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Farben hören, Töne schmecken. Die Bizarre Welt der Sinne.

Aus dem Amerikanischen
von Hartmut Schickert.
dtv, München 1996.
(Originalausgabe: Byblos, Berlin 1995.)
304 Seiten, DM 24,90.

Im Zentrum des Buches steht die Synästhesie, ein merkwürdiges Wahrnehmungsphänomen, von dem ungefähr jeder Hunderttausendste betroffen ist. Synästhesisten (oder Synästhetiker) haben beim Sehen, Hören, Riechen oder Schmecken parallele Wahrnehmungserlebnisse einer anderen Modalität, die inhaltlich mit der primären Wahrnehmung nicht zu tun haben, aber mehr oder weniger systematisch mit ihr auftreten.

Richard E. Cytowic, Professor für Neurologie in der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington, beschreibt ausführlich – unter Pseudonym – zwei Fälle: "Michael" nimmt bei einem bestimmten Geschmackserlebnis mit den Händen oder gar mit dem ganzen Kör-per bestimmte Formen wie spitz oder kugelig wahr, und "Victoria" hat beim Hören oder Riechen intensive Farbempfindungen.

Bedeutsamerweise ist die zusätzliche Sinnesempfindung stets einfacher Natur; es handelt sich etwa um Kleckse, Spiralen, Gittermuster, glatte oder rauhe Oberflächen sowie einfache angenehme oder unangenehme Geschmacksempfindungen. Ähnlich einfach strukturierte Wahrnehmungen treten auch bei der Einnahme bestimmter Drogen wie LSD, bei Migräne, elektrischer Hirnstimulation, Schläfenlappen-Epilepsie, sensorischer Deprivation, Psychosen und Fieberdelirien auf.

Synästhesien werden gefühlsmäßig stark erlebt und prägen sich hartnäckig dem Gedächtnis ein. Der russische Neurologe Alexander Lurija (1902 bis 1977) beschrieb dies ausführlich aufgrund der Studien an seinem berühmten Patienten S. (Schereschowskij), der bei seinen schier unglaublichen Gedächtnisleistungen Synästhesien als wesentliche Merkhilfen benutzte. Auch Cytowic beschreibt eine enge Koppelung zwischen übernormalen Gedächtnisleistungen und Synästhesien.

Im ersten Teil des Buches schildert er in lebendiger, zum Teil dialoghafter Weise, wie er als junger Neurologe und Neuropsychologe zu seinen speziellen Patienten kam und welche Experimente er in den folgenden Jahren mit ihnen (hauptsächlich mit "Michael") anstellte. In die Darstellung mischt er Betrachtungen über die Schwierigkeiten seiner Arbeit und den Kampf gegen überholte Anschauungen von der Arbeitsweise des Gehirns. Vehement – und mit Recht – kritisiert er die Auffassung, das rationale, vernunftmäßige Denken sei dessen vornehmste und wichtigste Aufgabe und die Großhirnrinde (Cortex) als Sitz dieser Fähigkeit das oberste Zentrum. Damit wendet er sich gegen wohletablierte Vorstellungen, unter anderem konkretisiert im Modell des "dreieinigen Gehirns" des amerikanischen Neurologen Paul MacLean, das sich noch heute in fast jedem Lehrbuch findet.

Es folgen Betrachtungen über das vergebliche Streben nach objektiver Wahrheit in der Wissenschaft, über die große Konstruktionsleistung des Gehirns (im Gegensatz zum Bild von der passiven Informationsverarbeitung) sowie Invektiven gegen den klassischen Forschungsansatz zur künstlichen Intelligenz, der die cortical-rationale Logik als Standard der Informationsverarbeitung nimmt und damit bei komplexen Problemen scheitern muß. Vielen dieser Zusätze wird man gern zustimmen; aufregend neu sind sie nicht, und manches davon ist wohlfeil. Gegen Ende des Buches werden derartige Abschnitte immer kürzer und die erörterten Gegenstände immer umfassender, bis hin zur Kunst, zu spiritueller Kreativität und zu Gott. Das dürfte nicht jedermann ansprechen.

Die Vorstellungen des Autors über die Funktionsweise des Gehirns kulminieren in der These, das limbische System dominiere über das rational-corticale. Dieser Teil des Buches ist der wichtigste und originellste. Das limbische System ist strukturell und funktional sehr heterogen und durchzieht das ganze Gehirn vom Cortex bis zum verlängerten Mark (Spektrum der Wissenschaft, September 1996, Seite 52). Es steuert Lernen und Gedächtnis, Gefühle, Affekte und Triebe und ist generell das Bewertungszentrum; somit schafft es die Bedeutungen, die unser Verhalten lenken. Für Cytowic bilden Verstand und Gefühl eine untrennbare Einheit – ja, es sind die Emotionen, die unseren Verstand und unser Handeln bestimmen.

Der normale Mensch lebt der eigenen Einschätzung nach allerdings fast ausschließlich in seiner bewußt-rationalen Welt, in der er sich – fälschlicherweise – als Herr seiner Handlungen ansieht; von der reichen Vielfalt der ihn tatsächlich treibenden Vorgänge merkt er kaum etwas. Nach Cytowic ist dies bei Synästhesisten anders: Sie fühlen mehr als die Normalen das Zusammentreffen von Verstand und Gefühlen, sie nehmen – anders als die anderen – limbische Prozesse bewußt wahr. Der Autor vermutet, daß dabei der Hippocampus, eine wichtige limbische Struktur, besonders beteiligt ist. Bei Synästhesien ist – so der Autor – der Cortex unterdurchschnittlich, das limbische System überdurchschnittlich aktiv.

Für diese etwas ungewöhnliche Hypothese führt Cytowic eigene Untersuchungen mit "Michael" an – unter anderem Messung des zerebralen Blutflusses sowie einfache pharmakologische Experimente. Nach einem strengen fachwissenschaftlichen Maßstab haben sie freilich nur begrenzte Gültigkeit und können die gegenwärtigen Ansichten über das Zustandekommen von Bewußtseinszuständen im Gehirn nicht erschüttern. Überhaupt ist die Grundidee, bei der Synästhesie handle es sich um eine limbische (Über-)Funktion, kaum mit dem, was man über den (sehr genau untersuchten) Hippocampus weiß, in Übereinstimmung zu bringen. Viel wahrscheinlicher ist, daß bei der Synästhesie Vorgänge aus (meist bewußtlosen) primären und sekundären sensorischen corticalen Verarbeitungsarealen in die bewußtseinsfähigen assoziativen Areale durchschlagen – vergleichbar einem elektrischen Kurzschluß. Eine elektrische Stimulation ersterer Areale bringt nämlich Erlebniszustände hervor, die den Synästhesien stark ähneln.

Abenteuerlich wird es, wenn der Autor ein Szenario der Hirnevolution entwirft, um seine Hypothese zu untermauern. So erfährt der überraschte Leser, daß sich das Wirbeltiergehirn erst bei den Reptilien ausgebildet habe (demnach hätten Fische und Amphibien, die zusammen mehr als 50 Prozent der Wirbeltierarten stellen, kein Wirbeltiergehirn!), daß erst frühe Säuger ein limbisches System hätten (was füllt bei den Nicht-Säugern, immerhin rund 90 Prozent aller Wirbeltiere, den Innenteil des Gehirns aus?), daß der Mensch das einzige Tier sei, bei dem sich limbisches System und Großhirnrinde gleichermaßen in einzigartiger Weise entwickelt haben, daß das emotionale Erleben beim Menschen mächtiger sei als bei anderen Säugetieren, und vieles andere mehr. Dies ist größtenteils schlicht falsch und im Falle der letzteren Aussage pure Spekulation.

Es ist bedauerlich, daß sich der Autor, anstatt bei der lebendigen Darstellung seiner neuropsychologischen Untersuchungen und deren ganzem Umfeld zu bleiben, in pseudowissenschaftliche Aussagen zur Evolution verstrickt, die nicht besser sind als diejenigen des von ihm kritisierten MacLean. Mangel an Souveränität zeigt sich auch, wenn Cytowic den Entdecker des sogenannten Bereitschaftspotentials "Kornhüber" nennt (es handelt sich um den Ulmer Neurologen und Hirnforscher Hans Helmut Kornhuber), den Mitentdecker Lüder Deecke unterschlägt und deren Entdeckung mit Befunden des amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet durcheinanderbringt.

Doch genug der kleinlichen Mäkelei! Wer die unterhaltsame Darstellung eines merkwürdigen Wahrnehmungsphänomens, neuropsychologischer Praxis, vieler Probleme und Auseinandersetzungen der Hirnforschung sowie ein Potpourri kluger Betrachtungen mit und ohne Bezug zum Thema haben möchte, der findet sie hier. Wer jedoch ernstzunehmendes Wissen über kognitiv-limbische Strukturen und Prozesse sucht, der sollte nach anderen Büchern greifen, von denen es inzwischen eine ganze Reihe gibt (wenn auch meist nicht so flott geschrieben und übersetzt).



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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