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Geotektonik, Klima und der Ursprung des Menschen

Veränderungen der Umwelt in Ostafrika gaben wahrscheinlich entscheidende Anstöße für die Entwicklung, aus der unsere Art hervorging. Die Vorfahren der modernen Menschenaffen und die der Hominiden mußten sich verschiedenen Milieus anpassen, und bei zunehmender Trockenheit waren wendige Zweibeiner mit leistungsfähigem Gehirn begünstigt.

Setzt man die vielleicht dreieinhalb Milliarden Jahre, die es Leben auf der Erde gibt, gleich einer Stunde, dann ist der anatomisch moderne Mensch gerade eine zehntel Sekunde alt. Dennoch interessiert uns am riesenhaften Stammbaum der Organismen mehr als alle mächtigen Äste und das fast undurchdringliche Gewirr der Zweige jener zarte Sproß irgendwo in der Krone, aus dem unsere Art als gleichsam letzte Knospe hervorgegangen ist.

Lange war weder klar, wann sich innerhalb der Ordnung der Primaten die Familie der Hominiden von den nächsten tierischen Verwandten – den Ahnen der Schimpansen (der heutigen Gattung Pan) – trennte, noch wo dies geschah und erst recht nicht, was der Anlaß dazu war. Die Klärung dieser Fragen wirft allerdings sofort die nächsten auf, nämlich wann, wo und wieso auf der einen Entwicklungslinie offensichtlich mehrere Millionen Jahre später Lebewesen erschienen, die sich von allen bisherigen in ihrem Vermögen, die Umwelt zu beherrschen, so sehr unterschieden: unsere Gattung Homo.

Daß sich all dies wahrscheinlich mit wissenschaftlichen Möglichkeiten beantworten ließe, kam mir erstmals Anfang der achtziger Jahre in den Sinn. Damals veranstaltete die UNESCO in Paris einen internationalen Kongreß zum hundertsten Geburtstag von Pierre Teilhard de Chardin (1881 bis 1955). Mich hatte man gebeten, über das wissenschaftliche Werk des französischen Jesuitenpaters zu sprechen. Er hat, was viele nicht wissen, außer philosophischen Traktaten in 40 Jahren mehr als 250 Schriften zu anthropologischen, paläontologischen und geologischen Themen verfaßt, zum Beispiel über die Geologie Jerseys, Somalias, Äthiopiens und Chinas, über paläo- und eozäne Säugetiere Europas (also solche im Zeitraum nach Aussterben der Dinosaurier vor rund 65 bis vor knapp 40 Millionen Jahren), über tertiäre und quartäre Säuger des Fernen Ostens (von vor 65 Millionen Jahren bis heute), aber auch über die Fossilien früher Vertreter der Gattung Homo aus China und Java, die Australopithecinen Südafrikas (eine Gruppe von Vormenschen, die schon zur Hominiden-Familie gehört) sowie über alt- und jungsteinzeitliche Werkzeuge aus all diesen Gegenden.

Nach dem Referat sprach mich ein mir fremder Zuhörer an. Er gratulierte mir sehr höflich und gestand, daß er diese Seite von Pater Teilhards Werk noch nicht gekannt habe. Nun wollte er einiges über meine eigenen Forschungen zur Evolution des Menschen wissen. Am Ende fragte er sehr direkt, ob es derzeit auf diesem Felde einen besonders wichtigen strittigen Aspekt gebe.

Ich bejahte. Wir hatten nämlich ein Datierungsproblem. Die Molekularbiologen waren von der engen Verwandtschaft bestimmter Zellsubstanzen von Mensch und Schimpanse beeindruckt und legten aufgrund dessen den Anfang der Trennung beider Linien rund drei Millionen Jahre zurück; außerdem plädierten sie für einen ausschließlich afrikanischen Ursprung der Menschheit. Nach Meinung der Paläontologen hingegen hatte die Aufspaltung schon vor 15 Millionen Jahren und zudem der Übergang zur Gattung Homo sowohl in den asiatischen wie in den afrikanischen Tropen stattgefunden (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1991, Seite 112, sowie Juni 1992, Seite 72 und Seite 80).

Einige Monate später erhielt ich eine überraschende Einladung zu einer Konferenz in Rom, die im Mai 1982 stattfinden sollte: Mein Gesprächspartner war Carlos Chagar gewesen, Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Weil er für Veranstaltungen dieser Institution aktuelle, philosophisch bedeutsame Themen suchte, hatte ihn unsere Unterhaltung inspiriert, ein interdisziplinäres Treffen von Paläontologen und Molekularbiologen über die menschliche Evolution auszurichten.


Der römische Kompromiß

Die Veranstaltung war nicht öffentlich, beeinflußte das Verständnis der Menschwerdung aber enorm. Insbesondere wurden zwei neue Befunde vorgetragen, ein paläontologisch-anatomischer und ein biochemischer.

David Pilbeam von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) berichtete, er und seine Mitarbeiter hätten in obermiozänen Schichten des Potwar-Plateaus in Pakistan den ersten Gesichtsschädel eines Ramapitheciden gefunden. (Das Miozän umfaßt die Zeit von vor rund 26 bis vor etwa 6 Millionen Jahren.) Unerwarteterweise ähnelte er dem der in Südostasien heimischen Orang-Utans entschieden mehr als dem der Schimpansen (Bild 3).

Dies war bemerkenswert, denn seit langem hatten einige Paläoanthropologen die Ramapitheciden als erste Hominiden eingestuft. Allerdings beruhte diese Zuordnung auf nur einigen Zähnen und Kieferfragmenten; Fossilien der aufschlußreicheren Augen-, Nasen- und Oberkieferpartien waren damals noch nicht entdeckt.

Als zweite Neuigkeit trug Jerold M. Lowenstein von der Universität von Kalifornien in San Francisco vor, er habe in Zähnen eines Ramapitheciden aktive Proteine nachgewiesen. Als er einen Extrakt aus solcher Zahnsubstanz Kaninchen injizierte, produzierte deren Immunsystem dagegen Antikörper – und die reagierten wiederum deutlich auf Proteine vom Orang-Utan. Offenbar waren in dem Fossilmaterial Proteine oder zumindest Komponenten davon erhalten, die denen von Orang-Utans stark ähneln und damit eine Verwandtschaft der beiden Arten erkennen ließen.

Biomoleküle längst verstorbener Lebewesen zu entschlüsseln ist ein neuerer Zweig der Paläontologie (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 54). Dies ist allerdings nur in seltensten Fällen möglich, weil brauchbare Proben in der Regel nicht erhalten sind. Aber schon etwas länger behilft man sich, indem man Proteine, bestimmte DNA-Strukturen oder Chromosomenkarten lebender Arten vergleicht. So hat man anhand wichtiger Stoffwechselenzyme Stammbäume praktisch über das gesamte Organismenreich erstellen können. Bei höher organisierten Lebewesen ist nämlich oft im Laufe ihrer Evolution der Komplexitätsgrad mancher Moleküle gewachsen, und aufgrund einiger weniger Mutationen lassen sich auch Verwandtschaftsverhältnisse nahe zusammenstehender Arten bestimmen. Daß selbst so alte Körpersubstanz wie die der Ramapitheciden-Zähne zumindest noch antigen wirksam war, ist besonders glücklichen Umständen zu verdanken und stellte damals einen Rekord dar.

Damit erhielt dieser frühe Primat endlich den ihm zukommenden Platz in der Systematik: als eurasischer Hominoide und Verwandter des Orang-Utans. (In der biologischen Nomenklatur gibt die Endung der Namen Auskunft über die systematische Ebene: Hominiden bezeichnet die Familie, Homininen – wie auch Australopithecinen – die Unterfamilie und Hominoiden die Überfamilie, in die auch die Menschenaffen gehören.) Mit dieser Zuordnung ließ sich das Puzzle der übrigen Primaten-Fossilien in ein recht schlüssiges Bild bringen. Demnach ist tatsächlich Afrika der alleinige Ursprungskontinent des Menschen, wie die Molekularbiologen schon seit längerem vermutet hatten.

Hingegen blieb zunächst immer noch strittig, wann die ersten Hominiden aufgetreten waren. In Rom prallten die extremen Positionen – vor 15 oder vor 3 Millionen Jahren – neuerlich aufeinander. Nach langen Debatten und mit allen Vorbehalten einigte man sich schließlich auf den Zeitpunkt von siebeneinhalb Millionen Jahren – ich nannte dies den "prähistorischen Kompromiß".


Rätselhafte geographische Trennung

Die frühen achtziger Jahre waren auch sonst für unser Verständnis der menschlichen Evolution äußerst aufschlußreich. Intensive Ausgrabungen während der beiden voraufgegangenen Jahrzehnte in Ostafrika hatten ein reiches Fossilmaterial zutage gefördert. Viele der zeitaufwendigen Datierungen und Analysen kamen gerade in dieser Phase zu Ergebnissen, und die Befunde fügten sich gut mit denen von Pilbeam und Lowenstein zusammen.

Bedeutende Relikte waren dort schon früher gefunden worden. Bereits 1935 hatte eine Expedition unter Leitung des kenianischen Paläontologen und Prähistorikers Louis S.B. Leakey (1903 bis 1972) in der Olduvai-Schlucht am Rande der Serengeti-Steppe in Tansania Skelettreste eines mutmaßlichen Homo erectus entdeckt. Ein deutsches Grabungsteam unter Ludwig Kohl-Larsen barg 1939 im tansanischen Gebiet Laetoli, nahe beim Garusi-See in der südlichen Serengeti, Überreste eines Typus, den man zunächst Praeanthropus africanus nannte und später als Australopithecus einordnete; und 1955 stieß eine Expedition Leakeys in Olduvai-Sedimenten auf einen einzelnen Zahn wiederum von einem Australopithecinen.

Doch diese wenigen Funde erregten noch nicht viel Aufmerksamkeit. Dies änderte sich zu Beginn der sechziger Jahre. Leakeys britische Frau und Mitarbeiterin Mary, selbst Archäologin und Anthropologin, hatte 1959 in der Olduvai-Schlucht einen Australopithecinen-Schädel mit vollständiger Oberkieferbezahnung aufgespürt (Bild 4). Da er in vulkanische Tuffe eingebettet war, deren Alter sich ermitteln ließ, konnte man ihn auf etwa 1,75 Millionen Jahre datieren. Er wurde Zinjanthropus getauft (und heißt heute ebenfalls Australopithecus). Diese frühe Hominiden-Art ging bereits aufrecht, hatte aber noch ein recht kleines Gehirn. Sie starb vor einer Million Jahren aus. Der Fund löste ein wahres Exkursionsfieber aus: In den nächsten zwölf Jahren begann in der Region alljährlich ein neues Team mit Ausgrabungen, und jedes kam zu zehn bis zwanzig Kampagnen – so intensiv war die Feldforschung noch nie getrieben worden.

Der Aufwand lohnte. Man fand Hunderttausende von Fossilien, dabei rund 2000 Relikte von Hominiden, deren komplette Bestandsliste erst nach 1980 publiziert werden konnte. Damit ließ sich endlich die Evolution des Menschen differenzierter rekonstruieren.

Dabei zeigte sich recht deutlich, daß im östlichen Afrika während der Zeit der Australopithecinen niemals ein Vertreter der Schimpansengattung Pan gelebt hatte und nicht einmal ein engerer, direkter Vorfahre dieser Menschenaffen. Weil aber feststeht und sich immer mehr erhärtet, daß Menschen und Schimpansen molekularbiologisch extrem nahe verwandt sind, muß ihr letzter gemeinsame Vorfahre vor geologisch nicht sehr langer Zeit existiert haben.

Andererseits reicht die Linie der Hominiden-Familie, wie die neuentdeckten Relikte erwiesen, in Äthiopien, Kenia und Tansania rund sieben oder acht Millionen Jahre zurück. Weshalb gab es in dieser Phase dort nicht das geringste Anzeichen für Paniden oder wenigstens für Vorfahren des Schimpansen oder auch des Gorillas? Zwar darf man eine Hypothese nicht allein auf das Fehlen von Belegen gründen, aber daß unter immerhin nahezu einer viertel Million Wirbeltierfossilien – einschließlich vieler Säuger – ausgerechnet solche dieser Gruppe nicht zu finden waren, spricht doch recht klar gegen das Vorkommen von Menschenaffen überhaupt in der Region.


Die geographische Barriere

Nun liegt das Verbreitungsgebiet von Schimpansen und Gorillas großenteils in den Regenwaldgebieten des tropischen Afrika. Beim großen Ostafrikanischen Grabensystem, das sich vom Roten Meer nach Süden längs durch den Kontinent zieht, hört es ziemlich abrupt auf. Alle mehr als drei Millionen Jahre alten Hominiden hingegen lebten östlich dieser unübersehbaren Geländemarke (Bilder 1 und 2). Es konnte nur eine Erklärung für die Lücke im Fossilbestand geben: Die Verbreitungsgebiete der Hominiden- und der Paniden-Familie hatten sich niemals überschnitten.

Als Erklärung entwickelte ich die Hypothese, daß die tektonische, von Vulkanismus begleitete Störung, die schon in der Kreidezeit eingesetzt hatte, im zentralen Afrika sehr lange keine biogeographische Grenze bildete – bis zu der Zeit, als noch der gemeinsame Vorfahr der künftigen Hominiden und Paniden lebte. Dann, vor etwa acht Millionen Jahren, bewegten sich auch dort in einer tektonischen Krise die Erdkrustenplatten derart auseinander, daß die seitlichen Grabenschultern sich hoben und zur sich vertiefenden zentralen Grabensohle hin Bruchstufen absanken.

Diese Verwerfungen wirkten sich auch auf Luftzirkulation und Klima aus. Westlich des Grabens brachten die vom Atlantik kommenden Wolken weiterhin reichlich Regen; die Region östlich der Wetterscheide wurde jedoch allmählich in die Monsunzone einbezogen, die sich nun – weitgehend bedingt durch die damals emporgedrückte Gebirgskette vor dem Hochland von Tibet – ausbildete und den Wechsel von ausgeprägten Regen- und Trockenmonaten mit sich brachte. So blieb der Westen der vordem in sich gleichartigen Region ein Regenwaldgebiet, während sich im Osten nach und nach eine trockenresistente Savannen-Vegetation durchsetzte (vergleiche die obere Bildleiste).

Es spricht einiges dafür, daß die uns interessierende Primatengruppe durch diese Ereignisse ebenfalls in zwei Populationen geteilt wurde, eine größere westliche und eine kleinere östliche. Für ihre Aufspaltung gäbe es somit eine recht plausible geologisch-geographische Erklärung.

Die weitere Evolution beider Linien war im wesentlichen von ihrem jeweiligen, dem Klima entsprechenden Habitat geprägt: Die Nachfahren der westlichen Population – die Paniden – paßten sich immer besser dem feuchtwarmen Waldmilieu an, während die der östlichen Population ein völlig neues Repertoire von Strategien für das Überleben in zunehmend offenem Land finden und ausbilden mußten; offenbar leitete dieser Umweltdruck die Entwicklung der Hominiden ein.

Dieses im Vergleich zu anderen Modellen einfache Schema könnte vor allem erklären, warum die beiden Primaten-Linien, obwohl geographisch getrennt, einander genetisch so nahe stehen. Man kennt vergleichbare Prozesse von Inselpopulationen: Tektonische Geschehnisse haben ökologische Veränderungen zur Folge, die oftmals mit Evolutionsschüben einhergehen; auch entstehen durch geographische oder klimatische Barrieren teils sehr spezifische Tier- und Pflanzenpopulationen. Es wäre viel komplizierter, die Aufspaltung damit zu erklären, daß die Hominiden – beziehungsweise ihre Vorläufer – vom Regenwald her in die Savanne vordrangen (oder umgekehrt die Paniden aus der Savanne in den Wald), wie andere Forscher es versuchen.

Für die hier vorgestellte These spricht, daß geophysikalischen Untersuchungen zufolge das afrikanische Grabenbruchsystem vor ungefähr acht Millionen Jahren besonders aktiv gewesen ist und damals auch, wie paläoklimatische Studien ergaben, die zunehmende Austrocknung der östlich davon liegenden Gebiete begann. Schließlich meinen Paläontologen, daß die typische ostafrikanische Fauna – der man auch die Australopithecinen zurechnet – vor vielleicht zehn bis acht Millionen Jahren erschien.

Die hier angeführten Aspekte waren in den einzelnen Disziplinen seit langem bekannt, aber nicht in der Weise zusammengetragen und zu einer Synthese gebracht worden, wie es die Ergebnisse der neueren Feldforschung erlauben. Bereits in den sechziger Jahren hatte allerdings der Verhaltensforscher Adriaan Kortlandt von der Universität Amsterdam auf der Grundlage der damals verfügbaren Befunde ein ähnliches Szenario entworfen, das er "Western-Rift-Hypothese" nannte; im Jahre 1972 legte er dann in seinem Buch über die Evolution von Mensch und afrikanischen Menschenaffen ausführlich dar, wie das Grabensystem beide Linien getrennt haben könnte – unter anderem dadurch, daß die in der Störungszone entstandenen Flüsse und Seen eine zusätzliche Barriere bildeten, weil beide Primatengruppen von ihrer Anatomie her schlechte Schwimmer sind. Angesichts der vielen neuen Funde entwarf ich dann in den achtziger Jahren das Modell, für das ich bei einem Aufenthalt in New York in Anlehnung an ein Musical von Leonard Bernstein das Schlagwort "East Side Story" prägte.


Versteppung Ostafrikas

Schwieriger läßt sich derzeit erkennen, wo, wann und warum aus den Hominiden schließlich die Gattung Homo hervorging. Das evolutive Geschehen während der letzten acht Millionen Jahre in dieser Familie erweist sich als besonders komplex.

Zunächst scheint sich eine Unterfamilie, die der Australopithecinen, aufgefächert und ohne sonderlichen Expansionsdrang bis nach Südafrika ausgebreitet zu haben. Vor etwa drei Millionen Jahren erschienen dann die Homininen, neben denen noch etwa zwei Millionen Jahre lang die letzten Australopithecinen lebten. Von dieser neuen Unterfamilie kennen wir einzig die Gattung Homo, die von Ostafrika aus die Welt eroberte und deren allein überlebende Spezies der anatomisch moderne Mensch ist.

Ein sehr ergiebiger Fundort für Belege zur Evolution des Menschen ist das Becken des Flusses Omo im südwestlichen Äthiopien (also an der Ostseite des Grabensystems), der in den kenianischen Rudolf-See fließt. Dort ist gerade der entscheidende Übergang in fossilienträchtigen Sedimenten konserviert, die vor vier bis vor einer Million Jahren abgelagert wurden. Wiederum waren klimatische Einflüsse bedeutsam.

Schon Anfang dieses Jahrhunderts hatte eine französische geographische Expedition das Gebiet durchforscht. Sie wollte eigentlich Afrika vom Roten Meer zum Atlantik durchqueren, mußte aber vorzeitig aufgeben, als der Leiter, der Vicomte du Bourg de Bozas, am Kongo an Malaria starb. Dennoch brachte die Mannschaft eine stattliche Ausbeute an Fossilien mit, darunter auch solche von Wirbeltieren aus dem damaligen Abessinien vom Ostufer des unteren Omo. Der französische Geologe Émile Haug, einer der Bearbeiter, veröffentlichte darüber 1911 eine größere Abhandlung.

Diese Erkenntnisse regten den später als Paläontologe am Nationalmuseum für Naturgeschichte in Paris tätigen Camille Arambourg zu einer weiteren Expedition an. Im Jahre 1932 grub er acht Monate lang am Omo; seine Ausbeute waren vier Tonnen Wirbeltier-Fossilien.

Sehr aufschlußreich war dann eine große internationale Ausgrabung zwischen 1967 und 1977, die im Zuge der ergiebigen Feldarbeiten in Ostafrika im Anschluß an Mary Leakeys Fund von Olduvai zustande kam. Beteiligt waren in den ersten Jahren außer Arambourg, Francis Clark Howell und mir auch Louis Leakey und sein Sohn Richard. Von 1970 an leiteten Howell und ich das Unternehmen allein.

Schon zu Zeiten der ersten Expedition war die Stratigraphie, also die geologische Schichtung des Geländes, deutlich zu erkennen. Aufgeschlossen ist dort eine 1000 Meter hohe Folge von Sedimenten, deren Fossilinhalt beinahe schon auf den ersten Blick die Veränderungen der Lebewesen während der Jahrmillionen der Ablagerung erahnen ließ. Und Datierungen mit der Kalium-Argon- und der Paläomagnetismus-Methode halfen schließlich, den einzelnen Schichten Zeiten zuzuordnen.

Bei Entstehung der ältesten, der Mursi-Formation vor vier Millionen Jahren muß das Klima noch relativ feucht gewesen sein. Mit der Zeit wurde es, wenn auch nicht stetig, merklich trockener. Dies ist durchgängig bis in die oberste, also jüngste, eine Million Jahre alte Shungura-Formation zu verfolgen. Entsprechend veränderte sich die Vegetation von einer noch relativ dicht mit Bäumen bestandenen Dornstrauch- zu einer Grassavanne mit wenig Hölzern, was wiederum schrittweise Wechsel im Tierbestand zur Folge hatte (Bildleiste oben). Die Hominiden mußten sich dem Wandel der Umwelt gleichfalls anpassen: Nach einem verhältnismäßig grazilen Australopithecinen kam ein robusterer Typ, und in den oberen Schichten fanden sich Homo-Fossilien.

Auf diesen Zusammenhang zwischen Klimaveränderung und Evolution der Homininen wies ich 1975 in einem kurzen Fachbeitrag und auf einem Kongreß in London hin, stieß jedoch bei meinen Wissenschaftlerkollegen auf große Skepsis. Nun umfassen allerdings die Omo-Sedimente als einzige die entscheidende Zeitspanne kontinuierlich, sind mithin auch die einzigen, an denen sich solch ein Befund überhaupt erheben läßt. Die Aufschlüsse bei Laetoli in Tansania sowie bei Hadar in Äthiopien bergen zu frühe Schichten, die der Olduvai-Schlucht zu späte, und am Turkana-See in Kenia fehlen Sedimente ausgerechnet aus der Phase, als es auf der gesamten Erde kühler und in Ostafrika deutlich trockener wurde – vor 3,3 bis vor 2,4 Millionen Jahren. Am Omo aber tritt die Klimakrise deutlich zutage.


Indizien bei Fauna und Flora

Umweltbedingte Veränderungen sowohl qualitativer als auch quantitativer Art sind in der Tier- und Pflanzenwelt vielfach zu erkennen. So werden Backenzähne von Pflanzenfressern härter und hochkroniger, wenn sie sich hauptsächlich nicht mehr von Laub ernähren, sondern von schwerer zu zermalmenden Gräsern, welche die Zähne mehr abnutzen. Auf weichem Waldboden läuft es sich am besten, wenn das Körpergewicht möglichst großflächig auf Sohlen oder abgespreizte Zehen verteilt wird, während vor steinhart ausgetrocknetem Grund starke Hufe schützen, wie auch eine Fortbewegung auf den Zehen die rasche Flucht in einem an Verstecken armen Gelände erlaubt. Am Bau der Füße von Nagetieren ist zu erkennen, ob sie in Bäumen klettern oder im Boden graben, also vielleicht teilweise unterirdisch oder in Höhlen lebten, wie dies in Trockensavannen oft geschieht. Mit entsprechender Vorsicht kann man aus der Beziehung zwischen dem Milieu und der Anatomie wie auch dem Verhalten heutiger Tiere auf die Verhältnisse bei früheren Arten schließen; dasselbe gilt für Pflanzen.

Die Fossilfunde von Omo bezeugen nun eine frappierend einheitliche Richtung der Anpassung, eben an zunehmende Trockenheit. In der Fauna entwickelten sich bei etlichen Pflanzenfresser-Gruppen höhere Zähne, so bei damaligen Elephantiden (die dem modernen asiatischen Elefanten nahestehen) und Rhinocerotiden (besonders beim Breitmaulnashorn), in der Gattung Hipparion (Vorfahren des Pferdes), in der Familie Hippopotamiden (Vorläufern des Großflußpferdes) sowie manchen Antilopen, außerdem bei Schweinen, die auch mehr Höcker auf den hinteren Backenzähnen bekamen. Die unteren Schichten enthalten noch viele Skelettreste von Antilopen, die offenbar dichte Buschlandschaften und die Nähe von Wasserstellen bevorzugten – unter anderem von Tragelaphinen (Waldböcken) und Reduncinen (Ried- und Wasserböcken); in den obersten Schichten finden sich hingegen Fossilien von richtigen Pferden (der Gattung Equus) und hochzahnigen Warzenschweinen (Phacochoerus und Stylochoerus). Überdies ist die Entwicklung flinker Antilopen der offenen Steppe (Megalotragus, Beatragus und Parmularius) zu erkennen.

In den älteren Ablagerungen sind kleine Primaten (drei Arten von Halbaffen der Gattung Galago) und Fledermäuse (Eidolon und Taphozous) vertreten, die Wald und Dickicht brauchten. Auch die große Zahl der Mäuseartigen (etwa Mastomys, Vielzitzenmäuse) wie auch der übrigen Nagetiere (Grammomys, Paraxerus, Thryonomys und Golunda) sprechen für eine dichte Vegetation. Die Nager der jungen Schichten – Aethomys, Thallomys, Coleura sowie Gerbillurus (eine Rennmaus), Jaculus (eine Wüstenspringmaus) und Heterocephalus (der unterirdisch hausende Nacktmull) lebten sicherlich in viel trockenerem Klima und offenem Gelände, ebenso wie die darin belegten Fledermäuse und die Hasen (Lepus).

Pflanzenmaterial ist zwar kaum dauerhafter als die Weichteile von Tieren. Aber die Pollenkörner sind außerordentlich widerstandsfähig; und weil sie eine für die jeweilige Gattung oder Art charakteristische Form haben, kann man daran frühere Floren bestimmen und auf das Klima ihrer Zeit rückschließen.

Für die frühe Phase der Omo-Region ergab die Pollenanalyse 24 Baumtaxa, also verschiedene systematische Gruppen, für die späte hingegen nur elf. Anfangs lagerte sich mehr als doppelt soviel Baum- wie Gräserpollen ab, am Ende war das Verhältnis nicht einmal eins zu hundert. Relativ wasserbedürftige Bäume und Sträucher wie Zürgelbäume (Celtis), Wolfsmilchgewächse (Acalypha), Ölbäume (Olea) oder die Gattung Typha, die zunächst vorherrschten, wurden seltener, und viele verschwanden schließlich. Dafür breiteten sich Gagelsträucher (Myrica) aus, die typisch für trockene Fluren sind. Daß der Wald vor vier Millionen Jahren nahe am Omo stand und sich drei Millionen Jahre später weit aus dem Gebiet mit dem nun wasserarmen Fluß zurückgezogen haben muß, ist daran erkennbar, daß Pollen windbestäubter Bäume immer seltener ins Wasser geweht und im Sediment eingeschlossen wurden; ihr Anteil betrug erst 21 und dann nur noch 2 Prozent.


Des zweiten Rätsels Lösung

Auf gleiche Weise scheinen die ökologischen Verhältnisse das zeitliche Verteilungsmuster der Hominiden-Arten beeinflußt zu haben. Der grazile Australopithecus afarensis, der zunächst in dem Gebiet vorkam, dürfte besser an bewaldete Landschaften angepaßt gewesen sein als die späteren robusten Typen Australopithecus aethiopicus und A. boisei und wohl auch der hier gefundene Homo habilis (Bild 5). Unzweifelhaft ist der Mensch das Ergebnis einer evolutiven Anpassung an ein ziemlich trockenes Klima. Deshalb nenne ich die ursächliche geologisch-klimatische Krise das "(H)Omo-Ereignis". Einige Jahre später stellte man für Südafrika den gleichen Ablauf fest.

Somit fing die Geschichte der Hominiden – wie die anderer Wirbeltierfamilien – aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem bestimmten äußeren Ereignis an, das in dem Fall geotektonischer Art war. Die weitere Entwicklung verlief unter dem Druck anderer Veränderungen, hier klimatischer Art. Sie kann ich nur knapp skizzieren.

Der erste Anpassungsschub der frühesten Hominiden ging mit strukturellen Veränderungen des Gehirns einher, ohne daß aber dessen Volumen zunahm; Ralph L. Holloway von der Columbia-Universität in New York hat dies aus Latex-Schädelausgüssen geschlossen (die innere Form der Knochenkapsel entspricht einigermaßen derjenigen der Hirnaußenfläche). Gleichzeitig zwang die offener werdende Savanne diese Hominiden wahrscheinlich dazu, sich aufzurichten und auf verschiedenartigere Kost – jedoch generell auf vegetarischer Basis – einzustellen.

Der zweite Evolutionsschub ging in zwei getrennte Richtungen: Die Australopithecinen wurden groß und kräftig und spezialisierten sich auf bestimmte pflanzliche Nahrung; bei den Menschen aber nahmen Masse und Komplexität des Gehirns zu, und sie wurden Nahrungsopportunisten, die sich Wurzeln, Früchte und Samen, aber auch Aas beschafften und vielleicht auch selbst jagten (Bild 5; siehe auch Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 88).

Viele hunderttausend Jahre später erwies die zweite Entwicklungsrichtung sich als die erfolgreichere, so daß die Hominiden dieser Linie allein übrig blieben. Das größere Gehirn befähigte zu intensiveren geistigen Leistungen und einer bis dahin einzigartigen Neugierde; Geschick und Mobilität ermöglichten das Beschaffen von Fleisch. Der Homo erectus breitete sich dann weit über sein Ursprungsgebiet hinaus aus. Der Homo sapiens schließlich besiedelte sämtliche Kontinente, befährt die Meere, durchfliegt die Luft und hat inzwischen sogar gewagt, sich von der Erde zu entfernen.

Literaturhinweise

- New Perspectives on Ape and Human Evolution. Von Adriaan Kortlandt. Stichting voor Psychobiologie, Amsterdam 1972.

– Evolution des Hominidés et de Leur Environnement au Cours du Pliopléistocène dans la Basse Vallée de L'Omo en Ethiopie. Von Yves Coppens in: Comptes Rendus Hebdomadaires des Séances de l'Académie des Sciences, Band 281, Serie D, Seiten 1693 bis 1696, 3. Dezember 1975.

– Earliest Man and Environments in the Lake Rudolf Basin: Stratigraphy, Paleoecology and Evolution. Herausgegeben von Yves Coppens, F. Clark Howell, Glynn L. Isaac und Richard E.F. Leakey. University of Chicago Press, 1976.

– Recent Advances in the Evolution of Primates. Herausgegeben von Carlos Chagas. Pontificia Academia Scientiarum, 1983.

– L'Environnement des Hominidés au Plio-Pléistocène. Herausgegeben von der Fondation Singer-Polignac. Masson, Paris 1985.

– Spuren der Menschwerdung. Die Evolution des Homo sapiens. Von Roger Lewin. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1992.

– Historische Geologie. Eine Einführung in die Geschichte der Erde und des Lebens. Von Steven M. Stanley. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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