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Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert

Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995.
448 Seiten, DM 29,80.

Diese Aufsatzsammlung basiert auf einer Ringvorlesung an der Universität Gesamthochschule Kassel im Wintersemester 1993/94. Sie gibt einen guten ersten Überblick über die Rezeption der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809 bis 1882) bis zur Jahrhundertwende auf den Gebieten Biologie, Physik, Anthropologie, Psychiatrie und Soziologie. Die Autoren kommen aus verschiedenen Fachrichtungen und zahlreichen Forschungsstätten in Deutschland, Großbritannien, Italien und den USA.

Eve-Marie Engels, die Herausgeberin und Veranstalterin der Vortragsreihe, ist seit diesem Sommer Professorin für Wissenschaftsphilosophie in Tübingen. Sie stellt in einem einleitenden Artikel "Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen" vor. Allein fünf Autoren rekapitulieren die Diskussion um die Evolutionstheorie in Biologie, Physik, Psychiatrie und Soziologie im viktorianischen England. Sie beleuchten Darwins Versuch, mit seiner Theorie den Kriterien der damaligen Leitwissenschaft, der Physik, zu entsprechen, ebenso wie die feindliche bis wohlwollend gleichgültige Haltung der zeitgenössischen Philosophen und Physiker zur Evolutionstheorie.

Bei britischen Nervenärzten war Darwins Lehre – entgegen einem allgemeinen Vorurteil unter Wissenschaftshistorikern – keineswegs populär: Eine Auswertung der Artikel im "Journal of Mental Science" von 1859 bis 1875 belegt, daß in der Psychiatrie Großbritanniens typologisches Denken dominierte, "das in den moralischen Bindungen der Physiognomik und später der Phrenologie wurzelte und darüber hinaus Darwins Behauptung einer natürlichen Selektion zuwiderlief" (Seite 276). In einem weiteren Artikel analysiert Peter J. Bowler von der Queen s University in Belfast die Integration der Theorien Darwins in die Sozialtheorie Herbert Spencers (1820 bis 1904).

Der Artikel des italienischen Wissenschaftshistorikers Mario A. di Gregorio zeigt, wie Thomas H. Huxley (1825 bis 1895) einen Spagat zwischen den Theorien Karl Ernst von Baers (1796 bis 1876), der das Säugetierei entdeckte und die moderne Embryologie begründete, und Ernst Haeckels (1834 bis 1919) vollführte und so zu seiner eigenwilligen Version des Darwinismus kam: einer modifizierten Archetypenlehre.

Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey begründet, warum in Frankreich, anders als in England, Darwins Werk im wesentlichen nur von Anthropologen zur Kenntnis genommen wurde: Nach den heftigen Auseinandersetzungen in der französischen Akademie der Wissenschaften um einen Wandel der Arten, die 1830 im sogenannten Akademiestreit gipfelten, betrachteten die Biologen Frankreichs alle nicht experimentell belegten Hypothesen dazu mit Skepsis, so auch die Evolutionstheorie Darwins. Die Anthropologen dagegen suchten nach Theorien, die eine biologische Begründung für die Entstehung der menschlichen Gesellschaft zu liefern versprachen, und nahmen deshalb Darwins Thesen begeistert auf: "Die soziale Evolution wurde bald einer der am begierigsten diskutierten Aspekte des neuen ,phylogenetischen Transformismus . Was und wer sich entwickele, ob die natürliche Selektion zum Schaden oder zum Vorteil der menschlichen Gesellschaft wirke, ob der Mensch gegen die natürliche Selektion ansteuern solle – all dies waren Probleme, die die französischen Anthropologen... interessierten" (Seite 242/243). Dementsprechend wurde Darwin bereits 1871 in die Société d Anthropologie, aber erst 1878 in die Académie des Sciences als Mitglied aufgenommen.

Thomas Junker vom Darwin Correspondence Project an der Universität Cambridge (England) untersucht die Darwin-Rezeption bei deutschen Botanikern von 1859 bis 1880; Daniel P. Todes von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) ist mit einem Aufsatz von 1989 über "Darwins malthusische Metapher und russische Evolutionsvorstellungen" vertreten.

Die beiden letzten Beiträge sind Haeckel gewidmet. Der Psychiater Jürgen Sandmann untersucht "Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltanschauung", und Erika Krauße, Direktorin des Haeckel-Hauses in Jena, beleuchtet seine "ästhetische Theorie" und deren Ausstrahlung auf die zeitgenössische Kunst und Architektur; diesem Aufsatz sind zur Veranschaulichung zweiundzwanzig ganzseitige Abbildungen beigefügt. Eine Auswahlbibliographie, Kurzbiographien der Autoren sowie ein Namens- und ein Sachregister beschließen den Band.

Die mit einer Ausnahme sehr informativen und fast immer wissenschaftlich fundierten Artikel machen den Band zu einem Lesevergnügen. Der Artikel von Nicolas A. Rupke von der Universität Göttingen über "Richard Owen: Evolution ohne Darwin" wirkt jedoch sehr oberflächlich. Es fehlen in diesen zehn Seiten über den bedeutenden Anatomen und Paläontologen – Owen (1804 bis 1892) wurde als Leiter der naturhistorischen Abteilung des Britischen Museums in London einer der erbittertetsten Gegner Darwins – nicht nur die Nachweise für sechs Textzitate im Literaturverzeichnis; gravierendes anatomisches Unverständnis wie "Metacarpalia, die normalerweise nur in Gestalt von Knochen hinter dem Schienbein auftreten" (Seite 221) – eine für Mittelhandknochen (Metacarpalia) wahrlich abenteuerliche Position – und Ähnliches lassen ernste Zweifel aufkommen, ob der Autor Richard Owens Vorstellungen zur Evolution und in vergleichender Anatomie sachgerecht beurteilen kann.

Bei Auswahlbibliographien vermißt jeder Leser ein anderes Zitat; bei mir war es die Kritik von Wilhelm Roux (1850 bis 1924), dem Begründer der Entwicklungsmechanik, am Darwinismus, wie er sie beispielsweise in seiner 1880 in Leipzig erschienenen Habilitationsschrift "Über die Leistungsfähigkeit der Principien der Descendenzlehre zur Erklärung der Zweckmäßigkeit des thierischen Organismus" formuliert hat.

Diese Einwände schmälern jedoch kaum den guten Gesamteindruck. Der Textband ist jedem, der Interesse an der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat, wärmstens zu empfehlen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1996, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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