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Expeditionen ins Innere des Kopfes. Von Nervenzellen, Geist und Seele


Erkenntnisfähigkeit und mit ihr gepaarte Erkenntnislust haben den Menschen weit über das Tier erhoben. Sie bereicherten sein Können derart, daß er die ganze Erde veränderte und bis zu einem gewissen Grade auch sich selbst.

Sich nach diesem „Selbst“ zu fragen, das ihn nun zunehmend in Gefahr bringt, gehört zu den wichtigsten und zugleich reizvollsten Unternehmungen, zu denen der Mensch fähig ist. Viele Fragen können heute weitaus präziser gestellt und vor allem auch präziser beantwortet werden, als die Denker vergangener Epochen für möglich halten mochten. Die Konkretheit verdanken wir wesentlich der Erkundung unseres Zentralorgans, des Gehirns, an der Zehntausende von Wissenschaftlern in aller Welt teilhaben.

Olaf Breidbach lädt zu „Expeditionen ins Innere des Kopfes“ ein, um den Leser auf behutsame Weise in die Hirnforschung unserer Tage, die Neurowissenschaften, einzuführen. Die systemische Betrachtungsebene liegt ihm nahe, nicht die der Moleküle, der Transmitter- und Rezeptorchemie, der Neurogenetik, der elementaren Hirnstrukturen oder der membranelektrischen Prozesse. Hören, Sehen, Riechen werden als Leistungen eines Systemganzen dargestellt. Und wie nebenbei erfährt der Leser etwas über die Nervenzelle, über kortikale Karten, über Tiere oder über Computer, bei denen das Verrechnen von Informationen ganz anders und doch auch wieder ganz ähnlich wie bei uns abläuft. Werden Entscheidungen im Gehirn demokratisch, durch „neuronales Plebiszit“, getroffen? Wie zentral ist ein Zentrum? „Hirnhälften und Erlebniseinheit“, „neuronale Vernetzung oder logisches Kalkül?“, „Gedächtnis“ und „Neurophilosophie“ sind die Themen, die den Autor bewegen und an die er in populärwissenschaftlicher Weise auch seine Leser heranführt.

Breidbach stellt Fragen und erörtert Hypothesen, bietet zur Konkretisierung hirnphysiologische Sachverhalte an und provoziert immer wieder neue Fragen. In kritischer Würdigung des heutigen Kenntnisstandes läßt er diese recht oft durch ein ignoramus auflaufen, spätestens dann, wenn auf Fragen wie „Was ist Bewußtsein, Denken, Gefühl, was ist Seele?“ eine bindende Antwort auf neurowissenschaftlicher Basis erwartet wird. Hirnphysiologische Deutungen des Leib-Seele-Problems lehnt er grundsätzlich ab. Die Sichtweise der sich gerade etablierenden Neurophilosophie ist ihm fern, zu mechanistisch, zu reduktionistisch. Wie weit man allerdings seinen Argumentationslinien folgen kann, wird der Leser je nach Kenntnistiefe und intellektuellem Geschmack auf seine Weise entscheiden.

Breidbach – an der Universität Bonn als experimentierender Zoologe und Neurobiologe tätig, durchaus Insider also – mahnt am Ende seines Buches sehr wortreich, nahezu kokettierend, zur Bescheidenheit und resümiert im Sinne des psychophysischen Parallelismus, „daß die Neurowissenschaft nicht den Grund für eine sich auf ihr aufbauende neue Wissenschaft vom Geist bilden kann“. Die Neurowissenschaften sieht er als Einzelwissenschaft, „seelenblind“, wie alle anderen eingefangen in ihrer eigenen Methodologie. „Expeditionen ins Innere des Kopfes“, so wäre zu folgern, führen also nicht zu dem, was man dort gewöhnlich und doch auch mit Recht vermutet – ein Widerspruch nicht nur in sich, sondern auch im Buch, der Diskussion allemal förderlich.

So muß der Autor sich fragen lassen: Wo sonst soll man denn das „Selbst“, die Seele, suchen, wenn nicht im Kopf, im Gehirn, wo diese Instanzen ihr Zuhause haben? Das Gehirn ist schließlich nicht einfach ein Projektionsort des Geistes, es ist sein Generator. Weltweite enorme Anstrengungen in den Neurowissenschaften machen das Bild, das wir von der Maschinerie haben, immer genauer. Breidbach selbst führt das an Beispielen überzeugend vor.

Bekanntlich hat das bloße Nachdenken über Geist und Seele in all den Jahrtausenden kaum greifbare Erkenntnisfortschritte erbracht. Auch die Psychologie bleibt mit ihrem phänomenologischen Ansatz zwangsläufig an der Oberfläche stecken, selbst wenn sie sich noch so „tiefenpsychologisch“ gibt. Die Neurowissenschaften indes bieten eine einzigartige Chance, auf der Suche nach der Seele wirklich fündig zu werden – und wenn nicht sie, wer oder was dann überhaupt? Gewiß doch ist es bei der Evolution psychischer Qualitäten „mit rechten Dingen“ zugegangen: Natur oder Gott – tertium non datur! Und wenn Natur, warum dann nicht auf natur(neuro)wissenschaftliche Weise erklärbar?

Unbenommen bleibt selbstverständlich auch dann noch, für die Erkennbarkeit des Psychischen prinzipielle Grenzen zu vermuten. Wahrscheinlich wird man es mit den Unvollständigkeitssätzen des Logikers und Mathematikes Kurt Gödel (1906 bis 1978) halten müssen, wonach die vollständige Selbsterklärung eines Systems, insbesondere die unseres eigenen Gehirns, erkenntnislogisch als unmöglich erscheint. Inwieweit die intersubjektive Erkenntnis, die der scientific community, diese Grenzen vor sich herzuschieben vermag, eventuell sogar beliebig weit, ist eine zumindest theoretisch wichtige Frage.

Der Exkurs ins Grenzland, hin zu den Nebelwäldern unseres geistigen Seins, muß grundlagenorientiert sein, muß – anders als Breidbach es wahrhaben will – von den Neurowissenschaften geführt werden, soll sich der Pfad nicht wie bisher im Hypothesen- und Wortgestrüpp verlieren. Wegen seines sachlichen Gehalts ist das vorliegende Buch als eine erste Orientierungshilfe zu empfehlen, besonders jenen, die sich als Geisteswissenschaftler um eine neurowissenschaftliche Komplettierung ihres Bildes vom Menschen bemühen. Die immer noch verbreitete Askese der Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber, zumal den Neurowissenschaften, wird sicherlich ohnehin bald zur Wissenschaftsgeschichte gehören. Zusammengang ist vonnöten – also doch Neurophilosophie.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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