Direkt zum Inhalt

Grönlands eisiges Klima-Archiv

Das mehrere Kilometer dicke Inlandeis der arktischen Insel konserviert Niederschläge aus Zehntausenden von Jahren. Seine Untersuchung bietet Einblicke in das einstige – und Ausblicke auf das künftige – Klima der Erde.

Eine der großen Herausforderungen für die heutigen Naturwissenschaften ist die Vorhersage des irdischen Klimas. Vor allem geht es darum, möglichst frühzeitig kurzfristige gravierende Veränderungen zu erkennen, die in einigen Regionen katastrophale Folgen, in anderen allerdings auch günstige Auswirkungen haben könnten. Stellt sich vielleicht wieder eine Wärmeperiode wie im frühen Hochmittelalter ein, als die Wikinger Grönland besiedelten und die Briten Wein anbauten, während in Kalifornien extreme Dürre herrschte? Die jüngsten Besorgnisse, daß vom Menschen freigesetzte Treibhausgase die Erde deutlich erwärmen, unterstreichen die Notwendigkeit, die grundlegenden Mechanismen von Klima-Änderungen zu verstehen.
Eine reichhaltige Erkenntnisquelle ist dabei der Blick in die Vergangenheit. Bohrungen in die Eisdecken und Gletscher auf Grönland (Bild 1), in der Antarktis und anderenorts, die verschiedene europäische und amerikanische Arbeitsgruppen kürzlich niedergebracht haben, förderten tiefgefrorene Proben von Niederschlag zutage, der vor Zehntausenden von Jahren gefallen ist und Hinweise auf die damaligen Klimaverhältnisse birgt (siehe Kasten auf Seite 54). Die Untersuchung des Eises ergab, daß die längeren Zyklen von Kalt- und Warmzeiten (Glazialen und Interglazialen) mehrfach von plötzlichen Klima-Umschwüngen unterbrochen wurden, wobei sich die Temperatur in den höheren nördlichen und südlichen Breiten für einige hundert bis tausend Jahre um mehrere Celsiusgrade erhöhte oder erniedrigte.
Solche Klimasprünge sind in geschichtlicher Zeit nicht dokumentiert. Was verursachte sie? Traten sie gleichzeitig in der Arktis und der Antarktis auf? Inwieweit waren auch die Tropen betroffen? Antworten auf diese Fragen könnten tiefere Einblicke in die Funktionsweise des irdischen Klimasystems geben, die auch für die Prognose der künftigen Entwicklung hilfreich wären. Obwohl heute der Einfluß menschlicher Aktivitäten im Mittelpunkt der Besorgnis steht, dürften die grundlegenden Prozesse doch ähnlich sein wie bei früheren Klima-Änderungen; und deren Ursache lag buchstäblich in den Sternen – oder genauer in den Planeten.

Astronomische Faktoren

Der serbische Astronom Milutin Milankovi´c (1879 bis 1958) stellte während der zwanziger und dreißiger Jahre die Hypothese auf, daß geringfügige Änderungen in der Erdbahn, die auf den gravitativen Einfluß anderer Planeten zurückgehen, die Verteilung und Intensität der Sonneneinstrahlung auf der Erdoberfläche mit Perioden von Zehn- bis Hunderttausenden von Jahren schwanken ließen und dadurch das Klima entscheidend beeinflußten. Dabei betrachtete er drei Parameter: die Neigung der Erdachse relativ zur Ekliptik (der Ebene der Umlaufbahn um die Sonne), die Präzession der Erde (analog zum Taumeln eines Kreisels) und die Exzentrizität der Erdbahn (ihre Abweichung von der Kreisform); die Veränderung dieser Variablen bewirkt eine rhythmische Schwankung der Sonneneinstrahlung mit Perioden von etwa 40000, 20000 beziehungsweise 100000 Jahren (siehe "Ursachen der Vereisungszyklen" von Wallace S. Broeker und George H. Denton, Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 88).
Milankovi´c stieß mit dieser Theorie, für die es bis zu seinem Tode kaum empirische Belege gab, weitgehend auf Ablehnung. Geologische Befunde dokumentierten zwar das wiederholte Vorrücken und Zurückweichen riesiger Gletscher in Europa und Nordamerika während der letzten Jahrmillion, doch exakte paläoklimatische Daten fehlten. Erst die späte-re Untersuchung von Tiefseesedimenten zeigte, daß die Temperaturschwankungen in den letzten 500000 Jahren tatsächlich die von Milankovi´c postulierte Periodizität aufweisen; dabei ist ein grundlegender Klimazyklus von ungefähr 100000 Jahren (die Spanne von einer Kalt- oder Warmzeit zur nächsten) von kurzfristigeren Variationen von etwa 20000 und 40000 Jahren Dauer überlagert.
In dem Bemühen, die Klimageschichte immer genauer zu ergründen, haben sich viele Wissenschaftler neuerdings einem Archiv zugewandt, das noch reichhaltiger und detaillierter ist als der Boden der Tiefsee: den mächtigen Gletschern, die Grönland, die Antarktis und einige Hochgebirge bedecken. Der dort alljährlich gefallene Schnee ist unter dem Gewicht der nachfolgenden Niederschläge komprimiert und schließlich in Eis verwandelt worden, das eine Fülle von Informationen über die einstigen Klimabedingungen bewahrt hat (siehe Kasten auf Seite 51). An günstigen Stellen konnten bis zu drei Kilometer tiefe Bohrungen niedergebracht und Eiskerne (Bild 3) gewonnen werden, die Zeugnis von den Temperaturverhältnissen vor mehr als 100000 Jahren geben (siehe "Das Eis der Antarktis" von Uwe Radok, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1985, Seite 84).

Die Altersbestimmung

Damit sich die Messungen an Eiskernen in einen chronologischen Rahmen einordnen lassen, muß man das Alter der Proben genau bestimmen können. Glücklicherweise ist dies nicht allzu schwierig. In Gebieten wie Mittelgrönland, wo es häufig schneit, bildet das Eis Jahreslagen ähnlich den Baumringen. Sie rühren daher, daß aus Sommerschnee größere Eiskristalle entstehen als aus Winterschnee.
Oft sind die Lagen mit bloßem Auge erkennbar und lassen sich einfach abzählen. Sie können aber auch anhand ihres Säuregehalts identifiziert werden, der aus bislang ungeklärten Gründen im sommerlichen Schnee normalerweise etwas höher liegt als im winterlichen. Außerdem steigt die Konzentration an Staubteilchen gewöhnlich im Frühling und im Herbst an, weil dann heftigere Winde wehen; dies läßt sich durch Laserstreuung feststellen.
Anhand dieser und anderer Merkmale erarbeitete einer von uns (Alley) zusammen mit seinen Kollegen vom amerikanischen Eisbohrprojekt in Grönland eine Zeitreihe, die mit bekannten Daten anderer Herkunft gut übereinstimmt. So fand unser Team, das Paul A. Mayewski von der Universität von New-Hampshire in Durham leitete, in bestimmten Eislagen Ascheteilchen, die sich anhand einer genauen Analyse ihrer Zusammensetzung historisch dokumentierten Vulkanausbrüchen zuordnen ließen.
Solche Vergleiche bestätigen, daß an den Bohrkernen die Jahreslagen aus den letzten Jahrhunderten äußerst präzise abgezählt werden können. Für das gesamte Holozän (die Wärmeperiode der letzten 11500 Jahre) liegt die Fehlergrenze immerhin noch unter einem Prozent. Eine derart hohe Genauigkeit wird beim Eis der vorangegangenen Glazialperiode zwar nicht mehr erreicht, das Abzählverfahren scheint aber zumindest für die letzten 50000 Jahre noch ebenso präzise Werte zu ergeben wie andere Datierungsmethoden.
Ab einem Alter von 100000 Jahren sind die Jahreslagen nicht mehr eindeutig erkennbar, und ihre Abfolge scheint gestört zu sein. Der Grund ist, daß das an der Oberfläche feste Gletschereis unter dem gewaltigen Druck in der Tiefe zu kriechen beginnt. Wie ein Kuhfladen unter dem Fußtritt eines unachtsamen Spaziergängers fließt es unter der Auflast immer neuer Schneemassen nach außen. Dadurch verbreitern und verdünnen sich die untersten Jahreslagen oder verschwinden teils völlig. Zudem können sie sich verformen und regelrecht in Falten legen, während der Gletscher über den unebenen Felsgrund schürft.
Unterhalb einer bestimmten Tiefe ist das Abzählen der Jahreslagen deshalb nicht mehr möglich. Beispielsweise stellte die amerikanische Arbeitsgruppe an grönländischen Eiskernen fest, daß die an der Oberfläche ebenen, horizontal verlaufenden Schichten mit zunehmender Tiefe erst leichte Beulen und dann Z-förmige Falten aufwiesen; in mehr als 110000 Jahre altem Eis waren sie schließlich insgesamt um bis zu 20 Grad geneigt. In Kernen, die europäische Wissenschaftler in der Nähe erbohrten, zeigte das älteste Eis ein ähnlich komplexes, aber anderes Verformungsmuster.
Diese relativ neuen Erkenntnisse klärten einen zunächst rätselhaften Befund. Erste Untersuchungen an Eiskernen, von denen man annahm, sie stammten aus dem Eem – der vorletzten Warmzeit, die vor etwa 120000 Jahren endete – hatten Anzeichen für eine Serie bedeutender Klimasprünge ergeben (Spektrum der Wissenschaft, November 1993, Seite 16). Dies war ebenso überraschend wie beunruhigend – hatte man doch bis dahin sowohl die heutige als auch die vorherige Warmzeit als klimatisch stabil und frei von plötzlichen starken Temperaturschwankungen angesehen. Hinzu kam, daß beide Bohrungen für die letzten 110000 Jahre fast identische Ergebnisse lieferten, während die Daten für die Zeit davor unvereinbar miteinander waren.
Sorgfältige Untersuchungen zur Klärung dieser Diskrepanzen erwiesen dann, daß die Jahreslagen schon in größerem Abstand vom Felsgrund als zuvor vermutet ihre regelmäßige Anordnung verloren haben. Allmählich lernt man, diese Effekte zu verstehen, und nutzt Computersimulationen sowie andere Hilfsmethoden, um sie besser erkennen und beurteilen zu können.
Inzwischen hat ein dänisches Team mit internationaler Beteiligung etwa 340 Kilometer nordwestlich der beiden vorherigen Standorte eine weitere Bohrung auf Grönland begonnen, um verläßliche Daten über das Eem zu erhalten. Da an dieser Stelle generell etwas weniger Schnee zu fallen scheint, sollte das über 110000 Jahre alte Eis in geringerer Tiefe und mithin weiter oberhalb des Felsgrundes liegen. Deshalb hofft man, daß die entsprechenden Jahreslagen noch nicht gravierend gestört sind.

Spurensuche

Wie lassen sich aus dem Eis die Temperaturverhältnisse zum Zeitpunkt seiner Bildung ablesen? Die wichtigste Methode macht sich zunutze, daß es von den Atomen, die das Wassermolekül aufbauen, Varianten mit unterschiedlicher Masse – sogenannte Isotope – gibt. Gewöhnliches Wasser enthält deshalb leichtere und schwerere Moleküle: Erstere machen den Hauptteil aus und bestehen aus den normalen Isotopen von Wasserstoff und Sauerstoff, deren Massezahlen 1 beziehungsweise 16 betragen; die schwereren Moleküle enthalten dagegen Deuterium (Wasserstoff mit einem zusätzlichen Neutron) oder ein Sauerstoff-Isotop mit der Massezahl 17 oder 18.
Wenn ein Luftpaket abkühlt, kondensiert die enthaltene Feuchtigkeit, und es regnet oder schneit. Da schweres Wasser etwas weniger flüchtig ist als leichtes, reichert es sich im Niederschlag geringfügig an. Bewegen sich nun während kalter Perioden Luftmassen vom Meer über den Rand einer vereisten Landfläche bis in deren Zentrum, enthält der dort fallende Schnee relativ viel leichtes Wasser, weil das schwere großenteils bereits unterwegs auskondensiert ist.
Die zweite Methode, Informationen über das einstige Klima zu gewinnen, besteht einfach darin, das Temperaturprofil der Eisdecke zu messen. Das Prinzip läßt sich an einem Alltagsbeispiel verdeutlichen: Wenn man etwa ein tiefgefrorenes Hähnchen in den Backofen legt, bewahrt es innen noch einige Zeit die Temperatur der Kühltruhe, während es sich außen bereits erwärmt. Analog ist das Gletschereis in ein bis zwei Kilometern Tiefe auch heute noch kälter als das an der Oberfläche, weil es einst bei wesentlich niedrigeren Temperaturen entstanden ist.
Beide Meßmethoden liefern übereinstimmende Ergebnisse. Danach war es auf dem Höhepunkt des letzten Glazials wahrhaft eisig: Die Durchschnittstemperaturen in Grönland lagen um gut 20 Grad niedriger als heute.
Außerdem lassen sich anhand der Dicke der Jahreslagen (nach Korrektur der Verformungen durch Fließen) die einstigen Niederschlagsmengen abschätzen. Demnach schneite es im inneren Teil Grönlands während der kältesten Perioden vier- bis fünfmal weniger als gegenwärtig.
Eingewehtes Material im Eis liefert weitere Aufschlüsse über das ehemalige Klima. So deuten gröbere Staubteilchen auf höhere Windstärken hin. Sogar einstige atmosphärische Strömungsmuster lassen sich rekonstruieren, indem man anhand der Zusammensetzung der Staubkörner deren Ursprungsort ermittelt – letztlich auf die gleiche Art, wie sich Ascheteilchen bestimmten Vulkanausbrüchen zuordnen lassen.
Andere aufschlußreiche Spurenstoffe im Eis sind von Meeresalgen erzeugte gasförmige Substanzen, die Hinweise auf die wechselnden Lebensbedingungen dieser wichtigen Organismen an der Basis der marinen Nahrungskette geben, und radioaktive Isotope, die in der Luft durch kosmische Strahlung erzeugt wurden. Ein geringerer Gehalt an derartigen Substanzen bedeutet aber nicht unbedingt einen verminderten Eintrag; er kann auch auf verstärktem Schneefall beruhen, durch den der Spurenstoff verdünnt wurde. Doch lassen sich die beiden Effekte auseinanderhalten, weil aus der Dicke der Jahreslagen die Niederschlagsraten zu entnehmen sind. Solche Analysen ergaben, daß der Eintrag mancher vom Wind transportierter Stoffe wie etwa Calcium während der Kaltzeiten bis zu hundertfach angestiegen ist; damals dürfte es auf der Erde also sehr viel stürmischer gewesen sein als heute, und es gab wohl auch mehr Wüstenflächen.
Das polare Eis enthält sogar Proben der ehemaligen Atmosphäre. Im frisch gefallenen Schnee konnten sich Luftmoleküle zwischen den Flocken noch frei bewegen. Doch das ansteigende Gewicht der wachsenden Schneedecke preßte die unteren Lagen immer weiter zusammen; die Hohlräume zwischen den Eiskristallen verengten sich, bis bei einer Tiefe von 40 bis 100 Metern der Druck so stark wurde, daß sich die Verbindungen zwischen den Poren schlossen und die Luft in isolierten winzigen Bläschen im Eis eingefangen war.
Deren Analyse durch einen von uns (Bender) und seine Kollegen ergab beträchtliche Schwankungen in den Konzentrationen einzelner Bestandteile. Das gilt insbesondere für die natürlichen Treibhausgase, welche die Temperaturen an der Erdoberfläche wesentlich mitbestimmen. Zum Beispiel schnellten der Kohlendioxid- und der Methangehalt der Luft beim Übergang von einer Kalt- zu einer Warmzeit um rund 50 beziehungsweise 75 Prozent in die Höhe – eine aufregende Erkenntnis, wenn man bedenkt, daß die Konzentrationen dieser Gase in der Atmosphäre durch menschliche Aktivitäten in der jüngsten Vergangenheit um 30 beziehungsweise 160 Prozent gestiegen sind.
Die Analysen von Gaseinschlüssen lassen sich auch dazu benutzen, Eisbohrkerne von beiden Polarregionen der Erde zeitlich genauer zu korrelieren, als dies bisher möglich war. Da die Erdatmosphäre durch Wettervorgänge gut durchmischt wird, ist ihre Zusammensetzung zu jedem Zeitpunkt praktisch überall dieselbe; deshalb müssen Veränderungen im Gasgehalt der Luft über Grönland und der Antarktis gleichzeitig aufgetreten sein. Eisproben von den beiden Landmassen, deren Gaseinschlüsse identische Trends zeigen, sollten deshalb gleich alt sein.

Plötzliche Temperatursprünge

Die Untersuchungen der grönländischen Eisbohrkerne bestätigen zum einen, was analoge Analysen in der Antarktis und die Forschungen an Tiefseesedimenten früher schon ergeben hatten: daß die astronomisch begründete Deutung der Klimaschwankungen von Mi-lankovi´c im wesentlichen zutrifft. Beispielsweise fanden sich übereinstimmend Hinweise auf wärmere Temperaturen vor 103000, 82000, 60000, 35000 und 10000 Jahren, was ungefähr dem etwa 20000 Jahre langen Präzessionszyklus entspricht (Bild 2).
Doch das Grönlandeis barg auch eine handfeste Überraschung: Wie an den Bohrkernen klar zu erkennen ist, traten vor 100000 und 20000 Jahren etwa zwei Dutzend sogenannter Interstadiale auf. Das sind kurze Perioden von nur einigen hundert bis wenigen tausend Jahren, in denen die Insel sich rasch erwärmte und dann zunächst langsam und schließlich rapide wieder abkühlte. Die Milankovi´c- Theorie liefert dafür keinerlei Erklärung.
Interessanterweise stieg in jedem Interstadial der Methangehalt der Atmosphäre vorübergehend an. Da das Faulgas durch bakteriellen Stoffwechsel in sauerstoffarmen Milieus wie tropischen Sümpfen oder Mooren entsteht, müssen sich damals die Feuchtgebiete ausgedehnt haben – offenbar durch zunehmende Niederschläge.
Das Verblüffendste an den Interstadialen ist ihr abruptes Auftreten. Innerhalb weniger Dekaden oder manchmal sogar nur einiger Jahre änderten sich die Durchschnittstemperatur um fünf bis teils mehr als zehn Grad, die pro Jahr fallende Schneemenge um 100 Prozent und die Staubfracht der Luft um bis zu einen Faktor von zehn. Am ausgeprägtesten waren die plötzlichen Umschwünge in mäßig kalten Perioden während der letzten 100000 Jahre. Die kältesten Phasen des Vereisungszyklus und die derzeitige Warmzeit wirken dagegen relativ stabil. Unmittelbar vor und nach den großen Temperatursprüngen der Interstadiale gab es manchmal schwächere Oszillationen zwischen warm und kalt, die Klimatologen anschaulich als Flackern bezeichnet haben.
Dieses sprunghafte Verhalten ist ei-ne Herausforderung an die Milankovi´c-Theorie, derzufolge nur allmähliche Klima-Änderungen auftreten sollten. Um es zu erklären, sind Klimatologen dabei, mögliche zusätzliche Einflüsse zu prüfen. Unter anderem haben sie mit ausgefeilten Computermodellen Fernwirkungen untersucht, die das Klima in einer geographischen Region mit dem in einer anderen koppeln. Tatsächlich könnten, wie jüngste Simulationen ergaben, ansteigende Temperaturen in hohen Breiten die Wasserzirkulation in den Meeren und die Strömungsmuster in der Atmosphäre derart ändern, daß es auch in den Tropen wärmer würde. Die Folge wäre, daß dort mehr Wasser verdunstete und der Gehalt der Atmosphäre an Wasserdampf zunähme. Da dieser auch ein Treibhausgas ist, würde dadurch wiederum mehr Sonnenwärme an der Erdoberfläche zurückgehalten.
Andererseits werfen während der Kaltzeiten die riesigen kontinentalen Eisschilde und das ausgedehnte Meereis einen großen Teil des Sonnenlichts zurück in den Weltraum. Eine Erwärmung ließe sie abschmelzen, so daß die Erde wieder mehr Strahlung absorbieren und die daraus entstehende Wärme zudem besser in der unteren Atmosphäre zurückhalten könnte, weil zugleich die Konzentrationen der Treibhausgase Wasserdampf, Kohlendioxid und Methan zunähmen.

Eine Klimaschaukel?

Aufgrund derartiger Wechselwirkungen vermutete man, daß Temperaturänderungen weltweit praktisch synchron stattfänden. Um so größer war das Erstaunen, als Thomas F. Stocker von der Universität Bern – damals am Lamont-Doherty-Erdobservatorium der Columbia-Universität in Palisades (New York) – und Thomas J. Crowley von der Texas A&M University in College Station 1992 unabhängig voneinander postulierten, daß plötzliche Klima-Änderungen auf Grönland und in der Antarktis entgegengesetzt verlaufen sollten.
Zu diesem Schluß kamen die beiden Wissenschaftler, als sie sich näher mit den Auswirkungen der großen Meeresströmungen auf die globale Temperaturverteilung befaßten. Mit dem Golfstrom gelangen im Atlantik laue, salzreiche Wassermassen vom Äquator zur Arktis und verschaffen Nordeuropa ein gemäßigtes Klima. Beim Abkühlen in der Polarregion werden sie dichter, sinken ab und fließen am Meeresgrund in einer förderbandartigen Bewegung nach Süden zurück. Diese Zirkulation erlahmte während der grimmigsten Abschnitte der Kaltzeiten oder stockte völlig. Dadurch kühlten Nordeuropa und Grönland besonders stark ab. Während der Interstadiale sprang die ozeanische Wärmepumpe dagegen wieder an.
Stocker und Crowley fragten sich, ob und wie diese Zirkulation vielleicht auch das Klima auf der Südhalbkugel beeinflussen könnte. Tatsächlich ergaben ihre Untersuchungen, daß ein ozeanisches Konvektionsmuster, das den Norden erwärmt, zugleich den Süden abkühlt und umgekehrt. Der kalte Tiefenstrom im Nordatlantik bewegt sich nämlich über den Äquator hinaus und erzeugt auf der Südhalbkugel an der Oberfläche einen Rückfluß wärmeren Wassers in Richtung Norden. Erlahmt oder stoppt die Zirkulation, ist dieser Energieverlust geringer: Die Meeresoberfläche um die Antarktis bleibt wärmer – und damit auch die Luft.
Waren dies zunächst nur begründete Vermutungen, so wurden sie durch Untersuchungen an fossilen Foraminiferen (planktonischen Mikroorganismen mit Kalkgehäuse) Mitte der neunziger Jahre untermauert. Danach war das Südpolarmeer wärmer, wenn das ozeanische Förderband anhielt. Um die Aussagen von Stocker und Crowley zu überprüfen, sah sich Wallace S. Broeker von der Columbia-Universität in New York die Klimadaten für den Übergang von der letzten Kalt- zur heutigen Warmzeit vor 20000 bis 10000 Jahren noch einmal genauer an. Dabei fand er bestätigt, daß der Temperaturanstieg in der Antarktis sich immer dann verlangsamte, wenn Grönland sich rasch erwärmte, und umgekehrt.
Einer von uns (Bender) und verschiedene andere Wissenschaftler konnten zudem zeigen, daß alle größeren Kälte- und Wärmeeinbrüche, die ihre Spuren im grönländischen Eis hinterlassen haben, auch in der Antarktis auftraten – dort allerdings weniger ausgeprägt und abrupt. Wegen der Ungenauigkeiten in der Datierung der Eisbohrkerne läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, ob dabei in jedem Falle eine Abkühlung in der einen Polarregion mit einer Erwärmung in der anderen einherging. An verschiedenen Laboratorien in Grenoble, Bern und anderenorts ist man derzeit aber dabei, ei-ne exakte Korrelation der Eiskerne von Grönland und der Antarktis bis zur Mitte der letzten Kaltzeit aufzustellen.
Der Wunsch, die klimatischen Entwicklungen in beiden Polarregionen besser vergleichen zu können, steht auch hinter neuen Tiefbohrungen in die Eisdecke der Antarktis, die Arbeitsgruppen aus den USA, Japan, Europa und Australien vorbereiten. Sie sollen ein so detailliertes Bild des dortigen Klimageschehens während der letzten 110000 Jahre liefern, daß eine exakte Zuordnung zu den Vorgängen auf Grönland möglich ist. Außerdem hofft man, da das antarktische Klima-Archiv wesentlich weiter zurückreicht als das grönländische, auch verläßliche Aufschlüsse über das Eem und noch frühere Kalt- und Warmzeiten zu gewinnen.
Diese neuen Projekte werden in Verbindung mit den dänischen Untersuchungen auf Grönland die noch offenen Fragen zum Mechanismus des Übergangs zwischen Kalt- und Warmzeiten beantworten helfen. Damit dürften sie zugleich die Grundlage für verläßlichere Prognosen bilden – sowohl über das Ausmaß einer kurzfristigen Treibhauserwärmung als auch über einen eventuellen längerfristigen Trend zu einer neuerlichen Vereisung.

Literaturhinweise

– Abrupt Increase in Greenland Snow Accumulation at the End of the Younger Dryas Event. Von R. B. Alley et al. in: Nature, Band 362, Seiten 527 bis 529, 8. April 1993.
– Evidence for General Instability of Past Climate from a 250-kyr Ice-Core Record. Von W. Dansgaard et al. in: Nature, Band 364, Seiten 218 bis 220, 15. Juli 1993.
– Climate Correlations between Greenland and Antarctica during the Past 100000 Years. Von M. Bender et al. in: Nature, Band 372, Seiten 663 bis 666, 15. Dezember 1994.
– 250000 Jahre Klimageschichte aus dem ewigen Eis. Von T. Stocker, T. Blu-nier und B. Stauffer in: info2, Bulletin der Abteilung II des Schweizer Nationalfonds, Heft 1, 1995, Seiten 5 bis 10.
– Effekte ozeanischer Wärmepumpen. Von T. Stocker in: Schweizerische Technische Zeitschrift, Heft 10, 1995, Seiten 50 bis 53.
– Large Arctic Temperature Change at the Wisconsin-Holocene Glacial Transition. Von K. M. Cuffey et al. in: Science, Band 270, Seiten 455 bis 458, 20. Oktober 1995


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.