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dtv-Atlas zur Informatik. Tafeln und Texte


Ein Informatik-Nachschlagewerk ist bei seinem Erscheinen unweigerlich veraltet; das bringt die rasante Entwicklung dieses Wissenschaftszweiges mit sich. Aber der neu erschienene "dtv-Atlas zur Informatik" wirkt schon beim ersten Durchblättern erheblich verstaubter, als es sein müßte. Der promovierte Physiker Hans Breuer (Jahrgang 1933) hat viele aktuelle Trends und Entwicklungen nicht berücksichtigt, obwohl sie schon seit einigen Jahren für Furore sorgen.

Schnell verdichtet sich der Anfangsverdacht, daß die meisten Abschnitte (Geschichte der Rechenmaschinen, Informationstheorie, Zahlensysteme und Darstellung, Datenübertragung, Digitale Rechenanlagen, Ein-/Ausgabegeräte, Allgemeine Programmierung des Rechners) im großen und ganzen den Informatik-Lehrplänen der siebziger und frühen achtziger Jahre entsprechen. Immerhin sind die jüngsten Neuerungen auf dem Hardware-Markt eingearbeitet. Physikalische Aspekte und die Geschichte der Rechenmaschinen sind besonders gut und ausführlich beschrieben.

Dagegen ist das Thema Datenfernübertragung auf zwei Seiten beschränkt. Internet wird nur am Rande erwähnt, noch weniger erfährt man über die Funktionsweise derartiger Netzwerke, nichts über Netzwerkprotokolle wie TCP/IP oder das OSI-Schichtenmodell und trotz leichter PC-Lastigkeit des Buches auch nichts über Novell-Netze. Im Zeitalter von information highway und Datenautobahn ist dies mehr als dürftig.

Überraschenderweise ist dagegen das neue Phänomen der Computerviren und -würmer behandelt. Ein guter Einfall; gerade Laien haben oft völlig falsche Vorstellungen von diesen Programmen.

Im Kapitel über Programmiersprachen fällt auf, daß objektorientierte Sprachen gänzlich vernächlässigt wurden. Nur der Urahn SMALLTALK ist erwähnt, C++ wird gar zu den rein imperativen Sprachen gezählt, und objektorientierte Konzepte sind nicht einmal aufgelistet. Dabei schießen objektorientierte Analysemethoden, Datenbanken und Programmiersprachen wie Pilze aus dem Boden.

Klassische, von der Informatik gut beherrschte Themen wie den Compiler-Bau hat Breuer kaum gestreift. Anerkennenswert ist der Abschnitt über den Rechner als Textverarbeiter, jedoch reichen für eine derart weitverbreitete Anwendung zwei Seiten nicht aus. Schlüsselwörter wie Desktop-Publishing, Serienbriefe, Formatvorlagen, Postscript- und Bitmap-Fonts und vieles mehr fehlen – vielleicht, weil sich der Autor WORDSTAR als Beispiel genommen hat? Das Kapitel über graphische Datenverarbeitung ist besser gelungen.

Im Anhang über herausragende Vertreter der Informatik stehen Namen wie Kurt Gödel und Noam Chomsky, aber im gesamten Buch wird verschwiegen, warum sie so bedeutend für die Informatik sind; weder Gödels Unvollständigkeitssätze noch die Chomsky-Hierarchie der formalen Sprachen werden angesprochen, wie auch insgesamt die theoretische Informatik trotz ihrer historischen Bedeutung eher vernachlässigt ist. Immerhin wird Alan Turing erwähnt.

Mag sein, daß der Verlag diese Themen als zu trocken für Schüler und Laien erachtet und gestrichen hat. Aber in einem Atlas ist jeder weiße Fleck auf der Landkarte ärgerlich. Die Tatsache, daß es unentscheidbare Probleme und somit nicht berechenbare Funktionen gibt (das sogenannte Halteproblem für Turing-Maschinen), ist fundamental. Daß forschungsrelevante theoretische Themen wie Semantik von Programmiersprachen, Spezifikation und Verifikation von Programmen ebenfalls nicht genannt werden, ist dann nur konsequent.

Jedoch unverzeihlich ist das Weglassen der revolutionären Veränderungen in den Bereichen Multimedia und Vernetzung. So findet man nichts unter Stichwörtern wie Hypertext, World Wide Web, Cyberspace, virtuelle Realität sowie Video- und Bildspeicherformate. Ein geeigneter Platz dafür wäre zum Beispiel im letzten Kapitel "Ausblicke" gewesen, das durch seine wohltuend kritischen Erläuterungen zur künstlichen Intelligenz auffällt. Der Aspekt "Informatik und Gesellschaft" hätte in den Atlas mit aufgenommen werden sollen.

Elementares fehlt auch in bereits renommierten Zweigen der Informatik: Über deduktive und relationale Datenbanken erfährt man ebensowenig wie über ihre Abfragesprachen. Der Software-Lebenszyklus ist, obgleich nicht schwer zu erklären, nicht behandelt. Das gutgemeinte Lexikon der englischen Fachausdrücke im Anhang (drei Seiten) und das Abkürzungsverzeichnis (zwei Seiten) sind wichtig, aber viel zu kurz. Wir finden (um nur einige prominente Beispiele zu nennen) weder Begriffe wie device, download, heap, login, mount noch Abkürzungen wie SCSI, GUI, VT100, eps oder X11. Damit wird schon die oberflächliche Lektüre einer aktuellen Computerzeitschrift durch den Atlas nicht wesentlich erleichtert.

Die vielen graphischen Tafeln, welche die dtv-Atlanten allgemein auszeichnen, sind wieder gut gelungen. Die Sprache ist durchweg leicht verständlich. Der Autor gibt stets englische Fachbezeichnungen in Klammern mit an und unterläßt artifizielle Übersetzungen ins Deutsche. Nur manchmal vergreift er sich etwas in der Wortwahl. "Der lautlose Laserdrucker" ist mir noch nicht begegnet, ich weiß auch nicht, was ein "verwickelter Compiler" ist. Die Programmiersprache Turbo-Pascal hat nicht schon deswegen "verständliche Zuweisungen", weil man sie mit Groß- und Kleinbuchstaben schreiben darf.

Die Aussage "Inzwischen liegt C++ zur Programmierung von Parallelrechnern vor" erweckt einen völlig falschen Eindruck. C++ ist eine imperative, objektorientierte Sprache, und verschiedene Dialekte sind für fast jeden Rechnertyp erhältlich. "C-Programme werden als Ganzes übersetzt" ist falsch, ansonsten wäre auch Software-Entwicklung heutzutage nicht mehr möglich. Themen wie Versionskontrolle und modulare Übersetzung bleiben dem Leser vorenthalten.

Schnittstellen existieren für den Autor ausschließlich im Hardware-Bereich. Ich wünsche mir mehr Schnittstellen mit dem breiten Spektrum der aktuellen Informatik. Denn das Buch kann nicht halten, was das Vorwort verspricht, nämlich "dem interessierten Laien und dem Fachmann ein hochaktuelles Wissensgebiet näher[zu]bringen".



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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