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Interaktion von Sonde und Probe

Ein im Grunde einfaches mechanisches System, bestehend aus einer Tastspitze und einem schwingenden Federbalken, ermöglicht tiefe Einblicke in den Aufbau der Materie.


Auf die Faustsche Frage, was denn die Welt im Innersten zusammenhält, mag es viele philosophische Antworten geben, doch auch eine ganz pragmatische: Fein ausbalancierte elektrostatische und elektrodynamische Kräfte bewirken, daß sich Atome zu Molekülen und Moleküle zu großen Aggregaten zusammenfinden, daß biologische Strukturen wie Zellen und Organe oder synthetische Produkte wie Klebstoffe und Silicium-Chips entstehen. Um diese Prozesse und ihre Ergebnisse zu verstehen, bedarf es deshalb der Detailkenntnis intermolekularer bis hin zu interatomarer Wechselwirkungen. Daher benötigen Wissenschaftler Mikroskopiertechniken, die es ermöglichen, die an Oberflächen wirkenden Kräfte mit hoher räumlicher Auflösung quantitativ zu messen, die Nanowelt somit gewissermaßen tastend zu erkunden.

Die Entwicklung des Rastertunnelmikroskops 1981 durch Gerd Binnig und Heinrich Rohrer am IBM-Forschungslabor Zürich in Rüschlikon (Schweiz) wies den Weg. Mit einer feinen Sonde tastet dieses Gerät eine elektrisch leitende Oberfläche ab. Je nach Abstand schwankt die Wahrscheinlichkeit für Elektronen, die Distanz zu überbrücken, und ein entsprechend starker Tunnelstrom tritt auf. Dessen Messung ermöglicht, auf den Abstand und damit auf die atomar aufgelöste Verteilung der elektronischen Struktur der Oberfläche zu schließen.

Binnig und seinem Mitarbeiter Christoph Gerber gelang es 1986 gemeinsam mit Calvin F. Quate von der Universität Stanford (Kalifornien), das Prinzip auch auf elektrisch nicht leitende Oberflächen zu übertragen (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1989, S. 62). Das Rasterkraftmikroskop mißt mit einfachen mechanischen Mitteln Kräfte zwischen Atomen und erreicht so eine atomar aufgelöste Abbildung von Oberflächen, ohne auf den Tunneleffekt angewiesen zu sein. Wie ein Tunnelmikroskop ist auch dieses System weitgehend unabhängig von den jeweiligen Umgebungsbedingungen, das heißt Messungen bei variabler Temperatur, im Vakuum, in Luft oder in Flüssigkeit sind möglich, eine wichtige Voraussetzung für die praktische Anwendung.

Schon nach zehn Jahren hatte sich die Methode weltweit in vielen Bereichen der Qualitätskontrolle, in der industriellen Forschung und Entwicklung und in der Grundlagenforschung durchgesetzt. Insbesondere die quantitative dreidimensionale Abbildung von Oberflächenstrukturen auf der Mikro- und Nanometerskala war mit herkömmlichen konventionellen Licht- und Rasterelektronenmikroskopen zuvor kaum möglich.

Der permanente Kontakt von Sonde und Oberfläche kann aber sehr empfindliche Strukturen wie etwa Polymerfilme oder Zellmembranen verändern bis zerstören, wenn die Sonde den nächsten Rasterpunkt anfährt. Um diese Gefahr zu verringern, läßt man die Tastspitze des sogenannten dynamischen Rasterkraftmikroskops über der Probe schwingen, so daß beide nur noch kurz und periodisch miteinander wechselwirken, zum Teil sogar ohne mechanische Berührung (siehe Kasten Seite 98). Auf diese Weise gelang es bereits, einzelne Atome und Moleküle abzubilden.

Bei diesem Verfahren werden dazu die Änderungen der Resonanzeigenschaften eines harmonischen Oszillators erfaßt, auf den anziehende oder abstoßende Kräfte einwirken. Bei Kenntnis der mechanischen Eigenschaften des freien Schwingers und durch Kombination von theoretischen Modellen und experimentellen Ergebnissen läßt sich deshalb auf die gesuchten Charakteristika einer Probe zurückschließen. Das sind nicht allein Angaben zur Topographie der Oberfläche, sondern auch darüber hinausgehende Informationen wie lokale mechanische Kennwerte, chemische, elektrische oder magnetische Eigenschaften.

Allerdings erfordern die so gewonnenen Meßdaten meist eine aufwendigere Interpretation als die der statischen Kraftmikroskopie, denn oft beeinflussen verschiedene und im Detail noch nicht vollständig verstandene Kräfte gleichzeitig das dynamische Verhalten des oszillierenden Systems. Die Analyse ist zwar schwierig, aber sehr vielversprechend. Denn die Möglichkeit, nichtlineare, abstandsabhängige Kräfte zwischen Sonde und Probenoberfläche quasi berührungsfrei zu messen, eröffnet interessante Perspektiven. Kennt man nämlich die Werte der jeweiligen Wechselwirkungsparameter, lassen sich im Prinzip die lokale Verteilung der Atome und ihre chemischen Bindungen untereinander berechnen. Dazu müssen aber die Struktur der Meßspitze und ihre eigene chemische Zusammensetzung genau bekannt sein.

Bei der theoretischen Behandlung von klassischen mechanischen Systemen, zu denen im Prinzip auch das Rasterkraftmikroskop gehört, bieten sich zwei Wege an. Naheliegend ist es, die auftretenden Kräfte durch analytische oder numerische Lösung der Newtonschen Bewegungsgleichungen zu untersuchen. Vor kurzem gelang es uns aber auch zu zeigen, daß die Betrachtung der Energiebilanz des Oszillators wichtige zusätzliche Informationen liefert: Dem Rasterkraftmikroskop wird von außen Energie zugeführt, der Federbalken verbraucht einen Teil davon für seine Schwingung, der Rest läßt sich den Wechselwirkungen zwischen Sonde und Probe zuschreiben (im Fachjargon der Physik spricht man von Energiedissipation). Dieser Betrag hängt sehr stark von der lokalen Beschaffenheit der Oberfläche ab und wird gemessen, um Proben zu charakterisieren, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen.

Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Eine solche Analyse kann helfen, eine Rezeptur polymerer Mischungen zu entwickeln, die einen gleichzeitig sehr festen und trotzdem elastisch verformbaren Werkstoff ergibt. Oftmals verhalten sich die einzelnen Komponenten nämlich völlig anders als das Gesamtsystem. Entscheidend für dessen makroskopisches Verhalten ist die Verteilung der einzelnen Bestandteile (Phasen) innerhalb des Materials und ihre chemische Verknüpfung. Konventionell werden diese Daten ermittelt, indem man schwermetall-kontrastierte Dünnschnitte des Werkstoffs anfertigt und die Feinstruktur mittels Elektronenmikroskopie sichtbar macht. In vielen Fällen erlaubt das Rasterkraftmikroskop, daß die Messungen direkt auf einem Oberflächenanschnitt der zu untersuchenden Probe durchgeführt werden; mögliche Einflüsse eines Kontrastmittels werden so vermieden.

Eine andere, bisher noch nicht weit verbreitete Methode der dynamischen Kraftmikroskopie nutzt auf elegante Weise Methoden der statistischen Thermodynamik, um von ausgewählten Oberflächenbereichen mechanische Eigenschaften, Kennwerte der Energieübertragung und Kraftfelder nahe der Oberfläche zu messen. Dabei treibt man die Spitze nicht mehr aktiv an, sondern überläßt sie dem thermischen Rauschen, das unter anderem auch die Eigenresonanz des Federbalkens anregt. Dessen Wechselwirkung mit der Oberfläche kann nun auf vielfältige Weise das Rauschspektrum verändern, woraus sich beispielsweise die viskoelastischen Eigenschaften polymerer Systeme bestimmen lassen. Mit dieser Methode gelang uns kürzlich gemeinsam mit unserem russischen Kollegen Illarion A. Dorofeyev vom Institut für Mikrostrukturphysik in Nizhny Novgorod (Rußland) der Nachweis, daß die Brownsche Bewegung einer metallischen Spitze über einer gleichfalls metallenen Probe durch fluktuierende elektromagnetische Felder beeinflußt wird.

Am IBM-Forschungslabor Zürich versuchen Wissenschaftler nun, das Prinzip des Rasterkraftmikroskops sozusagen umzukehren und mit einem solchen System eine Oberfläche gezielt zu modifizieren. Hierzu werden derzeit etwa 1000 Cantilever-Sensoren parallel betrieben, wobei jeder einzeln ansteuerbar und auslesbar ist. Mit diesem "Millipede" genannten Array lassen sich über heizbare Spitzen sowohl einzelne Datenbits in Polymere schreiben als auch aufgrund der mechanischen Wechselwirkung wieder auslesen. Zwar benötigt der einzelne Sensor dafür mehr Zeit als ein herkömmlicher magnetischer Schreib-/Lesekopf, doch weitere Parallelisierung dürfte diesen Nachteil wieder wettmachen.

Mit einer Länge von etwa 100 Mikrometern, einer Breite von circa 20 und einer Dicke von 2 bis 4 Mikrometern bietet sich eine Sonde aber auch als außerordentlich empfindliches Gerät zur Messung von Wärmemengen (Kalorimeter) an. Dazu überzieht man einen Kraftsensor aus Silicium oder Siliciumnitrit mit einer dünnen Metall- oder Polymerschicht. Weil sich diese Werkstoffe beim Erwärmen unterschiedlich ausdehnen, biegt sich der Sensor bei Temperaturänderungen (Bimetall-Effekt). Am IBM Forschungslabor Zürich und an der Universität Basel wurden so im Vakuum Temperaturunterschiede von 10-5 Kelvin und Änderungen der Wärmeenergie von einigen 10-11 Joule gemessen. Zudem reagiert ein derartiges System innerhalb von einigen Mikrosekunden auf lokale Erhitzung, wie unsere Gruppe mit gepulsten Elektronenstrahlen zeigen konnte.

Zu den feinsten Phänomenen, die Physiker heutzutage mit der dynamischen Rasterkraftmikroskopie aufspüren können, gehören der Spin von Elektronen oder von Atomkernen (also gewissermaßen die Rotation um deren eigene Achsen, exakter ausgedrückt: der Eigendrehimpuls). Bewegte elektrische Ladungen gehen mit elektromagnetischen Feldern einher, deshalb erzeugt solch ein Spin auch ein magnetisches Moment. Wird ein äußeres Magnetfeld geeigneter Frequenz eingestrahlt, orientieren sich die Spins jeweils in Feldrichtung (Spinresonanz); das wiederum wirkt auf den Federbalken und regt ihn zum Schwingen an. Aufbauend auf den Arbeiten von Dan Rugar am IBM Forschungslabor Almaden (Kalifornien) gelang es unserer Gruppe, Elektronenspinresonanz in einer Menge von nur sieben Nanogramm (millionstel Gramm) einer spinaktiven Substanz bei Raumtemperatur und normalem Umgebungsdruck mit einem speziell präparierten Kraftsensor nachzuweisen. Um sogar einzelne Kernspins "mechanisch" zu detektieren, benötigt man aber noch empfindlichere Sensoren und bessere Kenntnisse, wie fluktuierende elektromagnetische Felder die Messung im einzelnen beeinflussen.

Den Möglichkeiten zur Kombination der Kraftmikroskopie mit anderen Rastersondenverfahren oder konventionellen Techniken, beispielsweise Lichtmikroskopie und Elektronenoptik, sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Nach wie vor fasziniert die Empfindlichkeit dieser mikro-mechanischen Taster. Sie ähneln den Nadeln von Plattenspielern und vermögen doch selbst intermolekulare und elektronische Effekte zu erfassen, was man intuitiv von einer mechanischen Methode nicht erwarten würde.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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