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Eine halb wahre Geschichte

Ein Satz, der sich selbst widerspricht, stürzt den Denker in einen unauflöslichen Widerspruch – oder in eine unendliche Folge von Aussagen, die es als dynamisches System zu betrachten lohnt.

Darf ich mich vorstellen? Epimenides, berufsmäßiger Lügner. Nun, das stimmt nicht ganz. Eigentlich heiße ich Philipp Schwätzer und arbeite für eine Versicherungsgesellschaft. Aber meine Freunde im Paradox-Klub nennen mich Epimenides, und wenn ich mit ihnen zusammen bin, lüge ich immer.

Letzten Donnerstag regnete es, und deshalb kam ich ein bißchen zu spät in den Klub. Sokrates und Plato lehnten an der Bar; neben ihnen stand ein molliger kleiner Herr.

"Das ist unser neues Mitglied, Herr Lukasiewicz", bemerkte Plato.

Es ist nichts Besonderes, im Paradox-Klub Leuten zu begegnen, die offiziell schon längst tot sind. Der polnische Logiker und Philosoph Jan Lukasiewicz (1878 bis 1956) ist durch seine Grundlagenforschung zu den Kalkülen der Aussagenlogik berühmt geworden.

"Ich bin entsetzt, Sie kennenzulernen", sagte ich unfreundlich. "Ich heiße Zeno."

"Er meint, er freut sich, Sie kennenzulernen, und sein Name ist Epimenides", erklärte Sokrates. "Er lügt immer."

"Das stimmt nicht", erwiderte ich und holte meine Visitenkarte aus der Brieftasche. "Dies ist nicht meine Karte", sagte ich und übergab sie. Lukasiewicz las die eine Seite der Karte: "Der Satz auf der anderen Seite ist wahr." Er drehte die Karte um und las: "Der Satz auf der anderen Seite ist nicht wahr."

"Aber Sokrates hat schon recht. Ich erzähle eigentlich immer Lügen", brüstete ich mich.

Lukasiewicz schüttelte mir freundlich die Hand. "Es ist zu einem Drittel unwahr, daß ich erfreut bin, Sie kennenzulernen. Und beide Seiten Ihrer Karte sind zur Hälfte wahr."

"Wie bitte?"

"Herr Lukasiewicz interessiert sich für Fuzzy Logic - unscharfe Logik", erklärte Plato (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 90).

"Es gibt für mich nicht nur die Wahrheitswerte 1 für eine wahre Aussage und 0 für eine falsche", sagte Lukasiewicz, "sondern auch Halbwahrheiten mit einem Wahrheitswert von 0,5 oder Fast-Falschheiten mit einem Wahrheitswert von 0,1 – ganz generell, Aussagen mit Wahrheitswerten zwischen 0 und 1."

"Wozu soll das gut sein?" fragte ich verwirrt.

Lukasiewicz lächelte. "Angenommen, ich behauptete, der Klub-Präsident sähe aus wie Charlie Chaplin. Würden Sie das für wahr halten?"

"Natürlich nicht!"

"Noch nicht einmal seine Füße?"

"Na ja... ich würde sagen, sie sehen ziemlich..."

"Meine Behauptung ist also auch nicht vollständig falsch."

"Na gut, er sieht ein bißchen wie Charlie Chaplin aus."

Lukasiewicz lehnte sich zu mir herüber und starrte mich durchdringend an. "Wieviel meinen Sie mit ein bißchen?"

"Was?"

"Zehn Prozent, zwanzig Prozent?"

"Ich würde sagen, etwa 15 Prozent."

"Sehr schön. Also ist meine Behauptung ,Der Klub-Präsident sieht aus wie Charlie Chaplin' zu 15 Prozent wahr. Sie hat in der Fuzzy Logic einen Wahrheitswert von 0,15."

"Das ist nur ein Wortspiel. Das bedeutet doch gar nichts."

Lukasiewicz faßte meinen Arm. "Doch. Es kann dabei helfen, Paradoxa aufzulösen. Nehmen wir Sie selbst als Beispiel. Sie behaupten, stets zu lügen. Sehen wir uns Ihre Aussage an: ,Ich lüge'. Oder, noch einfacher: ,Diese Aussage ist falsch'. In der klassischen Logik ist das ein Paradoxon, nicht wahr? Anders gesagt, wir haben eine Aussage P mit einem Wahrheitswert p, der 0 oder 1 sein kann, und P behauptet: ,Der Wahrheitswert dieser Aussage ist 1-p'."

"Wie war das bitte?"

"Wenn P wahr ist, dann ist p=1. Die Negation von P, Nicht-P, ist falsch und deren Wahrheitswert gleich 0. Oder umgekehrt. Nun ist 1-0=1 und 1-1=0. Wenn also der Wahrheitswert von P gleich p ist, dann ist der Wahrheitswert von Nicht-P gleich 1-p."

"Ach so."

"Ja. Das Problem ist nun, daß ,diese Aussage' gerade P selber ist. Also behauptet P: ,Der Wahrheitswert von P ist 1-p'. So entsteht das Paradox. Wenn wir p=0 annehmen, dann behauptet P, daß p=1-0=1 sein soll. Und wenn wir von p=1 ausgehen, dann sagt uns P, daß p=1-1=0 gilt. Es gibt also keine widerspruchsfreie Zuordnung."

Ich lächelte gequält zustimmend. "Aber Sie haben doch nur in komplizierter Algebra formuliert, was ohnehin sonnenklar ist."

Er schmunzelte. "Vielleicht, aber in der Fuzzy Logic hat die Gleichung p=1-p eine konsistente Lösung, nämlich p=0,5. Folglich ist Ihre Behauptung ,Ich lüge stets' eine Halbwahrheit, und alles kommt richtig heraus. Ihre eigene Aussage läuft unausweichlich auf Fuzzy Logic hinaus." Es ärgerte mich, aber ich sah ein, was er meinte.

"Wie steht es mit dieser Visitenkarte?" fragte Plato. Lukasiewicz wollte gerade etwas sagen, aber ich fiel ihm ins Wort, um mich nicht weiter belehren lassen zu müssen. "Lassen Sie mich das beantworten. Mir scheint, wir haben zwei Aussagen P und Q mit Wahrheitswerten p beziehungsweise q. Die Aussage P behauptet, Q sei wahr, und Q behauptet, P sei falsch. Algebraisch ausgedrückt:

P behauptet p=q;

Q behauptet q=1-p.

Diese Gleichungen haben keine Lösung, wenn für p und q nur die Werte 0 und 1 erlaubt sind. Aber innerhalb der Fuzzy Logic gibt es eine eindeutig bestimmte Lösung, und zwar p=q=0,5. Jede Seite meiner Karte ist also halb wahr, und das Paradox hat sich aufgelöst."

"Genau", stimmte Lukasiewicz zu. "Aber das ist nur der Anfang einer völlig neuen Theorie, der dynamischen Logik, die Gary Mar und Patrick Grim vom Fachbereich Philosophie der Universität des Staates New York in Stony Brook erfunden haben. Sie stellt ein Bindeglied zwischen semantischen Paradoxa und der Chaos-Theorie dar."

Jetzt schaute Sokrates verwirrt drein.

"Nun, Sie wissen doch, was Chaos ist. Einfache deterministische Dynamik, die unregelmäßiges, zufällig aussehendes Verhalten hervorbringt – Schmetterlingseffekt, Systeme fern vom Gleichgewicht und solches Zeug."

"Natürlich weiß ich das", erwiderte Sokrates irritiert. "Aber wie kann Logik dynamisch sein?"


Dynamische Logik

Lukasiewicz gab sich überrascht. "Wie kann es anders sein, wenn man Aussagen betrachtet, die sich auf sich selbst beziehen? Die Aussage selbst zwingt Sie, Ihre Schätzung für deren Wahrheitswert zu revidieren. Dieser revidierte Wert muß wieder revidiert werden, und so weiter. Betrachten Sie das Lügner-Paradoxon, die Aussage P: ,Diese Aussage ist falsch'. Vorhin habe ich eine Gleichung für den Wahrheitswert aufgestellt: p=1-p. Aber ich hätte eigentlich den Prozeß beschreiben sollen, der einen zu wiederholter Revision des Wahrheitswerts zwingt: p<-1-p. Wenn Sie annehmen, daß P einen bestimmten Wahrheitswert p habe, dann sagt Ihnen P, daß Sie diesen Wahrheitswert durch 1-p ersetzen müssen. Wenn Sie beispielweise zunächst annehmen, P sei zu 30 Prozent wahr, also p=0,3, dann folgt aus der Revisionsvorschrift p=0,7, daraus wiederum p=0,3 und so weiter. Sie erhalten eine unendliche Folge von Wahrheitswerten, die periodisch zwischen 0,3 und 0,7 alternieren. Das klassische Paradoxon mit p=0 oder 1 führt auf die Folge 0, 1, 0, 1, ... Das spiegelt genau den logischen Prozeß wider, wenn Sie argumentieren: ,Wenn P falsch ist, dann ist P wahr, also ist P falsch, also ist P wahr, also ...'."

"Und p=0,5 ist der einzige Wert, für den es keine Oszillationen gibt", sagte Plato nachdenklich.

"Genau. Und das dualistische Paradox auf der Visitenkarte ist eigentlich ein dynamischer logischer Prozeß:

p <- q

q <- 1-p

Angenommen, Sie beginnen mit der Schätzung p=0,3 und q=0,8. Dann liefert die erste Revision p=0,8, q=0,7. Im nächsten Schritt erhalten Sie p=0,7, q=0,2, dann p=0,2, q=0,3. Der nächste Schritt liefert p=0,3 und q=0,8, und damit sind wir wieder bei den Ausgangswerten. Es ergibt sich ein Zyklus der Länge 4 – es sei denn, Sie beginnen mit p=0,5, q=0,5. Dann bleiben diese Werte unverändert."

"Na schön", sagte ich. "Aber was hat das mit Chaos zu tun?"

Lukasiewicz' Gesicht wurde sehr ernst. "Dazu müssen Sie wissen, wie man unscharfe Wahrheitswerte für Verknüpfungen von Aussagen berechnet. Der Wahrheitswert der Aussage Nicht-P ist gleich 1-p, wenn p der Wahrheitswert von P ist. Mit dem Wahrheitswert von P UND Q ist es nicht mehr ganz so einfach."

"Na ja", riet ich, "wenn P nicht ganz wahr ist und Q auch nicht, dann kann die Aussage, die beides zusammen behauptet, nicht gut wahrer sein als eine von beiden."

"Genau. Deswegen nimmt man als Wahrheitswerte von P UND Q das Minimum der Wahrheitswerte p und q der Einzelaussagen. Beim logischen ODER ist es genau umgekehrt. Die zusammengesetzte Aussage ist mindestens so wahr wie jede einzelne. Deswegen definiert man üblicherweise als den Wahrheitswert von P ODER Q das Maximum von p und q. Es gibt andere Möglichkeiten" (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1993, Seite 95).

Lukasiewicz fuhr fort: "Interessant wird die Frage, wie man den Wahrheitswert von Aussagen über Aussagen bestimmt."

Sokrates bat um ein Beispiel.

"Na gut. Wenn ich sage ,Plato ist ein guter Golfspieler', was denken Sie, wie wahr das ist?"

"Ach – vielleicht 40 Prozent", meinte Sokrates. Plato warf ihm einen giftigen Blick zu. "Nun, Epimenides schlägt Sie meistens, und der spielt höchst mittelmäßig." Ich blickte ihn noch böser an.

"Schön. Nennen wir diese Aussage A. Sie hat einen Wahrheitswert von a=0,4. Angenommen, ich mache nun folgende Aussage über A, nennen wir sie B: ,A ist zu 100 Prozent wahr'. Wie wahr ist dann die Aussage B?"

Ich dachte einen Moment nach. "Na ja, bestimmt nicht zu 100 Prozent, denn sonst wäre ja A zu 100 Prozent wahr, und wir haben schon gesehen, daß das nicht stimmt."

"Richtig. Der Wahrheitswert meiner Aussage B, die sich auf A bezieht, hängt von dem Wahrheitswert von A ab und von dem Wert, den B der Aussage A zuschreibt. Hier ist a=0,4, aber B schreibt A einen Wahrheitswert von 1 zu. Also wird B in dem Maße falsch sein, in dem diese beiden Werte sich unterscheiden. Je unzutreffender die Aussage ist, die B macht, desto falscher wird B. Der Unterscheid beträgt nun 0,6. Also ist B zu 60 Prozent falsch, und der Wahrheitswert von B ist gleich 0,4."

"Ach, das ist interessant. Am Ende ergibt sich also, daß B genauso wahr ist wie A. Das ist plausibel. Aber was hätte sich ergeben, wenn Sie in B behauptet hätten, A sei halb wahr?"

Lukasiewicz nickte dankbar. "Sie werden gleich sehen, wie schön alles herauskommt. B behauptet dann, der Wahrheitswert von A sei 0,5, aber der wirkliche Wert beträgt 0,4. Die Differenz ist 0,1. So falsch ist also B, und folglich ist der Wahrheitswert von B gleich 0,9. Weil die Behauptung von B nur zu 10 Prozent falsch ist, ist B zu 90 Prozent richtig."

"Aha, und wenn ich sagen würde, ,A ist zu 40 Prozent wahr', dann hätte ich damit zu 100 Prozent recht. Der Wahrheitswert wäre gleich 1. Jetzt habe ich alles verstanden."

Sokrates mischte sich ein. "Und wenn ich der Aussage A noch viel stärker mißtraue? Sagen wir, ich wäre nur bereit, ihr 20 Prozent Wahrheitsgehalt zuzugestehen?"

"Dann hätten Sie mit Ihrer Schätzung um 0,2 daneben gelegen – aber eben in der anderen Richtung. Auf das Vorzeichen kommt es hier nicht an."

"Ach so."

Lukasiewicz fühlte sich zu einer Zusammenfassung veranlaßt. "Im allgemeinen habe ich eine Aussage P mit Wahrheitswert p und eine Aussage Q, die behauptet, der Wahrheitswert von P sei gleich p'. Dann zeigt die Argumentation von eben, daß für den Wahrheitswert q von Q die Formel q=1-|p-p| gilt. Dabei bedeutet |x| den absoluten Betrag von x, also x, wenn x positiv ist, und -x, wenn x negativ ist. Nennen wir diese Formel die Einschätzungsformel."


Chaotische Lügner

Lukasiewicz fuhr fort. "Jetzt kann ich Ihnen den chaotischen Lügner vorführen. Das ist die Aussage C: Diese Aussage ist so wahr, wie sie als falsch eingeschätzt wird. Wenn der Wahrheitswert dieser Aussage c ist, dann behauptet sie, ihr Wahrheitswert sei 1-c. Nach der Einschätzungsformel ist ihr Wahrheitswert demnach 1-|c-(1-c)|=1-|1-2c|. Der zugehörige dynamische Prozeß ist dementsprechend c <- 1-|1-2c|. Wählen Sie nun irgendeinen Startwert für c, sagen wir c=0,12345, und berechnen Sie die folgenden Werte. Sie werden finden, daß diese sich chaotisch verhalten. Aber ich sollte Sie noch warnen, denn aufgrund von Rundungsfehlern in Ihrem Taschenrechner kann es so aussehen, als käme der Prozeß bei 0 oder 1 zur Ruhe. Es hilft vielleicht, statt dessen den folgenden Prozeß zu nehmen: c <- 1-0,999999 – 2c Sie können sogar den berühmten Schmetterlingseffekt der Chaostheorie beobachten: Wenn ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, kann einen Monat später deswegen ein Wirbelsturm ausbrechen. Etwas weniger dramatisch gesagt: Kleine Änderungen in den Anfangswerten können die Dynamik völlig verändern. Wenn Sie zum Beispiel mit 0,12346 beginnen, ergibt sich ein ganz anderes Verhalten." Lukasiewicz machte eine Pause. "Jetzt zu dem chaotischen Dualisten. Der besteht aus den zwei Aussagen X: X ist so wahr, wie Y wahr ist. Y: Y ist so wahr, wie X falsch ist. Das ist ähnlich wie auf Ihrer Visitenkarte. Die dynamischen Gleichungen sind: x <- 1-|x-y| y <- 1-|y-(1-x)| Um zu sehen, wie das funktioniert, müssen Sie ein Wertepaar als Startwerte wählen, sagen wir (x,y)=(0,2, 0,9), und aufeinanderfolgende Wertepaare berechnen. Stellen Sie sich x und y als Koordinaten in der Ebene vor und zeichnen Sie die entsprechenden Punkte. Sie erhalten ein geometrisches Gebilde, den Attraktor des dynamischen Systems – in diesem Falle ein Dreieck, das dicht mit Punkten ausgefüllt ist" (Bild links). "Diese Darstellung läßt sich in ein herrliches, verwickeltes Muster verwandeln, das sogenannte Ausbruchszeit-Diagramm (escape time diagram). Für dieses Bild vergessen wir die Bedingung, daß x und y zwischen 0 und 1 liegen müssen. Man beobachtet, wie weit sich (x,y) vom Ursprung wegbewegt; genauer: Man zählt, wie viele Iterationsschritte erforderlich sind, ehe (x,y) einen bestimmten Schwellenwert für die Entfernung vom Ursprung überschreitet. Diese Anzahl bestimmt die Farbe des Punktes (x,y). Für den Anfang sollten Sie einen Schwellenwert wählen, der nur geringfügig größer als 1 ist" (Bild rechts). Sokrates gewann allmählich den Durchblick. "Sie nehmen die Gedankenfolge, die der Zuordnung von Wahrheitswerten zu einer Anzahl selbstbezüglicher Aussagen entspricht, und machen daraus einen dynamischen Prozeß. Dann können Sie alle Techniken der Chaostheorie auf diesen Prozeß anwenden" (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1991, Seite 12). "Genauso ist es. Hier ist noch ein letztes Beispiel, über das Sie nachdenken können. Der chaotische Lügner läßt sich auch so formulieren: Die geschätzte Falschheit dieser Aussage unterscheidet sich nicht von ihrer geschätzten Wahrheit. Innerhalb der Fuzzy Logic ist es üblich, das Adverb ,sehr' so zu interpretieren, daß das Quadrat eines Wahrheitswertes zu nehmen ist. Damit können Sie über folgende Gummiaussage nachdenken: Die geschätzte Falschheit dieser Aussage unterscheidet sich nicht sehr von ihrer geschätzten Wahrheit. Dazu gehört die Dynamik Die Chaostheoretiker nennen dies das logistische dynamische System. Also nenne ich meine Aussage den logistischen Lügner. Auch er ist chaotisch – probieren Sie es." Gegen Mitternacht schloß der Paradox-Klub. Lukasiewicz und ich gingen zusammen hinaus auf die Straße. Jetzt fiel mir ein, daß ich vor lauter Fuzzy Logic vergessen hatte, eine entscheidende Frage zu stellen. "Das ist ja alles ganz nett, aber wie wichtig ist es?" "Nun", erwiderte er, "Mar und Grim weisen darauf hin, daß man so einen geometrischen Zugang zu semantischer Komplexität bekomme und damit zwischen verschiedenen Systemen selbstbezüglicher Aussagen differenzieren könne. Außerdem könne man mit dieser Methode zeigen, daß es kein Entscheidungsverfahren für die Frage gibt, ob ein gegebenes System sich chaotisch verhält. Das ist ein Ergebnis von der Art des berühmten Satzes von Kurt Gödel über die Unentscheidbarkeit der Arithmetik. Es ist vielleicht alles ziemlich tiefliegend, Epimenides." "Aha. Verbindungen zwischen Logik und Chaos – erstaunlich! Aber... woher soll ich wissen, ob alles, was Sie mir gesagt haben, auch wahr ist?" "Wenn ich Sie jemals angelogen habe, dann sollen mich auf der Stelle zwei Blitze treffen!" Auf der Stelle verfinsterte sich der Sternenhimmel. Ein einziger Blitz schlug neben mir ein und verwandelte Lukasiewicz in ein Häuflein Asche. Mir blieb nichts übrig, als die Fäuste gen Himmel zu ballen und die Götter ob ihres zweideutigen Verhaltens zu beschimpfen : "Was nun? Hat er die volle Wahrheit gesagt oder nur die halbe?"

Literaturhinweise

- Spielt Gott Roulette? Von Ian Stewart. Birkhäuser, Basel 1990.

– Pattern and Chaos: New Images in the Semantics of Paradox. Von Gary Mar und Patrick Grim in: Noûs, Band 25, Heft 5, Seiten 659 bis 693, Dezember 1991.

– Self-Reference and Chaos in Fuzzy Logic. Von Patrick Grim. Research Report 92-01, Group for Logic and Formal Semantics, Department of Philosophy, State University of New York at Stony Brook, 1992.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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