende Gewalt in den Städten der USA als Gesundheitsproblem betrachten und mit der gleichen Energie angehen "wie zum Beispiel die Pocken". Zielgruppen waren vor allem junge Farbige in den Großstädten. Zahlreiche Proteste und Befürchtungen wurden von farbigen Kongreßabgeordneten, von Ärztevereinigungen und in den Medien laut. Vor allem schwarze Amerikaner fürchteten Zwangsmedikationen und gründeten Gegeninitiativen.

Schon vor der Ankündigung dieser Initiative waren Gelder für ein anderes Projekt genehmigt worden, dessen Organisator, dem Juristen David Wasserman, Pat Shipman eine gewisse Naivität bescheinigt: eine Konferenz mit dem Titel "Genetische Faktoren bei Verbrechen: Befunde, Nutzen, Anwendungen", welche die Auseinandersetzung versachlichen sollte. Statt erst zu forschen und sich dann über die Ergebnisse zu erregen, sollte hier im voraus bedacht werden, was man tun könnte und sollte. Doch, so die Autorin, die Stimmung war vergiftet. Gegner dieser Konferenz brachten sie zu Unrecht mit der Gewaltinitiative in Verbindung, die Verwaltung zog die genehmigten Gelder zurück, die Konferenz fand nicht statt. Mit dieser Schlappe der Partei der rationalen Auseinandersetzung schließt die Geschichte.

Das Ungeheuer des Rassismus sei "dick und groß geworden durch die ständige Nahrung aus Rassentrennung, Lügen und Halbwahrheiten, und jetzt ist es so stark, daß es uns alle zerstören kann", faßt die Autorin zusammen. Was ist zu tun? Sollte der Staat zum Beispiel Forschungen über den Zusammenhang von genetischer Ausstattung und kriminellem Verhalten nicht mehr finanzieren?

Pat Shipmans pragmatische Antwort ist die nicht gerade neue Forderung nach mehr öffentlicher Diskussion. Aber ihre grundsätzliche Position ist klar: "Unkenntnis ist nie die Lösung." Daß Unterschiede zwischen Menschen bestehen ist trivial; interessant ist, welche Bedeutung wir ihnen zumessen. Die Wissenschaften sollen Vorurteile ausräumen und Halbwahrheiten klären; wie wir mit ihren Ergebnissen umgehen, ist unsere eigene, moralische Entscheidung.

Pat Shipman hat ein wichtiges, engagiertes Buch geschrieben, das auch da noch gut zu lesen ist, wo es um die Feinheiten der Organisation von Konferenzen und Forschungsgeldern geht.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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