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Geschichte: In den Wirren des Bauernkriegs

Jerg Ratgeb und der Herrenberger Altar
2 CD-Roms für Windows mit Begleitheft. Konrad Theiss, Stuttgart 2001. DM 69,-


Der Künstler Jerg Ratgeb hat ein bewegtes Leben geführt. Um 1495 in Schwäbisch Gmünd geboren, malte er 1518/1519 für die Stiftskirche in Herrenberg sechs Tafelbilder, die zu einem Wandelaltar mit drei Schauseiten zusammengesetzt wurden. Sie hängen heute in der Stuttgarter Staatsgalerie und gelten als Ratgebs Hauptwerk.

Nur wenige Jahre später, 1524, brachen im ganzen Reich – ausgelöst durch die wegen der Leibeigenschaft und hoher Steuerlasten bedrückenden Lebensverhältnisse – die Bauernaufstände aus. In Württemberg formulierten die Aufständischen "12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben", eine frühe Version der heute allgemein anerkannten Grundrechte. In der Schlacht bei Böblingen am 12. Mai 1525 fügten sechstausend Landsknechte des Schwäbischen Bundes den fünfzehn- bis zwanzigtausend Bauern eine schwere Niederlage zu, der sich ein blutiges Strafgericht anschloss. Jerg Ratgeb, der zu den Anführern der Aufstände zählte, wurde 1526 in Pforzheim gevierteilt.

Das vorliegende Werk ist den Themen entsprechend zweigeteilt: Die erste CD-Rom widmet sich dem Altar und seinem Umraum, dem Chor(gestühl), die zweite den Bauernkriegen in Württemberg.

Der Herrenberger Altar war in der künstlerischen (und politischen) Umbruchphase zwischen Spätgotik und Renaissance entstanden und erfuhr, wie der Künstler selbst, erst in der Moderne die ihm gebührende Würdigung. Die Altartafeln, die Szenen aus der Jugend und Passion Christi zeigen, bildeten den Mittelpunkt des Chors der Stiftskirche zu Herrenberg. Diesen hatte 1517 Meister Heinrich Schickhardt im Auftrag der "Brüder vom gemeinsamen Leben" – einer Reformgemeinschaft nach dem Vorbild der apostolischen Urgemeinde – geschaffen. Chorgestühl und Hochaltar standen in engem theologischem Sinnzusammenhang.

Diesen Zusammenhang stellt – zumindest virtuell – die erste CD-Rom erstmalig wieder her; denn das Chorgestühl, das üppig mit Schnitzwerk geschmückt war und die Idee der "vita communis" der Brüderschaft verkörperte, war während des Bildersturms 1537/38 ausgelagert und nach der Reformation ohne Berücksichtigung der ursprünglichen Konzeption und ohne Bilder wieder aufgebaut worden. Die CD vermittelt eine gute Vorstellung vom einstmaligen Aussehen des Chors einerseits und den Wechselwirkungen zwischen Raum, Chorgestühl und Altar andererseits. Vorausgeschickt wird außerdem ein Kapitel zur Baugeschichte der Stiftskirche, zu der es kaum schriftliche Überlieferung gibt.

Innerhalb des Themas "Altar" findet sich, neben den üblichen Daten, Beschreibungen, Deutungen sowie der Einordnung des Kunstwerks nach verschiedenen Kriterien ("Um-Bild-Raum"), unter dem Schlagwort "Bildbetrachtung" die Möglichkeit, bei großer Auflösung exakte Detailstudien der einzelnen Altartafeln zu betreiben – wesentlich genauer, als es vor Ort möglich wäre. Auch "Bildanalyse" anzuklicken lohnt, denn hier kann man unter den Aspekten Licht, Proportionen, Raum und Dynamik die Szenen komplett neu in Augenschein nehmen. Die wenig bekannte Reformgemeinschaft der "Brüder vom gemeinsamen Leben", ihre Geschichte, ihr Selbstverständnis und ihre Lehren, werden mit Hilfe kurzer Hörstücke und interaktiver Sequenzen vorgestellt; auch die kirchliche Situation im Württemberg des 16. Jahrhunderts wird angesprochen.

Nach der Lektüre des Begleitheftchens ist man etwas eingeschüchtert. In recht hochgestochener Sprache werden dort das Projekt selbst, sein Anspruch, seine Mittel und Ziele vorgestellt. Aber der Anspruch wird eingelöst: Die "Rekonstruktion komplexer Raumstrukturen durch Kombination verschiedenster Medien" ist gut gelungen. Mit einer Mischung aus Zeichnung, Karte, Bild, Text, Ton, Video und Animation wird eine Fülle von Material informativ und abwechslungsreich dem Benutzer zur Auswahl dargeboten. Quellentexte, teils schriftlich, teils akustisch, teils bildlich, geben den nötigen historischen Background.

Wer sich nur mit den Bauernkriegen beschäftigen möchte, kann sich intensiver und schneller, wenn auch trockener und weniger amüsant, aus Geschichtsbüchern informieren. Die Rekonstruktion des "Gesamtkunstwerks Chorraum" dagegen war das interdisziplinäre Forschungsprojekt der Universität Stuttgart, aus dem diese CDs hervorgegangen sind. Dessen Ergebnisse wird man so konzentriert und wohl aufbereitet nirgendwo anders vorfinden. Die im Text gegebenen Informationen, Quellen- und Literatur-Übersicht sind auf dem neuesten Forschungsstand. Zudem macht das Surfen durch die CDs Spaß, für Übersichtlichkeit ist gesorgt, lediglich manche Überbegriffe – wie "Gedankenraum" oder "Um-Bild-Raum" – sind nicht auf den ersten Blick verständlich.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2001, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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