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Eine ausgewogene Rentenformel

Künftige Belastungen des Rentensystems lassen sich gleichmäßig auf Beitragszahler und Leistungsempfänger verteilen, wenn die Renten nach einer neuen Formel angepaßt werden, die sowohl die Arbeitsmarkt- und die demographische Entwicklung als auch die zusätzliche Leistungsfähigkeit der Rentner berücksichtigt.

Die Höhe der Lohnnebenkosten beherrscht die politische Diskussion. Allein der von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen zu tragende Beitrag zur Sozialversicherung ist von 26,5 Prozent des Bruttoeinkommens im Jahre 1970 auf 42 Prozent im vergangenen Jahr angestiegen und droht weiter zu wachsen – mit negativen Folgen für das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer, für die Beschäftigung und für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Das Dilemma der Rentenfinanzierung

Den größten Anteil an den Sozialabgaben nimmt die Rentenversicherung ein. Sie beruht in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Umlageverfahren: In Erfüllung eines ungeschriebenen Generationenvertrags finanzieren die jeweils Erwerbstätigen die Renten der zur gleichen Zeit lebenden Rentner. Deshalb steht jede Rentenpolitik bei finanziellen Engpässen vor der wenig attraktiven Alternative, entweder den Aktiven zugunsten der Rentner etwas wegzunehmen oder umgekehrt.
Für die aktuelle Verschärfung der Situation, die sich beispielsweise in der – mühsam abgewendeten – Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags auf 21 Prozent für 1998 äußert, gibt es kurz- und langfristige Ursachen. Kurzfristig ist in erster Linie die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich (4,5 Millionen Arbeitslose im Dezember 1997, was einer Quote von 11,8 Prozent entspricht), mittel- und langfristig jedoch vor allem die demographische Entwicklung. Die Bevölkerung Deutschlands wird immer älter (vergleiche meinen Beitrag "Realistische Berechnung von Lebenserwartungen", Spektrum der Wissenschaft, März 1994, Seite 21), und die Kinderzahl nimmt deutlich ab, so daß sich die Altersstruktur massiv verändern wird. Während heute 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 70 Jahre alt sind, werden es im Jahre 2030 voraussichtlich 25 Prozent sein.
Basis des Umlageverfahrens ist eine einfache Gleichgewichtsformel: Anzahl der Beitragszahler mal Durchschnittsbeitrag (pro Jahr) gleich Anzahl der Leistungsempfänger mal Durchschnittsleistung (pro Jahr). Hinzu kommt ein Bundeszuschuß von – im letzten Jahr – ungefähr 20 Prozent, der mit den sogenannten versicherungsfremden Leistungen begründet wird. Was genau dazu gehört, ist teilweise strittig, theoretisch schwierig abzugrenzen und deshalb ebenso wie die Höhe des Bundeszuschusses eine vorrangig politische Frage.
Die Anzahl der Beitragszahler und Leistungsempfänger ist von seiten des Staates kaum zu beeinflussen: Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigung, zur Ausweitung des Kreises der Versicherungspflichtigen und zur Anhebung des Rentenalters sind wenig wirksam oder derzeit nur schwer durchzusetzen. Als Möglichkeiten, das Gleichgewicht zu erreichen, bleiben deshalb nur Verringerung der Leistungen, Erhöhung der Beiträge oder Erhöhung des Bundeszuschusses. Von der ersten Möglichkeit ist seit 1989 – in Umkehrung eines bis dahin durchgängigen Trends – zum Beispiel durch Einschränkungen bei der Anerkennung von Ausbildungszeiten und beim ungekürzten vorzeitigen Rentenbezug Gebrauch gemacht worden.
Seit dem Rentenreformgesetz 1992 ist die Höhe der Renten an die des durchschnittlichen Nettoeinkommens (statt – wie zuvor – des Bruttoeinkommens) gekoppelt. Wenn sich die Anzahl der Leistungsempfänger erhöht und die Anzahl der Beitragszahler sinkt, läßt sich dies somit nur durch eine Erhöhung des Beitragssatzes ausgleichen. Die Folgen der angegebenen Veränderungen treffen mithin einseitig den Beitragszahler. Dies wird nur geringfügig dadurch abgemildert, daß eine Beitragserhöhung das Netto-Einkommen und damit auch die Rentenzuwächse verringert.
Aus diesem Grunde wird seit dem Frühjahr 1996 verstärkt eine Korrektur der seit 1992 gültigen Rentenberechnungsformel diskutiert mit dem Ziel, auch die Leistungsempfänger an den neuen Lasten angemessen zu beteiligen. Das Ende letzten Jahres verabschiedete Rentenreformgesetz koppelt ab 1999 das Rentenniveau indirekt an den Anstieg der Lebenserwartung 65jähriger; im Endeffekt läuft das auf eine allmähliche Absenkung des Rentenniveaus von 70 auf 64 Prozent hinaus. Alternativ könnte man auch einfach die alljährliche Rentenerhöhung um einen festen Satz von beispielsweise 0,6 Prozentpunkten niedriger ausfallen lassen, als sich aus der nocht geltenden gesetzlichen Vorschrift ergeben würde.

Eine austarierte Lösung

In einem kürzlich erschienenen Buch ("Die Renten sichern. Ein Weg aus der Rentenkrise", Eul, Lohmar 1997) erörtere ich ausführlich einen dritten, 1996 von mir in die Diskussion eingebrachten Ansatz. Statt von dem gesetzlichen Erhöhungssatz eine vorgegebene Zahl zu subtrahieren, schlage ich vor, ihn mit einem Faktor (kleiner als 1) zu multiplizieren. Das hat den Vorteil, daß die unvermeidliche Absenkung vorrangig in wirtschaftlich günstigen Jahren stattfindet, in denen sie leichter zu verkraften ist. Eine allgemeine Minderung um 0,6 Prozentpunkte würde von einer Rentenerhöhung um 1 Prozent kaum etwas übrig lassen, eine Erhöhung um 4 Prozent jedoch nur auf 3,4 Prozent schmälern. Bei einem Faktor von 0,8 blieben dagegen von dem einen Prozent immerhin 0,8 Prozent übrig, von den 4 Prozent aber nur 3,2, was leichter zu verschmerzen ist. Langfristig könnten beide Maßnahmen annähernd denselben Effekt haben.
Wie soll nun dieser Minderungsfaktor berechnet werden? Ein Grundgedanke ist, die Rentner an den Kosten der Arbeitslosigkeit und der demographischen Entwicklung zu beteiligen. Deshalb sollten bei hoher Arbeitslosenquote oder bei einer Zunahme des Verhältnisses von Rentnern zu Erwerbstätigen auch die Renten weniger stark steigen, so daß der Korrekturfaktor kleiner ausfallen muß. Dieses Prinzip kann man in einfache Formeln fassen, deren Parameter beschreiben, wie stark die Arbeitsmarktlage beziehungsweise demographische Größen den Minderungsfaktor beeinflussen sollen (siehe Kasten auf Seite 12).
Es läge nun nahe, ein bestimmtes Rentenbeitragsniveau (beispielsweise 20 Prozent) als nicht zu überschreitende Schmerzgrenze festzulegen und unter dieser Voraussetzung die Parameter so zu bestimmen, daß das Gleichgewicht zwischen Beiträgen und Renten erreicht wird. Das Ergebnis wäre jedoch nicht praktikabel. Heute kommen ungefähr zwei Erwerbstätige auf einen Rentner; dieses Verhältnis wird in den nächsten 30 Jahren fast auf 1 zu 1 zurückgehen. Also wäre durch eine entsprechende Korrekturformel das Rentenniveau bis 2030 auf 40 statt der nun angepeilten 64 Prozent zu senken – auf beinahe die Hälfte des derzeitigen Wertes!
Sinnvoller scheint demnach die Bedingung, daß das Rentenniveau nicht unter einen vorzugebenden Prozentsatz – beispielsweise 64 Prozent – sinken darf. Unter Einhaltung dieses Eckwertes sind die durch die demographische Entwicklung entstehenden zusätzlichen Belastungen so auf Beitragszahler und Leistungsempfänger aufzuteilen, daß sich die ansonsten unvermeidliche Erhöhung des Beitragssatzes in Grenzen hält.
Das Ergebnis einer Modellrechnung unter Zugrundelegung aktueller Annahmen über die künftige Wirtschaftsentwicklung fällt überraschend günstig aus (Bild): Einzig und allein durch Verminderung der Rentenerhöhung, also ohne nominale Senkung der einzelnen Rente, gelingt es, den Beitragssatz von 2000 bis 2015 unter 20 Prozent zu halten. Wenn der Bundeszuschuß kumulativ derart erhöht wird, daß der Beitrag zehn Jahre lang um 0,1 Prozentpunkte sinkt und danach insgesamt um einen Prozentpunkt niedriger ausfällt, wird das Niveau von 20 Prozent sogar erst im Jahre 2021 erreicht. Die gerade beschlossene sofortige Erhöhung des Bundeszuschusses um knapp 15 Milliarden DM jährlich hat unmittelbar diesen Effekt, mußte jedoch durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden.
Denkbar wäre auch, den Beitragssatz ab sofort auf 20 Prozent festzuschreiben und aus den nicht benötigten Mehreinnahmen ein Vorsorgekapital für die danach liegenden kritischen Jahre der Rentenversicherung aufzubauen. So könnte ein Beitragssatz von 20 Prozent noch über 2020 hinaus gehalten und eine spätere Beitragserhöhung abgemildert werden.
Da die Senkung des Rentenniveaus in meinem Ansatz nicht an der Rente selbst, sondern an ihrem Zuwachs angreift und zudem auf einen langen Zeitraum verteilt wird, ist die vielfach geäußerte Befürchtung, daß viele Renten auf Sozialhilfeniveau sinken würden, unbegründet. Solange die Sozialhilfe nicht stärker als die Renten steigt, werden vorhandene Abstände zwischen beiden Leistungen absolut sogar größer.

Gibt es Alternativen?

Ein ernstzunehmendes Argument besagt, daß die Arbeitsmarktsituation ein gesamtgesellschaftliches Problem sei und deswegen nicht in die Korrektur der Rentenformel einbezogen werden sollte. Entsprechend wären die Arbeitslosigkeit und der zugehörige Beitragsausfall in der gesamten Sozialversicherung grundsätzlich aus Steuermitteln zu finanzieren. Ähnliches gilt für das Argument, daß zwar die Belastung der Rentenversicherung durch die steigende Lebenserwartung, nicht jedoch die Verschiebung der Altersstruktur durch Korrektur der Rentenformel aufgefangen werden sollte. Letztlich ist jedoch auch die Veränderung der Lebenserwartung in bestem Sinne ein gesamtgesellschaftliches Problem. Bezeichnenderweise hat man die Einbeziehung der Lebenserwartung in die Rentenformel und die resultierende Absenkung des Rentenniveaus, wie sie das jüngste Reformgesetz vorsieht, zwar versicherungsmathematisch begründet, diese Argumentation aber nicht durchgehalten; sonst müßten beispielsweise Frauen wegen ihrer höheren Lebenserwartung schlechter gestellt werden als Männer.
Viele Argumente laufen darauf hinaus, die Rente, deren Höhe heute teils mit dem Versicherungsprinzip von Leistung und Gegenleistung des einzelnen und teils mit dem Prinzip der Bedürftigkeit begründet wird, in ihrem Charakter in Richtung einer Sozialleistung zu verschieben – mit einer entsprechenden Erhöhung des Bundeszuschusses.
Die extreme Ausprägung des Sozialprinzips ist die steuerfinanzierte Grundrente. Allerdings wäre diese kaum preiswerter zu haben als das gegenwärtige Rentensystem. Zudem müßte sich der überwiegende Teil der Bevölkerung wesentlich stärker als heute durch eine zusätzliche private Altersvorsorge absichern. Des weiteren ist eine Grundrente für die Politiker leichter manipulier- und in ihrer Höhe nach Kassenlage festsetzbar. Schließlich würde sie, weil sie leistungsunabhängig gezahlt werden soll, eher als ungerechter als das bisherige System empfunden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Schweden – ein Land, das sehr gerne als Vorbild herangezogen wird, wenn es um die Sozialstaatsreform geht – sich derzeit von der steuerfinanzierten Grundrente zugunsten eines beitragsfinanzierten Systems löst.
In die entgegengesetzte Richtung – hin zum reinen Versicherungsprinzip – geht die Einführung einer vollständigen Kapitaldeckung in der Rentenversicherung. Beide Systeme scheinen auf den ersten Blick dem demographischen Problem gegenüber besser gewappnet zu sein. Doch scheitern sie nicht zuletzt daran, daß über einen großen Zeitraum zwei Systeme nebeneinander zu finanzieren wären – eine für die zahlende Generation kaum zumutbare Belastung. Für Staaten, in denen eine staatliche Rente neu einzuführen ist, stellt sich die Situation allerdings völlig anders dar.
Der Blick über die Landesgrenzen lohnt eher in südlicher Richtung. Es ist kaum bekannt, daß die Schweiz eine Bemessungsgrenze nicht beim Kassieren des Beitrags, sondern nur beim Berechnen der Rente kennt. Der feste Beitragssatz – von weniger als 10 Prozent des gesamten Erwerbseinkommens – gleicht einer proportionalen Steuer. Von diesem Einkommen gelten jedoch maximal 71640 Franken pro Jahr als rentenbildendes Jahreseinkommen. Parallel dazu existiert eine obligatorische betriebliche Altersvorsorge, die teurer ist als die staatliche Rente, aber auch mehr leistet. Nur besteht kaum eine Chance, daß das Schweizer System in Deutschland übernommen oder auch nur diskutiert würde.
Eines läßt sich allerdings problemlos vom südlichen Nachbarn übernehmen: das auch bei uns propagierte, aber noch zu wenig umgesetzte Drei-Säulen-System aus staatlicher Rentenversicherung sowie betrieblicher und privater Altersvorsorge. Zweifellos sind die Säulen unterschiedlich stark, und die Gewichte werden sich im Laufe der Zeit etwas von der staatlichen auf die private Vorsorge verschieben. Aber da wir dies heute bereits wissen, können wir uns darauf einstellen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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