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Generationenkonten: neuer Blick auf das Rentenproblem

Wenn man die Geldflüsse von einem Durchschnittsbürger an den Staat und zurück über die gesamte Lebenszeit bilanziert, erscheint jede Rentenerhöhung als verdeckte Staatsneuverschuldung. Daraus ergibt sich eine frische,erhellende Sicht des Rentenproblems.

Die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Renten wird häufig als Verteilungskampf der Alten gegen die Jungen interpretiert. Die zahlreichen Rentner bürdeten den jetzt Erwerbstätigen immer neue Lasten auf, um sich selbst einen komfortablen Lebensabend zu machen, lautet das eine Argument; dagegen steht die Auffassung, die heutigen Ruheständler holten sich nur – mit Zinsen – das zurück, was sie selbst während ihrer aktiven Jahre in die Rentenkassen eingezahlt hätten. Über die gesamte Lebenszeit gerechnet: Lebt eine Generation auf Kosten der anderen?
Die Frage ist äußerst schwierig zu beantworten, weil viele Maßstäbe sich im Laufe einer Generation radikal wandeln; aber man kann es immerhin versuchen. Man addiere alles, was ein Durchschnittsangehöriger eines Jahrgangs im Laufe seines Lebens an den Staat zahlt, und rechne dagegen auf, was er von ihm zurückerhält. "Staat" ist dabei in einem sehr weiten Sinne zu verstehen: Zahlungen an ihn umfassen sämtliche direkten und indirekten Steuern sowie die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung; auf der anderen Seite der Bilanz stehen Renten, Pensionen, Arbeitslosengeld und -hilfe, Kindergeld, Sozialhilfe, Wohngeld sowie die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (Bild 1). Wie üblich, diskontiert man alle Zahlungen auf ein einheitliches Bezugsjahr: 100 DM heute sind so viel wert wie 104 DM nächstes Jahr.
In dieser Lebenszeitbilanz übersteigen die Ausgaben regelmäßig die Einnahmen: Einen gewissen Prozentsatz seines Lebenseinkommens sieht der Durchschnittsmensch nie wieder, weil der Staat dieses Geld für Gemeinschaftsaufgaben wie Verteidigung und allgemeine Verwaltung ausgibt. Das ist der Lebenszeitsteuersatz. Eine Verteilung der öffentlichen Gelder auf die Generationen wird als gerecht angesehen, wenn der Lebenszeitsteuersatz für jeden Jahrgang der gleiche ist.
Das ist das Prinzip des generational accounting, das Anfang der neunziger Jahre Alan J. Auerbach, damals an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, und andere in die Diskussion gebracht haben. Die volkswirtschaftliche Forschungsgruppe der Deutschen Bundesbank hat solche Generationenkonten für deutsche Verhältnisse in Gegenwart und Zukunft berechnet ("Die fiskalische Belastung zukünftiger Generationen – eine Analyse mit Hilfe des Generational Accounting", Monatsbericht November 1997, im Internet zu finden unter http://www.bundesbank.de/de/monatsbericht/bericht11/97/zukgener.htm; "Intergenerative Verteilungseffekte öffentlicher Haushalte" von Stephan Boll, Diskussionspapier 6/96 der volkswirtschaftlichen Forschungsgruppe, August 1996).
Der Reiz dieses Konzeptes liegt – unter anderem – in seiner Konzentration auf das Wesentliche. Insbesondere weist es der Verschiebung großer Geldmengen zwischen verschiedenen öffentlichen Kassen, welche die gegenwärtige Diskussion beherrscht, den – angemessenen – Rang einer Nebensache zu, indem es diese Kassen sämtlich zu einer zusammenfaßt.
Andererseits geht es den Autoren vorrangig um die Generationenkonten von Jahrgängen, die noch nicht oder gerade eben erst geboren sind. Unvermeidlich gehen in ihre Überlegungen Prognosen ein, die zwar plausibel, aber höchst unsicher sind. So rechnen sie mit einem Produktivitätszuwachs von zwei und einer Diskontierungsrate von vier Prozent per annum; beide Werte entsprechen dem Durchschnitt der letzten 20 Jahre. (Alle Berechnungen werden zu Realwerten, also inflationsbereinigt, durchgeführt.) Die Bevölkerungsentwicklung extrapolieren sie bis 2040 nach den Prognosen des Statistischen Bundesamtes; für die Zeit danach unterstellen sie, daß die Bevölkerung Deutschlands weiter absinken und sich im Jahre 2100 bei 57 Millionen stabilisieren werde.
Bei derart unsicheren Voraussetzungen darf man von dem Konzept keine quantitativen Vorhersagen erwarten. Sein Wert liegt vorrangig in der neuen Perspektive. Vor allem lenkt es den Blick auf Staatsschulden, die üblicherweise nicht bilanziert werden.
Ein bis zur Karikatur idealisiertes Beispiel (aus der zitierten Arbeit von Stephan Boll) ist hilfreich: Alle Menschen leben nur drei Jahre; im ersten sind sie jung und kassieren 10 Geldeinheiten Kindergeld, im zweiten sind sie mittelalt und zahlen 40 Einheiten Steuern, im dritten sind sie alt und bekommen 30 Einheiten Rente. Die drei Lebensalter sind gleich zahlreich vertreten, und niemand stirbt vor der Zeit. Offensichtlich ist der Staatshaushalt jedes Jahr ausgeglichen und die Lebenszeitbilanz jedes Menschen auch.
Nun wird plötzlich eine Rentenerhöhung beschlossen: Alle Alten erhalten ab sofort 40 Einheiten Rente, und alle Mittelalten müssen 50 Einheiten Steuern zahlen. Wieder sind auf die Dauer Staatshaushalt und Lebenszeitbilanzen ausgeglichen; doch eine Generation kann sich über 10 Einheiten freuen, die sie ohne Gegenleistung geschenkt bekommt: die derjenigen, die im Jahr der Rentenerhöhung alt sind.
Wie kommt es zu dieser wundersamen Wohlstandsvermehrung? Niemand muß sie bezahlen; diejenigen, die den Zusatzaufwand tragen, bekommen ihn als Alte ja wieder zurück. Vielmehr hat die Rentenerhöhung denselben Effekt wie eine Kreditaufnahme durch den Staat: Den Mittelalten werden die 10 Einheiten nicht endgültig weggenommen, aber die Verfügungsmöglichkeit darüber wird ihnen ein Drittel ihres Lebens entzogen.
Jeder Staat schleppt also – in Gestalt der Versorgungsansprüche seiner Bewohner – eine Verschuldung mit, über die nirgendwo Buch geführt wird, die aber gleichwohl Wirkungen hat, indem sie die Dispositionsfreiheit der Menschen mindert. Offensichtlich muß ein Staat eine sogenannte intertemporale Budgetrestriktion einhalten: Er darf nicht bis ins Grenzenlose Lasten von der Gegenwart in die Zukunft verschieben, sondern durch diese Art verdeckter Kreditaufnahme allenfalls ein vorübergehendes demographisches Ungleichgewicht abmildern.
Bei der gegenwärtig in Deutschland praktizierten Finanzpolitik findet jedes Jahr das Äquivalent einer solchen Rentenerhöhung mit zugehöriger verdeckter Neuverschuldung statt. Nur haben die Alten keinen Anlaß, sich darüber zu freuen, denn es steigt nicht die individuelle Rente, sondern wegen des wachsenden Altenanteils nur die Rentensumme, stärker noch die Beitragslast pro Kopf.
Ein weiser Staatenlenker müßte wegen der intertemporalen Budgetrestriktion darauf bestehen, daß jede dieser Erhöhungen nicht der Staatsschuld zugeschlagen, sondern sofort bezahlt wird. Das Ergebnis einer entsprechenden Modellrechnung ist einigermaßen erschreckend: Ein 1996 oder später geborener Mann hätte eine Lebenszeitsteuerlast von 66,3, eine Frau aus demselben Jahrgang immerhin noch eine von 38,3 Prozent zu tragen. Dagegen läge unter der – sehr theoretischen – Annahme, daß die gegenwärtigen Steuer- und Abgabensätze bestehen bleiben und damit das Rentengleichgewicht weit verfehlt wird, der Lebenszeitsteuersatz für den Mann bei 28,2 und für die Frau bei 16,2 Prozent. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern rühren daher, daß das Lebenseinkommen einer Frau wegen kürzerer Erwerbstätigkeit und schlechterer Bezahlung geringer ist und sie deswegen stärker von den Umverteilungseffekten der Progression profitiert.
Eine solche Belastungsquote läge weit jenseits alles politisch Durchsetzbaren. Schon bei einer milderen Abgabenerhöhung wären fatale Rückwirkungen auf das Wirtschaftsgeschehen zu befürchten; diese sind in den Modellrechnungen bislang nicht berücksichtigt. Doch wie soll dieses noch unscharfe, aber bedrohliche Schreckgespenst gebannt werden?
Ein probates Rezept ist das aus der Wirtschaftswunderzeit: Man bezahle alle zusätzlichen Lasten aus dem Wohlstandszuwachs. Dadurch wird niemandem etwas weggenommen; es werden nur alle etwas langsamer reich. Da das Modell einen Wohlstandszuwachs von 2 Prozent pro Jahr unterstellt, wäre auch Verteilungsmasse vorhanden. Man müßte den Lebenszeitsteuersatz eben nicht plötzlich, sondern allmählich anheben, was die Konsolidierung der Staatsfinanzen entsprechend verzögern würde (Bild 2). Die Ungleichbehandlung der Generationen wäre sogar mit dem Konzept einer intertemporalen Steuerprogression zu rechtfertigen: Wenn es unseren Kindern besser geht, können sie auch höhere Lasten tragen.
Die Antwort der Bundesbank ist zwiespältig und beleuchtet die unvermeidlichen Unsicherheiten solcher Prognosen. Nach der Veröffentlichung von 1996 würde es noch genügen, wenn der Staat jedes Jahr von den 2 Prozent Wohlstandszuwachs ein Viertel wegnimmt; nach dem Monatsbericht vom November 1997 müßte er den Zuwachs fast völlig aufzehren, um sich zu konsolidieren. Die Diskrepanzen werden mit unterschiedlichen Berechnungsweisen begründet; es kommt wohl vor allem darauf an, welche Annahmen man für die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland macht. Nur wenig rosiger wird das Bild, wenn man die abzusehende Anhebung des Rentenbeitragssatzes berücksichtigt.
Die Autoren werden nicht müde zu betonen, daß ihre Rechnungen eben wegen der Unschärfen nicht in konkrete Handlungsempfehlungen umsetzbar seien. Die Konsolidierung einer dermaßen großen Finanzierungslücke könne sich ohnehin "nicht auf einzelne Maßnahmen beschränken, sondern müßte breit gestreut werden". Je eher man damit anfange, desto erträglicher sei sie für alle Beteiligten. Am Ende kommt dann doch eine konkrete Empfehlung, die allerdings, verglichen mit den theoretischen Höhenflügen der vorangegangenen Seiten, recht hausbacken und schlecht begründet anmutet: Da Abgabensteigerungen wegen des bereits jetzt überhöhten Niveaus und ihrer wachstumshemmenden Wirkung ausscheiden sollten, sei eine nachhaltige Rückführung der Staatsquote geboten


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 13
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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